Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.01.2023, Az. I ZR 111/21

1. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 1055

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Gegenstand

Subsidiarität von Netzsperren bei Urheberrechtsverletzungen


Tenor

Die Anhörungsrüge gegen das Senatsurteil vom 13. Oktober 2022 wird auf Kosten der Klägerinnen zurückgewiesen.

Gründe

1

I. Die Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO ist zulässig, aber nicht begründet. Der [X.] hat den Anspruch der [X.] auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht verletzt. Auch ein Verstoß gegen ihr Recht auf [X.] (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) liegt - unabhängig von der Frage, ob dies mit der Anhörungsrüge geltend gemacht werden kann - nicht vor.

2

1. Ohne Erfolg bringen die [X.] vor, der [X.] habe ihren Vortrag nicht beachtet, nach dem sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] die Vereinbarkeit des in § 7 Abs. 4 TMG enthaltenen [X.] mit Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29/[X.] zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft nicht ergebe und dieses unter die materiellen Anspruchsvoraussetzungen des Sperranspruchs falle, die zur Vermeidung einer Rechtszersplitterung vollharmonisiert seien. Der [X.] habe ein Vorabentscheidungsersuchen abgelehnt, ohne sich mit den Argumenten der [X.] auseinanderzusetzen und auch die von ihnen befürwortete unionsrechtskonforme Auslegung des § 7 Abs. 4 TMG nicht erwogen.

3

a) Der [X.] hat die Ausführungen der [X.] zur Vereinbarkeit des [X.] mit dem Unionsrecht erwogen, ist ihrer Rechtsauffassung jedoch nicht gefolgt. Hieraus folgt keine Verletzung ihres Gehörsrechts (vgl. [X.], Beschluss vom 15. September 2022 - [X.], [X.] 2022, 493 [juris Rn. 13]). Nach Auffassung des [X.]s handelt es sich gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] zweifelsfrei um eine im nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu regelnde Modalität für eine gerichtliche Anordnung (vgl. [X.], Urteil vom 13. Oktober 2022 - [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 29 bis 32] = WRP 2023, 75 - [X.]).

4

Erstmals mit ihrer Anhörungsrüge machen die [X.] zum Gegenstand ihres Vorbringens, dass die von den Mitgliedstaaten aufgestellten Regeln und ihre Anwendung durch die nationalen Gerichte den Zielen der Urheberrechtsrichtlinie entsprechen und die sich aus ihr ergebenden Beschränkungen beachten müssen (vgl. [X.], Urteil vom 24. November 2011 - [X.]/10, Slg. [X.], 12006 = [X.], 265 [juris Rn. 33] - Scarlet Extended; Urteil vom 27. März 2014 - [X.], [X.], 468 [juris Rn. 44] = WRP 2014, 540 - [X.]; Urteil vom 22. Juni 2021 - [X.]/18, C-683/18, [X.], 1054 [juris Rn. 128] = WRP 2021, 1019 - [X.] und [X.]) sowie die tatsächliche Beendigung einer Urheberrechtsverletzung oder eines verwandten Schutzrechts nicht derart verzögert werden darf, dass dem Rechtsinhaber unverhältnismäßige Schäden entstehen (vgl. [X.], [X.], 1054 [juris Rn. 141] - [X.] und [X.]). Der [X.] hat auch diesen Gesichtspunkt bei seiner Entscheidung berücksichtigt (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 41] - [X.]).

5

b) Die von den [X.] befürwortete unionsrechtskonforme Auslegung, nach der keine überhöhten Anforderungen an die Rechtsinhaber gestellt werden dürften und das Merkmal "keine andere Möglichkeit" in § 7 Abs. 4 Satz 1 TMG so zu lesen sei, dass keine konkrete und zumutbare andere Rechtsschutzmöglichkeit bestehe, hat der [X.] vorgenommen. Er hat jedoch festgestellt, dass die [X.] im Streitfall eine konkrete und zumutbare andere Rechtsschutzmöglichkeit nicht ergriffen haben (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 47 bis 56] - [X.]).

6

c) Unabhängig davon, ob mit der Anhörungsrüge auch eine Verletzung des Rechts auf [X.] (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) wegen eines unterbliebenen Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der [X.] gerügt werden kann (offengelassen in [X.], Beschluss vom 19. Januar 2006 - I ZR 151/02, [X.], 346 [juris Rn. 6] = [X.], 467 - [X.]; die unmittelbare Anwendbarkeit des § 321a ZPO verneinend [X.], Urteil vom 4. März 2011 - [X.], NJW 2011, 1516 [juris Rn. 8]; [X.]. ZPO/[X.], 47. Edition [Stand 1. Dezember 2022], § 321a Rn. 21 und 21a), liegt eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Streitfall danach nicht vor.

7

2. Ebenfalls ohne Erfolg rügen die [X.], der [X.] habe, soweit er eine tatsächliche Vermutung zugunsten des [X.] abgelehnt habe, den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt nicht ausgeschöpft.

8

a) [X.] scheidet schon deswegen aus, weil das Vorbringen der [X.], die streitgegenständlichen Internetseiten seien strukturell urheberrechtsverletzend, aus rechtlichen Gründen für die Entscheidung des [X.]s unerheblich gewesen ist. Der [X.] hat entschieden, dass an den von der Revision vorgeschlagenen Begriff einer "strukturell urheberrechtsverletzenden Internetseite" kein Satz der alltäglichen Lebenserfahrung geknüpft werden kann (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 36] - [X.]). Unabhängig davon hat der [X.] das Vorbringen berücksichtigt (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 33] - [X.]).

9

b) Soweit die [X.] vortragen, der [X.] habe vom [X.] festgestellten und nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Sachverhalt übergangen, verkennen sie, dass sich das Berufungsgericht die (sinngemäße) Feststellung des [X.]s, es handle sich um strukturell urheberrechtsverletzende Internetseiten, nicht zu eigen gemacht hat. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte im Berufungsverfahren gerügt, das [X.] habe Bestreiten der Beklagten unzulässigerweise als unbeachtlich gewertet und eine notwendige Beweisaufnahme unterlassen. Das Berufungsgericht hat das genannte Vorbringen für seine Entscheidung nicht herangezogen und daher nicht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO geprüft, ob konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des [X.]s begründen (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 30. Oktober 2007 - [X.], [X.], 576 [juris Rn. 27]; [X.] in Musielak/[X.], ZPO, 19. Aufl., § 559 Rn. 13). Es kann daher nicht angenommen werden, dass das genannte Vorbringen von der allgemeinen Bezugnahme des Berufungsgerichts auf die Feststellungen des [X.]s abgedeckt ist.

3. Ebenso wenig hat der [X.] das Gehörsrecht der [X.] dadurch verletzt, dass er ihren Vortrag, die Zustellung einer einstweiligen Verfügung innerhalb der [X.] führe zu unverhältnismäßigen Verzögerungen, nicht berücksichtigt hätte.

a) Im Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahren haben die [X.] lediglich allgemein vorgetragen, mit einer Inanspruchnahme [X.] Gerichte würden Auslandszustellungen und Übersetzungen mit entsprechend hohem Aufwand erforderlich. Diesen offensichtlichen Umstand hat der [X.] erwogen, ist aber zu dem Ergebnis gelangt, dass er der generellen Zumutbarkeit eines Vorgehens im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes innerhalb der [X.] nicht entgegensteht. Bei der konkreten Prüfung der Zumutbarkeit im Streitfall hat der [X.] zudem berücksichtigt, dass es sich bei den [X.] um große und international tätige Wissenschaftsverlage handelt ([X.], [X.], 1812 [juris Rn. 55] - [X.]).

b) Soweit die [X.] darauf abstellen, dass in vielen Fällen nur die Zustellung eines übersetzten Schriftstücks sicher Erfolg hat (vgl. Art. 12 Abs. 1 der Verordnung [[X.]] 2020/1784 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten) und in der Regel die Erstellung einer amtlich beglaubigten Übersetzung beim erlassenden Gericht beantragt wird, verkennen sie zudem, dass es dem Rechtsinhaber offensteht, selbst eine Übersetzung zu erstellen und das Gericht um deren Zustellung zu ersuchen (vgl. [X.], Urteil vom 25. Februar 2021 - [X.], NJW 2021, 1598 [juris Rn. 38, 42 und 44]), soweit es ihm zur Beschleunigung des Verfahrens angezeigt erscheint.

c) Ebenfalls ohne Erfolg verweisen die [X.] auf ihren Vortrag, es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Betreiber illegaler Webseiten nicht ihre wahren Identitäten angäben und ein Titel bei der mutmaßlichen Betreiberin von "[X.]" nicht vollstreckt werden könne. Der [X.] hat diesen Vortrag berücksichtigt (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 33] - [X.]), ist der Ansicht der [X.] jedoch nicht gefolgt. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass nach Auffassung des [X.]s nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass beim Host-Provider B.     entweder Name und Anschrift eines bislang noch nicht bekannten Betreibers der Internetdienste oder zumindest eine bislang noch nicht bekannte Anschrift der bereits ermittelten Betreiberin des Internetdienstes "[X.]" hinterlegt ist (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 54] - [X.]).

d) Soweit die [X.] rügen, es sei widersprüchlich, dass der [X.] gemeint habe, die [X.] hätten ein einstweiliges Verfügungsverfahren durchführen können, zugleich aber angenommen habe, dass inzwischen kein Verfügungsgrund mehr bestehe (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 57] - [X.]), zeigen sie bereits keine Gehörsrechtsverletzung auf. Unabhängig davon liegt kein Widerspruch vor, weil der Grundsatz des fairen Verfahrens es nicht gebietet, den [X.] durch eine Zurückverweisung die Möglichkeit zu verschaffen, bisher unterbliebene Ermittlungsmaßnahmen erst noch zu veranlassen (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 57] - [X.]).

4. Der [X.] hat das Gehörsrecht der [X.] auch nicht dadurch verletzt, dass er ihren im Berufungsverfahren gestellten neuen Hauptantrag auf Sperrung weiterer, noch nicht benannter Domains als unzulässig angesehen hat (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 4 und 71 bis 73] - [X.]). Entgegen der Auffassung der [X.] hat der [X.] ausgeführt, dass das Berufungsgericht den Vortrag der [X.] zu ständigem Domainwechsel zu Recht als streitig angesehen hat (vgl. [X.], [X.], 1812 [juris Rn. 64 bis 66] - [X.]). Dass das Bestimmtheitserfordernis in bestimmten Fällen hinter das Gebot effektiven Rechtsschutzes zurücktreten kann (vgl. [X.], Urteil vom 19. April 2007 - [X.], [X.]Z 172, 119 [juris Rn. 48] - [X.]; Urteil vom 15. August 2013 - [X.], [X.], 1030 [juris Rn. 21] = WRP 2013, 1348 - File-Hosting-Dienst), ist in die Prüfung des [X.]s eingeflossen. Würde der neue Hauptantrag der [X.] als hinreichend bestimmt angesehen, könnten sie einen dynamischen Titel erwirken, über dessen Erweiterung sie letztlich selbst entschieden. Dies ginge über eine Inkaufnahme von Unschärfen hinsichtlich der Reichweite des Titels aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes weit hinaus.

II. [X.] beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 97 Abs. 1 ZPO.

Koch     

  

Löffler     

  

Schwonke

  

Schmaltz     

  

Odörfer     

  

Meta

I ZR 111/21

26.01.2023

Bundesgerichtshof 1. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend BGH, 13. Oktober 2022, Az: I ZR 111/21, Urteil

Art 8 Abs 3 EGRL 29/2001, § 7 Abs 4 S 1 TMG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.01.2023, Az. I ZR 111/21 (REWIS RS 2023, 1055)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 1055


Verfahrensgang

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Az. I ZR 111/21

Bundesgerichtshof, I ZR 111/21, 26.01.2023.

Bundesgerichtshof, I ZR 111/21, 13.10.2022.


Az. 29 U 6933/19

OLG München, 29 U 6933/19, 27.05.2021.


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