Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 27.07.2021, Az. 3 B 12/20, 3 PKH 1/20, 3 B 12/20, 3 PKH 1/20

3. Senat | REWIS RS 2021, 3743

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Gegenstand

Verpflichtungsklage auf Wiedergestattung der Tierhaltung


Tenor

Dem Kläger wird für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des [X.] vom 27. März 2020 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ... beigeordnet.

Der Beschluss des [X.] vom 27. März 2020 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den [X.] zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1

Die [X.]eteiligten streiten über ein [X.]. Mit [X.] vom 8. September 2003 erließ der [X.]eklagte eine für sofort vollziehbar erklärte tierschutzrechtliche Anordnung, mit der dem Kläger unter anderem das Halten und [X.]etreuen landwirtschaftlicher Nutztiere untersagt wurde. Das [X.]eschwerdeverfahren gegen die unter Auflagen erfolgte Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs durch das Verwaltungsgericht erklärten die [X.]eteiligten für erledigt. Der [X.]hof stellte das Verfahren ein und erklärte den [X.]eschluss des [X.] für wirkungslos. Der Widerspruch gegen das Verbot blieb unbeschieden. Im Februar 2007 begehrte der Kläger die Aufhebung des [X.]. Im Oktober 2010 beantragte er, das Verfahren wieder aufzugreifen und das [X.] aufzuheben. Der [X.]eklagte teilte dem Kläger mit, dass er seinen Antrag als Antrag auf Wiedergestattung der Haltung und [X.]etreuung von Tieren verstehe und lehnte den Antrag nachfolgend mit [X.] vom 27. Januar 2011 ab. Gemäß § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Halbs. 2 TierSchG sei das Halten und [X.]etreuen von Tieren wieder zu gestatten, wenn der Grund für die Annahme weiterer Zuwiderhandlungen entfallen sei. Dies habe der Kläger nicht nachgewiesen. Der hiergegen gerichtete Widerspruch wurde mit [X.] vom 3. August 2011 zurückgewiesen. Das Verwaltungsgericht hat der hierauf erhobenen Klage - ohne mündliche Verhandlung - mit Urteil vom 19. Dezember 2012 stattgegeben und das [X.] des [X.]s vom 8. September 2003 sowie den [X.] vom 27. Januar 2011 und den Widerspruchsbescheid vom 3. August 2011 aufgehoben. Da das 2003 verfügte [X.] aufgrund des unbeschiedenen Widerspruchs nicht bestandskräftig geworden sei, sei die Klage als Untätigkeitsklage zu verstehen. Tatsachen, die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Annahme weiterer tierschutzrechtlicher Zuwiderhandlungen rechtfertigen würden, lägen nicht vor. Der [X.]hof hat der [X.]erufung des [X.]eklagten im Verfahren nach § 130a VwGO durch [X.]eschluss vom 27. März 2020 stattgegeben und die Klage abgewiesen. Entgegen dem Urteil des [X.] sei die Klage gegen das [X.] des [X.]s vom 8. September 2003 unzulässig. Das Klagerecht sei verwirkt. Für das [X.]egehren, den [X.] vom 27. Januar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. August 2011 aufzuheben, fehle das Rechtsschutzbedürfnis. Richtige Klageart sei die Verpflichtungsklage. In dem [X.] des [X.]hofs sei ausgeführt worden, dass nicht erkennbar sei, inwiefern die Aufhebung dieser [X.]e einen Vorteil mit sich brächte. [X.] Konsequenzen habe der Kläger daraus nicht gezogen, weshalb er an der in erster Instanz verfolgten Anfechtungsklage festzuhalten sei.

II

2

1. Dem Kläger ist für das [X.]eschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil seine [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision - wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt - hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und er seine [X.]edürftigkeit glaubhaft gemacht hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO). [X.] ist ihm daher sein Prozessbevollmächtigter beizuordnen (§ 121 Abs. 1 ZPO).

3

2. Die [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des [X.]eschlusses und Zurückverweisung der Sache an den [X.]hof (§ 133 Abs. 6 VwGO). Der geltend gemachte Verfahrensmangel eines Verstoßes gegen § 88 VwGO liegt vor; der [X.]eschluss kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

4

Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Ein Verfahrensmangel kann darin liegen, dass das Gericht unter Verstoß gegen § 88 VwGO über einen bei ihm anhängig gewordenen Gegenstand nicht entscheidet ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 27. Oktober 2006 - 1 [X.] 152.06 - juris Rn. 2). Für die Ermittlung des [X.] gelten die Grundsätze für die Auslegung von Willenserklärungen (§§ 133, 157 [X.]G[X.]). Maßgeblich ist das Rechtsschutzziel, wie es in dem Klageantrag, der Klagebegründung und dem weiteren Vorbringen sowie in den sonstigen für das Gericht und die übrigen [X.]eteiligten erkennbaren Umständen zum Ausdruck kommt (stRspr, vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 13. Januar 2012 - 9 [X.] 56.11 - juris Rn. 7 und Urteil vom 26. April 2018 - 3 C 11.16 - juris Rn. 14 jeweils m.w.N.).

5

Die Annahme des [X.]hofs, der Kläger habe sich auf eine Anfechtung der Ablehnung der Wiedergestattung des Haltens und [X.]etreuens von Nutztieren (§ 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Halbs. 2 TierSchG) beschränkt, wird diesen Grundsätzen nicht gerecht. Entsprechend dem klaren Ziel, das [X.] zu beseitigen, nach dem Verfahrensgang und den vor dem Verwaltungsgericht schriftlich formulierten Anträgen erfasst sein Klagebegehren ersichtlich auch das Verpflichtungsbegehren, das Halten und [X.]etreuen von Nutztieren wieder zu gestatten.

6

Richtig ist allerdings, dass das Verwaltungsgericht das Klagebegehren sinngemäß dahin ausgelegt hat, der Kläger fechte im Wege einer Untätigkeitsklage das [X.] aus dem [X.] vom 8. September 2003 und darüber hinaus den [X.] vom 27. Januar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. August 2011 an. Auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung, das [X.] sei nicht unanfechtbar geworden, trug diese Auslegung dem Rechtsschutzziel sachdienlich Rechnung. Der [X.]hof durfte an dieser Auslegung aber nicht festhalten, nachdem er festgestellt hat, das Klagerecht gegen das [X.] sei verwirkt. Der [X.]hof hat die Verwirkung des Klagerechts damit begründet, der Kläger habe dem Verständnis des [X.]eklagten nicht widersprochen, seinen Antrag als Antrag auf Wiedergestattung zu verstehen. In seiner Klageschrift vom 5. August 2011 ist der Kläger dieser Verfahrensweise auch nicht entgegengetreten. [X.]ereits das legt nahe, das [X.]egehren im Sinne einer Verpflichtung zur Wiedergestattung zu verstehen. Mit seinem ersten Klageantrag (2.) hat der Kläger zwar die Feststellung beantragt, dass das [X.] rechtlich wirkungslos geworden sei. Mit dem zweiten, hilfsweisen Antrag (3.) hat er jedoch zuletzt begehrt, "unter Änderung des [X.]es des [X.]eklagten vom 27.1.2011 in Gestalt des [X.] den [X.]eklagten zu verpflichten, das Tierhalteverbot vom [X.] auf den Antrag des [X.] vom 29.7.2010 aufzuheben", und damit einen auf die [X.]e zur Wiedergestattung bezogenen [X.] gestellt. Im [X.]erufungsverfahren hat der Kläger zudem erklärt, es sei letztlich gleichgültig, ob das [X.] aus dem [X.] vom 8. September 2003 aufgehoben oder der [X.]eklagte verpflichtet werde, das Verfahren neu aufzugreifen und das Verbot ex nunc aufzuheben. Das damit klar zum Ausdruck gebrachte Verpflichtungsbegehren umfasst - ausgehend von dem ebenfalls klaren Klageziel, zukünftig wieder Nutztiere halten zu dürfen - bei sachdienlicher Auslegung auch die Wiedergestattung des Haltens und [X.]etreuens von Nutztieren. Dieses [X.]egehren hat der [X.]hof unter Verletzung von § 88 VwGO übergangen. Auch der Verweis auf den [X.] hilft darüber nicht hinweg. Dieser stützt sich auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des [X.] und führt unter anderem an, es sei nicht erkennbar, dass die Aufhebung des [X.]s des [X.]eklagten vom 27. Januar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. August 2011 dem Kläger einen Vorteil brächte. Ob dies zutrifft, mag dahinstehen. Jedenfalls ist damit nur eine Aussage zur Richtigkeit des Urteils getroffen, hingegen kein Hinweis darauf gegeben, der Kläger müsse prozessual reagieren.

7

Das [X.]erufungsurteil kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Der [X.]hof hätte die Klage nicht mangels [X.] einer Anfechtungsklage als unzulässig abweisen dürfen, sondern über die Klage als Verpflichtungsklage mit dem Ziel der Wiedergestattung der Nutztierhaltung in der Sache entscheiden müssen. Deren Erfolg ist offen. Im weiteren Verfahren wird zu beachten sein, dass die Tilgungsfrist der Verurteilung durch das [X.] abgelaufen ist (§ 46 Abs. 1 Nr. 2 [X.]uchst. b [X.]ZRG), weshalb insoweit ein Verwertungsverbot der abgeurteilten Tat in [X.]etracht kommt (§ 51 f. [X.]ZRG).

8

Ungeachtet der Anforderungen an die [X.]ezeichnung eines Verfahrensfehlers (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) bedarf danach keiner Vertiefung, dass der [X.]hof im Lichte seiner Auslegung spätestens mit der Anhörungsmitteilung nach § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auch zu einem diesbezüglichen Hinweis verpflichtet gewesen wäre. Soweit der Kläger im Übrigen rügt, der [X.]hof habe verfahrensfehlerhaft die Klage gegen das [X.] aus dem [X.] vom 8. September 2003 als verwirkt angesehen, ist ein Verfahrensfehler nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

9

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Meta

3 B 12/20, 3 PKH 1/20, 3 B 12/20, 3 PKH 1/20

27.07.2021

Bundesverwaltungsgericht 3. Senat

Beschluss

Sachgebiet: PKH

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 27. März 2020, Az: 5 A 2514/13, Beschluss

§ 88 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 27.07.2021, Az. 3 B 12/20, 3 PKH 1/20, 3 B 12/20, 3 PKH 1/20 (REWIS RS 2021, 3743)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 3743

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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