Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.01.2020, Az. VI ZR 346/18

6. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 1176

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Gegenstand

Gehörsverletzung durch mangelnde Gelegenheit einer Partei zur Stellungnahme auf gerichtlichen Hinweis in Berufungsinstanz


Leitsatz

Zu einer Gehörsverletzung wegen unterbliebener Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung auf einen nicht nachgelassenen Schriftsatz nach erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteiltem Hinweis.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wird das Urteil des 2. Zivilsenats des [X.] vom 26. Juli 2018 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als auf die Berufung der Beklagten das Urteil der 9. Zivilkammer des [X.] vom 22. Juni 2017 hinsichtlich des [X.] abgeändert und die Klage insoweit abgewiesen wurde.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.]s, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des 2. Zivilsenats des [X.] zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert für das [X.] wird auf bis zu 230.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Kläger verlangt von der beklagten Apothekerin nach fehlerhafter Herstellung eines Medikaments weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz.

2

Der im Jahr 1937 geborene Kläger leidet an Asthma. Er nahm deshalb über mehrere Jahre ein Medikament mit dem Wirkstoff [X.] in einer Dosierung von jeweils 100 mg ein. Die entsprechenden Kapseln wurden in der von der Beklagten betriebenen Apotheke hergestellt. Anfang April 2000 mischte die in der Apotheke der Beklagten mit der Zubereitung des Medikaments betraute pharmazeutisch-technische Assistentin anstelle der vorgesehenen 100 mg [X.] jeweils 100 mg Methadon in die Tablettenkapseln. Nachdem der Kläger die Kapseln zwischen dem 3. und 5. April 2000 abgeholt hatte, fand ihn seine Lebensgefährtin am 6. April 2000 komatös in seiner Wohnung auf. Im Krankenhaus wurden ein multiples Organversagen, eine schwere Blutvergiftung und eine durch den Magensaft verursachte Lungenentzündung festgestellt. Das Leben des [X.] konnte gerettet werden; er erlitt allerdings einen schweren Hirnschaden in Form einer hypoxischen Hirnschädigung. In der Folgezeit zahlte der Haftpflichtversicherer der Beklagten erhebliche Beträge auf die materiellen und immateriellen Schäden des [X.]. Mit seiner Klage verlangt der Kläger weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz, wobei es im [X.] alleine noch um ein weiteres Schmerzensgeld und den Ersatz des [X.] geht.

3

Das [X.] hat dem Kläger kein weiteres Schmerzensgeld, wohl aber den Ersatz seines [X.] in Höhe von 162.513,64 € zugesprochen. Das [X.] hat das landgerichtliche Urteil - soweit für das [X.] von Bedeutung - auf die Berufung des [X.] in Bezug auf das Schmerzensgeld dahingehend abgeändert, dass es dem Kläger ein weiteres Schmerzensgeld von 24.341,76 € zugesprochen hat, und auf die Berufung der Beklagten dahingehend, dass es die Klage hinsichtlich des [X.] abgewiesen hat. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

4

Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] hat teilweise Erfolg. Sie führt hinsichtlich des dem Kläger vom Berufungsgericht versagten [X.] gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht (1.). Im Übrigen ist die Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet (2.).

5

1. Das Berufungsurteil beruht insoweit auf einer Gehörsverletzung, als das Berufungsgericht das Urteil des [X.]s in Bezug auf den Haushaltsführungsschaden abgeändert und die Klage abgewiesen hat.

6

a) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung insoweit ausgeführt, ein - dem Grunde nach gegebener - Anspruch auf Ersatz des [X.] scheitere im Streitfall daran, dass der Kläger, obgleich ihm vom (Berufungs-)Senat ein entsprechender Hinweis erteilt worden sei, bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht vorgetragen habe, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er für seine Pflege und Betreuung und - in Abgrenzung hierzu - für die Haushaltsführung geltend mache. Der insoweit nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltene Vortrag sei verspätet, ein Antrag auf [X.] gemäß § 139 Abs. 5 ZPO nicht gestellt worden. Ein Grund zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bestehe deshalb nicht.

7

b) Jedenfalls die Nichtberücksichtigung seines nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltenen Vortrags verletzt den Kläger unter den Umständen des Streitfalls in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

8

aa) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer [X.] haben. Lässt ein Gericht den Vortrag einer [X.] unberücksichtigt, ohne dass dies im Prozessrecht eine Stütze findet, verletzt es damit deren Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. nur Senatsbeschluss vom 2. Oktober 2018 - [X.], NJW 2019, 1082 Rn. 6; [X.] 69, 141, 143 f.; jeweils mwN). Die Verfahrensweise des Berufungsgerichts findet im Gesetz keine Stütze mehr.

9

bb) Der [X.] entnimmt Art. 103 Abs. 1 GG in ständiger Rechtsprechung, dass eine in erster Instanz siegreiche [X.] darauf vertrauen darf, vom Berufungsgericht einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und auf Grund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält; der Hinweis muss dabei grundsätzlich so rechtzeitig erteilt werden, dass der [X.] noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung reagieren kann (vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 10. Oktober 2019 - [X.] Rn. 7, juris; vom 11. April 2018 - [X.], NJW 2018, 2202 Rn. 8; vom 21. Januar 2016 - [X.]/15 Rn. 5, juris; vom 4. Juli 2013 - [X.], NJW-RR 2014, 177 Rn. 8; ferner Senatsbeschluss vom 25. Mai 2018 - [X.], [X.], 1001 Rn. 15; jeweils mwN). Erteilt das Berufungsgericht den Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, so muss es der betroffenen [X.] genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Ist offensichtlich, das sich die [X.] in der mündlichen Verhandlung nicht abschließend erklären kann, so muss das Gericht, wenn es nicht ins schriftliche Verfahren übergeht, die mündliche Verhandlung auch ohne einen Antrag auf [X.] vertagen, um Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ([X.], Beschlüsse vom 11. April 2018 - [X.], NJW 2018, 2202 Rn. 8; vom 27. September 2013 - [X.] Rn. 12 ff., juris; vom 4. Juli 2013 - [X.], NJW-RR 2013, 1358 Rn. 7).

Gegen diese Pflichten hat das Berufungsgericht verstoßen. Es hat dem in erster Instanz in Bezug auf den Haushaltsführungsschaden siegreichen Kläger den Hinweis, es bedürfe einer Darstellung, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er als Pflege und Betreuung und - in Abgrenzung hierzu - für die Haushaltsführung geltend mache, erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteilt und diese geschlossen, obwohl dem Kläger eine sofortige Erklärung in der Sache angesichts des damit verbundenen [X.] ersichtlich nicht möglich war. Vor dem Hintergrund des darin liegenden Verfahrensfehlers war das Berufungsgericht im Rahmen des § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verpflichtet, sich mit dem nicht nachgelassenen Schriftsatz, in dem der Kläger auf den Hinweis reagiert hat, inhaltlich zu befassen und dessen Entscheidungserheblichkeit zu prüfen. Eine solche Prüfung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil es der Kläger versäumt hat, im Termin einen [X.] zu beantragen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 4. Juli 2013 - [X.], NJW-RR 2014, 177 Rn. 13 und vom 18. September 2006 - [X.], [X.], 2328 Rn. 2 ff.; aA etwa Hk-ZPO/[X.], 8. Aufl., § 139 Rn. 10; [X.] ZPO/von [X.], [X.]. [X.], ZPO § 139 Rn. 49.1; jeweils mwN). Die abweichende Verfahrensweise des Berufungsgerichts findet im Prozessrecht keine Stütze mehr.

cc) Auch greift der Einwand der Beschwerdeerwiderung nicht, der verspätet erteilte Hinweis des Berufungsgerichts sei von vornherein nicht erforderlich gewesen, weil die Beklagte bereits in erster Instanz den Einwand erhoben habe, die Lebensgefährtin des [X.] könne nicht zur gleichen Zeit den Haushalt führen und die Pflege des [X.] übernehmen, weshalb die entsprechende Auffassung des Berufungsgerichts für den Kläger nicht überraschend gewesen sein könne. Denn der Einwand der Beklagten musste den Kläger nicht zur Annahme veranlassen, das Berufungsgericht halte ihn für zutreffend, den Vortrag des [X.] zum Haushaltsführungsschaden - anders als das [X.] - also nicht für ausreichend, weshalb er jedenfalls vorsorglich ergänzend vorzutragen habe (vgl. [X.], Beschluss vom 21. Januar 2016 - [X.]/15 Rn. 8, juris).

c) [X.] ist erheblich. Der Kläger hat auf den vom Berufungsgericht in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis nach Schluss der mündlichen Verhandlung reagiert und zu den Tätigkeiten seiner Lebensgefährtin, insbesondere auch hinsichtlich des Bereichs "hauswirtschaftliche Versorgung", weiter vorgetragen. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht über den geltend gemachten Anspruch auf Ersatz des [X.] bei Berücksichtigung des gehörswidrig übergangenen Vortrags anders als geschehen entschieden hätte.

2. Im Übrigen war die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des [X.] auch insoweit erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

3. Das Berufungsgericht wird im Rahmen der erneuten Befassung auch die Möglichkeit haben, in eigener Zuständigkeit über den vom Kläger gestellten Urteilsberichtigungsantrag zu entscheiden.

[X.]     

      

von [X.]     

      

Offenloch

      

[X.]     

      

Allgayer     

      

Meta

VI ZR 346/18

21.01.2020

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Stuttgart, 26. Juli 2018, Az: 2 U 119/17

Art 103 Abs 1 GG, § 139 Abs 4 ZPO, § 156 ZPO, § 544 Abs 9 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.01.2020, Az. VI ZR 346/18 (REWIS RS 2020, 1176)

Papier­fundstellen: MDR 2020, 841-843 REWIS RS 2020, 1176

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