Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.06.2019, Az. 3 StR 196/19

3. Strafsenat | REWIS RS 2019, 6644

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Gegenstand

Verhältnismäßigkeit einer die Strafe überdauernden Unterbringungsdauer


Tenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 1. Februar 2019 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das zulässige Rechtsmittel ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

Der Erörterung bedarf nur Folgendes:

3

Rechtsfehlerfrei hat das [X.] die Unterbringung als verhältnismäßig angesehen, obwohl "die Therapiedauer die [ausgeurteilte] [X.] voraussichtlich deutlich übersteigen" ([X.]) werde.

4

Der in § 62 StGB für die Maßregeln der Besserung und Sicherung ausdrücklich normierte und als allgemeines Rechtsprinzip von Verfassungs wegen zu beachtende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. [X.], Beschluss vom 8. Oktober 1985 - 2 BvR 1150/80 und 1504/82, [X.]E 70, 297, 311 f.) steht einer Unterbringung nicht von vornherein entgegen, wenn die voraussichtliche [X.] die ausgeurteilte Freiheitsstrafe - unter Umständen auch deutlich - übersteigt. Die Ablehnung einer Unterbringung allein mit der Erwägung, die Höhe der [X.] bliebe zeitlich hinter der prognostischen [X.] zurück, wäre vielmehr rechtsfehlerhaft (vgl. [X.], Beschluss vom 9. Juni 2011 - 2 StR 158/11, juris; [X.], Urteil vom 19. April 2017 - 1 Ss 11/17, juris Rn. 20; [X.], Beschluss vom 23. Juni 2014 - 32 Ss 83/14, [X.], 24, 25; [X.], StGB, 66. Aufl., § 64 Rn. 24a, § 67 Rn. 22; MüKoStGB/[X.], 3. Aufl., § 64 Rn. 60; [X.]/[X.]/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 62 Rn. 1, 6; [X.]/Sinn, 9. Aufl., § 67 Rn. 4; [X.]/[X.], 4. Aufl., § 64 Rn. 43).

5

1. Der Sinn und Zweck des [X.] sowie die Zweispurigkeit des Sanktionensystems sprechen dagegen, eine die Strafe übersteigende [X.] von vornherein als unverhältnismäßig anzusehen.

6

Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen [X.] Strafe einerseits sowie selbständigen Maßnahmen wie etwa der Unterbringung andererseits, die zur Besserung des [X.] und zur Sicherung der Allgemeinheit zur Vermeidung künftiger [X.] erforderlich sind. § 64 StGB ist somit ein Reaktionsmittel präventiver Natur, das nicht als Antwort auf eine Tat angeordnet wird, sondern aus Anlass einer solchen mit Blick auf die aus ihr hervorgehende Gefahr weiterer Straftaten des [X.], und damit konzeptionell von der individuellen Schuld des [X.] unabhängig (vgl. [X.], Beschluss vom 16. März 1994 - 2 BvL 3/90, 4/91 und 2 BvR 1537/88, 400/90, 349/91, 387/92, [X.]E 91, 1, 31 f.; [X.], Urteil vom 19. April 2017 - 1 Ss 11/17, juris Rn. 20; [X.]/[X.]/Kinzig, StGB, 30. Aufl., Vor §§ 38 ff. Rn. 22; [X.]/[X.], 4. Aufl., Vor §§ 61 ff. Rn. 2 ff.). Maßgeblicher Ausgangspunkt für die Beurteilung ihrer Verhältnismäßigkeit kann deshalb nicht allein die Höhe der ausgeurteilten - gerade nach der Schuld des [X.] bemessenen - Strafe sein.

7

2. Bereits nach dem Gesetzeswortlaut des § 62 StGB ist Bezugspunkt für die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht allein die Bedeutung der vom Täter begangenen Taten. Neben diesen sind zudem die zu erwartenden Taten und der Grad der vom Täter ausgehenden Gefahr in den Blick zu nehmen. An anderer Stelle hat der Gesetzgeber ebenfalls keine Regelung getroffen, die eine Unterbringung für unverhältnismäßig erklären würde, sofern ihre Dauer die Höhe der [X.] deutlich übersteigt (vgl. [X.], Beschluss vom 9. Juni 2011 - 2 StR 158/11, juris).

8

3. Dies entspräche auch nicht dem Willen des Gesetzgebers. Nach der Gesetzesbegründung zur Einfügung des § 42a Abs. 2 StGB aF (s. [X.] vom 25. Juni 1969, [X.] I S. 645, 649), der Vorgängernorm des § 62 StGB, soll das Gericht "bei der Anwendung des Absatzes 2 [...] eine Gesamtwürdigung der im Gesetz bezeichneten Merkmale vornehmen", wobei "der Umstand, daß für die Zukunft Taten von besonderer Schwere zu erwarten sind, die Anordnung der Maßregel auch dann rechtfertigen [könne], wenn die bisherigen Taten für sich betrachtet weniger gewichtig erscheinen" (BT-Drucks. V/4094, [X.]). Hiernach soll die Schwere der [X.] im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung lediglich einen von mehreren zu beachtenden Gesichtspunkten darstellen, eine Unterbringung also gerade nicht von vornherein bei weniger gewichtigen Straftaten und einer sich daraus ergebenden Verurteilung zu einer die voraussichtliche [X.] unter Umständen deutlich unterschreitenden Freiheitsstrafe unverhältnismäßig sein (vgl. auch [X.], Urteil vom 21. April 1971 - 2 StR 82/71, [X.]St 24, 134, 135 f.; [X.]/[X.], 4. Aufl., § 64 Rn. 22).

9

4. Schließlich kann eine Unterbringung selbst neben einem auf Schuldunfähigkeit beruhenden Freispruch ([X.]/[X.], 4. Aufl., § 64 Rn. 25) angeordnet werden, so dass § 64 StGB auch Fälle erfasst, in denen keine Strafe vollstreckt wird. Dann aber ist eine Unterbringung erst recht nicht deshalb unverhältnismäßig, nur weil der Angeklagte zugleich zu einer lediglich relativ niedrig bemessenen Freiheitsstrafe verurteilt wird (vgl. [X.], Urteil vom 19. April 2017 - 1 Ss 11/17, juris Rn. 20; [X.], Beschluss vom 23. Juni 2014 - 32 Ss 83/14, [X.], 24, 25).

Schäfer     

        

Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. [X.] befindet sich
im Urlaub und ist deshalb
gehindert zu unterschreiben.

        

[X.]

                 

Schäfer

                 
        

Berg     

        

     Anstötz     

        

Meta

3 StR 196/19

04.06.2019

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Stade, 1. Februar 2019, Az: 201 KLs 11/18

§ 62 StGB, § 64 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.06.2019, Az. 3 StR 196/19 (REWIS RS 2019, 6644)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 6644

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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