Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.03.2019, Az. 2 ARs 69/19

2. Strafsenat | REWIS RS 2019, 9502

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STRAFRECHT BUNDESGERICHTSHOF (BGH) STRAFTATEN FLÜCHTLINGE GERICHTE RECHTSEXTREMISMUS JUSTIZ

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Gegenstand

Strafverfahren: Voraussetzungen für die Übertragung der Verhandlung und Entscheidung einer Sache auf ein eigentlich nicht zuständiges Gericht


Tenor

Die Übertragung der Sache an ein Landgericht außerhalb [X.] wird abgelehnt.

Gründe

I.

1

Die Staatsanwaltschaft [X.] hat gegen den 23jährigen, aus S.    stammenden Angeklagten [X.].    unter dem 21. Dezember 2018 Anklage wegen „gemeinschaftlich begangenen Totschlags in Tatmehrheit mit gemeinschaftlichem versuchten Totschlag und gefährlicher Körperverletzung“ erhoben. Ihm wird vorgeworfen, am frühen Morgen des 26. August 2018 in [X.]     gemeinsam mit einem [X.] Mittäter die Geschädigten      [X.]und     M.    mit Messern angegriffen zu haben, wobei sie mit bedingtem Tötungsvorsatz den Geschädigten [X.]viermal in den Brustkorbbereich und den Geschädigten M.    einmal in den Rücken stachen. Der Geschädigte [X.]verstarb unmittelbar nach der Tat an den Folgen der ihm beigebrachten Verletzungen; der Geschädigte M.    erlitt eine potentiell lebensbedrohliche Stichverletzung im linken Rückenbereich.

2

Mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 11. Februar 2019 beantragte der Angeklagte die Übertragung des Gerichtsstands gemäß § 15 StPO durch den [X.] auf ein Landgericht außerhalb der Bundesländer [X.], [X.] und [X.]. Nach Bekanntwerden der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat sei es Ende August 2018 in [X.]     zu massiven ausländerfeindlichen, von rechtsgerichteten Gruppen organisierten, zum Teil gewalttätigen Protesten gekommen, auf die die [X.] Polizeikräfte nicht vorbereitet gewesen seien. Bei Durchführung der Hauptverhandlung vor dem Landgericht [X.] oder einem anderen Landgericht in [X.], [X.] oder [X.] sei wegen der in diesem Jahr dort stattfindenden Landtagswahlen mit gleichartigen rechtsgerichteten und ausländerfeindlich motivierten Demonstrationen zu rechnen. Wegen der zu erwartenden Vielzahl gewaltbereiter Demonstrationsteilnehmer könne es erneut zu „massiven Ausschreitungen“ kommen; angesichts des zu erwartenden großen Drucks der Straße durch „rechtes Gewaltpotential“ könnten die Verfahrensbeteiligten nicht unbeeindruckt und angstfrei urteilen. [X.], wie die Verlegung an einen anderen Ort kämen nicht in Betracht, da die Gefahr von den stattfindenden Demonstrationen und den „in den genannten Bundesländern mehrheitlich geteilten rassistischen Umtrieben ausgeht“. Mit radikalen Kundgebungen und Gewaltaufrufen sei daher auch „an diesen anderen Orten“ zu rechnen. Zudem bestehe die Gefahr, dass das Gedankengut der rechten Demonstranten seitens der [X.] [X.] geteilt werde; so sei - auch wenn es sich dabei um einen Einzelfall gehandelt haben mag - der gegen den Angeklagten ergangene Haftbefehl veröffentlicht worden.

3

Mit Beschluss vom 14. Februar 2019 hat das Landgericht [X.] das Hauptverfahren eröffnet und die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen. Am 18. Februar 2019 erging die sitzungspolizeiliche Anordnung der Vorsitzenden Richterin mit der diese u.a. die Durchführung der Hauptverhandlung im Sitzungssaal des [X.] des [X.] anordnete. Dabei handelt es sich um ein Anfang 2017 in Dienst gestelltes [X.] in unmittelbarer Nähe zur [X.], das 2016 so umgebaut und ausgestaltet worden war, um für Staatsschutzverfahren adäquate Verhandlungsbedingungen unter Wahrung insbesondere der für solche Verfahren erforderlichen Sicherheitsstandards zu gewährleisten.

4

Ebenfalls mit Verfügung vom 18. Februar 2019 hat die Vorsitzende Richterin die Vorgänge dem [X.] zur Entscheidung über den [X.] des Angeklagten vorgelegt. Der Generalstaatsanwalt des Freistaates [X.] ist ebenso wie der [X.] einer Gerichtsstandsübertragung unter Verweis auf die vom Landgericht [X.] getroffenen Sicherheitsvorkehrungen entgegengetreten.

II.

5

1. Der [X.] ist für die beantragte Entscheidung zuständig. Soll - wie hier - die Sache einem Landgericht außerhalb des Bezirks des übergeordneten Oberlandesgerichts übertragen werden, so muss das Gericht entscheiden, das sowohl dem verhinderten wie auch dem zu beauftragenden Gericht übergeordnet ist, mithin der [X.] (vgl. Senatsbeschluss vom 21. März 2007 - 2 [X.], [X.], 475).

6

2. Die Voraussetzungen für eine Übertragung der Strafsache an ein Landgericht außerhalb [X.]s gemäß § 15 StPO liegen nicht vor. Das Landgericht [X.] ist weder tatsächlich noch rechtlich verhindert, das Hauptverfahren durchzuführen. Auch eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit infolge der Durchführung der Verhandlung vor dem zuständigen Gericht ist nicht zu besorgen.

7

a) Die Vorschrift des § 15 StPO, der die Befugnis einräumt, ein eigentlich nicht zuständiges Gericht mit der Verhandlung und Entscheidung einer Sache zu beauftragen, ist wegen des damit verbundenen Eingriffs in das mit Verfassungsrang ausgestattete Prinzip des gesetzlichen Richters restriktiv auszulegen. Nicht jede Gefahr für die öffentliche Sicherheit kann Anlass für eine Zuständigkeitsübertragung geben, sondern nur eine solche, die auf Grund ihres Grades und des Ausmaßes der drohenden Schäden eine Situation begründet, die dem Fall der tatsächlichen Verhinderung des zuständigen Gerichts (§ 15 Alt. 1 StPO) vergleichbar ist und eine nachteilige Rückwirkung auf die Unbefangenheit der zur Urteilsfindung berufenen Personen ausüben kann. Eine Verlegung kommt zudem nur dann in Betracht, wenn die Gefahr ihren Ursprung gerade in der Durchführung der Verhandlung vor dem an sich zuständigen Gericht hat und nicht auf andere Weise als durch einen Eingriff in das gesetzliche Zuständigkeitssystem beseitigt werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 4. April 2002 - 3 [X.], [X.]St 47, 275). Erforderlichenfalls ist die Verhandlung in ein besonders gesichertes Areal oder Gebäude zu verlegen. Das zuständige Gericht ist auch nicht daran gehindert, die Hauptverhandlung, wenn es dies nach pflichtgemäßem Ermessen für geboten erachtet, sogar im Ganzen außerhalb seines Bezirks durchzuführen (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Oktober 1968 - 2 [X.], [X.]St 22, 250).

8

b) Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für eine Übertragung des Gerichtsstands wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht vor.

9

Das Landgericht [X.] hat das ihm gemäß § 166 [X.] zustehende Ermessen ohne Rechtsfehler dahingehend ausgeübt, die Hauptverhandlung insgesamt in einem besonders gesicherten Gebäude außerhalb des [X.] durchzuführen. Das dazu ausgewählte [X.] des [X.] bietet die [X.], wie sie in den regelmäßig mit besonderem Aufwand und unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen durchgeführten Staatsschutzverfahren üblich sind und wie sie daher auch für das vorliegende Verfahren ausreichend sind. Zudem tragen die angeordneten weitreichenden sitzungspolizeilichen Anordnungen den Sicherheitsbelangen Rechnung. Dass die [X.] Justiz- und Polizeibehörden den sich aus einer Durchführung der Verhandlung in [X.] ergebenden Anforderungen nicht gewachsen sein könnten, ist nicht ersichtlich. Ebenso wenig liegen Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung oder ernsthafte Bedrohung der mit der Sache befassten Berufs- und Laienrichter oder anderer Verfahrensbeteiligter vor; solche werden auch von der Verteidigung nicht vorgetragen.

Gleiches gilt, soweit der Angeklagte besorgt, [X.] [X.] würden „rechtes Gedankengut“ teilen. Bei der Mitwirkung an der Veröffentlichung des gegen den Angeklagten ergangenen Haftbefehls handelt es sich um eine Verfehlung eines einzelnen [X.]s, die keine Verallgemeinerung für die gesamte [X.] Justiz zulässt.

Schließlich rechtfertigt auch die Behauptung, gewaltsame Proteste und Ausschreitungen seien in [X.] gerade deshalb zu befürchten, weil dort - wie auch in [X.] und [X.] - die solchen Demonstrationen zugrunde liegenden „rassistischen Umtriebe“ „mehrheitlich geteilt“ würden, schon wegen ihres pauschal die Bevölkerung der genannten Bundesländer verunglimpfenden Charakters, keine Übertragung der Sache auf ein Gericht eines anderen Bundeslandes.

Franke     

        

Appl     

        

Zeng   

        

Grube     

        

Schmidt     

        

Meta

2 ARs 69/19

12.03.2019

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: ARs

§ 15 Alt 1 StPO, § 166 GVG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.03.2019, Az. 2 ARs 69/19 (REWIS RS 2019, 9502)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 9502

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