Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.12.2019, Az. StB 29/19

3. Strafsenat | REWIS RS 2019, 241

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Tenor

Auf die Beschwerde der Angeklagten wird der Haftbefehl des Ermittlungsrichters des [X.] vom 24. Juli 2018 (1 [X.] 302/18) in Verbindung mit der Haftfortdauerentscheidung des [X.] vom 21. November 2019 betreffend Fall 3 dahin geändert, dass die Angeklagte dringend verdächtig ist,

von September 2017 bis Juni 2018

gemeinschaftlich mit dem Mitangeklagten [X.]    vorsätzlich eine biologische Waffe gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. 2 KrWaffKG hergestellt und tateinheitlich hierzu eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet zu haben, nämlich eine Straftat gegen das Leben gemäß §§ 211, 212 StGB, die nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, die Sicherheit der [X.] zu beeinträchtigen,

indem sich beide ab September 2017 auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatplans u.a. durch zwei bisher nicht identifizierte Chat-Partner in der Herstellung von Brand- und Sprengvorrichtungen und von Stoffen, die Gift enthalten, unterweisen ließen, sich die hierzu nötigen Gegenstände und Stoffe sowie Rizinussamen verschafften und verwahrten, arbeitsteilig eine unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtung nebst Fernzünder bauten und ab April 2018 Rizin-Pulver sowie eine [X.] herstellten, um mittels einer mit Rizin präparierten Splitterladung einen jihadistisch motivierten Anschlag zu begehen, bei dem an einem belebten Ort möglichst viele "Ungläubige" getötet oder verletzt werden,

strafbar gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. 2 KrWaffKG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 KrWaffKG in Verbindung mit Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG Teil [X.]. b) 3.1 Buchst. d) Ziff. 4., § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 1 bis 3, § 25 Abs. 2, § 52 StGB.

Im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

1

Die Angeklagte wurde am 24. Juli 2018 vorläufig festgenommen und befindet sich seither aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] von diesem Tage (1 [X.] 302/18) ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, die Angeklagte habe durch drei rechtlich selbständige Handlungen ihrem Ehemann, dem Mitangeklagten [X.]    , Hilfe geleistet,

2

in zwei Fällen (Fälle 1 und 2) eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorzubereiten, indem er es unternahm, zum Zweck der Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und um sich unterweisen zu lassen in der Herstellung von und im Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen, Spreng- und Brandvorrichtungen und sonstigen Fertigkeiten, aus der [X.] auszureisen, um sich in einen Staat zu begeben, in dem Unterweisungen von Personen im Sinne des § 89a Abs. 2 Nr. 1 StGB durchgeführt werden; die Angeklagte habe ihn durch Flug- und Hotelbuchungen sowie durch eine Geldüberweisung bei zwei geplanten Reisen in das Herrschaftsgebiet des "[X.]" unterstützt, wo er nach entsprechender Kampfausbildung am bewaffneten "[X.]" gegen die "[X.]" teilnehmen wollte und sich zu diesem Zweck vom 26. August bis zum 5. September 2017 und vom 15. bis 22. September 2017 von [X.] aus in die [X.] begab, strafbar jeweils gemäß § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 89a Abs. 2a StGB, § 27 StGB;

3

in einem weiteren Fall (Fall 3) vorsätzlich biologische Waffen gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. 2 KrWaffKG herzustellen und tateinheitlich eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorzubereiten, indem er sich in der Herstellung von Spreng- und Brandvorrichtungen unterweisen ließ und Gegenstände sowie Stoffe sich verschaffte und verwahrte, die für die Herstellung von Spreng- und Brandvorrichtungen, Sprengstoffen und der zur Ausführung der Tat erforderlichen besonderen Vorrichtungen wesentlich sind, indem die Angeklagte ihn in Kenntnis seiner Pläne, mit diesen Stoffen eine biologische Waffe zu bauen und einen Anschlag zu begehen, u.a. bei der Beschaffung explosiver Stoffe in [X.] und bei der Bestellung von [X.] über das [X.], beim Kauf eines Hamsters als Versuchstier und von Kältekompressen, die vermeintlich Ammoniumnitrat enthielten, unterstützte, strafbar gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. 2 KrWaffKG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 KrWaffKG in Verbindung mit Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG Teil [X.]. b) 3.1 Buchst. d) Ziff. 4., § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 1 bis 3, §§ 27, 52 StGB.

4

Der [X.] hat mit Beschluss vom 20. Februar 2019 ([X.] und 54/18) die [X.] über sechs Monate hinaus angeordnet.

5

Der [X.] hat unter dem 15. Februar 2019 Anklage zum [X.] erhoben und dabei abweichend von dem genannten Haftbefehl die Tathandlungen der Angeklagten in Fall 3 als in Mittäterschaft begangen gewertet. Gegenstand der Anklage ist danach weiterhin der Vorwurf, die Angeklagte habe dem Mitangeklagten [X.]    in zwei Fällen (Fälle 1 und 2) Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat geleistet, indem sie ihn durch Flug- und Hotelbuchungen sowie durch eine Geldüberweisung bei zwei seiner geplanten Reisen in das Herrschaftsgebiet des "[X.]" unterstützte; darüber hinaus hat er der Angeklagten nunmehr zur Last gelegt (Fall 3), sie habe gemeinschaftlich mit dem Mitangeklagten eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet und tateinheitlich hierzu vorsätzlich eine biologische Waffe gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. 2 KrWaffKG hergestellt, indem sich beide ab September 2017 auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatplans u.a. durch zwei bisher nicht identifizierte Chat-Partner in der Herstellung von Brand- und Sprengvorrichtungen und von Stoffen, die Gift enthalten, unterweisen ließen, sich die hierzu nötigen Gegenstände und Stoffe sowie Rizinussamen verschafften und verwahrten, arbeitsteilig eine unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtung nebst Fernzünder bauten und ab April 2018 Rizin-Pulver sowie eine [X.] herstellten, um mittels einer mit Rizin präparierten Splitterladung einen jihadistisch motivierten Anschlag zu begehen, bei dem an einem belebten Ort möglichst viele "Ungläubige" getötet oder verletzt werden, strafbar gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. 2 KrWaffKG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 KrWaffKG in Verbindung mit Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG Teil [X.]. b) 3.1 Buchst. d) Ziff. 4., § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 1 bis 3, § 25 Abs. 2, § 52 StGB.

6

Das [X.] hat mit Beschluss vom 5. Mai 2019 die Anklage unverändert zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Mit Beschluss vom 17. Mai 2019 hat es die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus für erforderlich gehalten und einen dringenden Tatverdacht im Sinne des Anklagevorwurfs bejaht.

7

Am 7. Juni 2019 hat die Hauptverhandlung vor dem 6. Strafsenat des [X.]s Düsseldorf begonnen. Sie ist bisher an insgesamt 29 Tagen durchgeführt worden. Weitere [X.] sind für Januar und Februar 2020 vorgesehen.

8

Im [X.] vom 5. November 2019 hat die Angeklagte durch ihre Verteidiger beantragt, den Haftbefehl in Form der letzten [X.]entscheidung des [X.]s Düsseldorf vom 17. Mai 2019 aufzuheben, hilfsweise ihn gegen Auflagen außer Vollzug zu setzen. Das [X.] hat den Antrag mit Beschluss vom 21. November 2019 abgelehnt und erneut [X.] angeordnet. In seinem Beschluss hat es ausführlich die aktuelle Sach- und Beweislage dargestellt und insbesondere ausgeführt, dass und warum sich in Fall 3 der dringende Tatverdacht der (mit-)täterschaftlichen vorsätzlichen Herstellung einer biologischen Waffe in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gegen die Angeklagte erhärtet habe. Das [X.] hat dies u.a. mit der teilgeständigen Einlassung des Mitangeklagten, Auswertungen des [X.] der Angeklagten und ihres Mobiltelefons einschließlich [X.], der Aussage des Lieferanten der Rizinussamen, der Sicherstellung zahlreicher inkriminierter Stoffe und handschriftlicher Notizen sowie DNA-Spuren der Angeklagten begründet, die an den Innenseiten mehrerer Haushaltshandschuhe sowie an einem sichergestellten Mundschutz festgestellt worden sind. Das erkennende Gericht hat in dem Beschluss ausgeführt, es gehe nach vorläufiger Würdigung der Beweislage angesichts der Vielzahl der DNA-Spuren von einer Primärübertragung durch die Angeklagte aus, und daraus geschlossen, dass sie die Handschuhe und den Mundschutz beim persönlichen Umgang mit den Rizinussamen zum Schutz vor einer Kontamination trug. Zur subjektiven Tatseite hat das [X.] substantiiert dargestellt, dass und warum die Angeklagte eine radikal-islamistische Einstellung hegte, mit der terroristischen Vereinigung "[X.]" sympathisierte und mithilfe der Sprengvorrichtung und des [X.] einen terroristischen Anschlag begehen wollte.

9

Mit Schriftsatz ihrer Verteidiger vom 22. November 2019 hat die Angeklagte gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt. Sie wendet sich insbesondere unter Verweis auf die Einlassung des Mitangeklagten gegen die Annahme eines Tatverdachts in Fall 3 sowie unter Hinweis auf ihre persönlichen Verhältnisse gegen den dem Haftbefehl zugrundeliegenden Haftgrund der Fluchtgefahr. Schließlich macht sie geltend, dass ihre Inhaftierung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, weil die Verhandlungsdichte nicht dem Beschleunigungsgebot entspreche. In diesem Zusammenhang bemängelt sie, dass das [X.] den Prozess jeweils in Etappen und nicht ausreichend weiträumig terminiert habe.

Das [X.] hat am 25. November 2019 die Nichtabhilfe und die Vorlage an den Bundesgerichtshof beschlossen.

Der [X.] hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die Beschwerde ist gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

1. Gegen die Angeklagte besteht der dringende Tatverdacht, die in der Anklageschrift der [X.]schaft vom 15. Februar 2019 näher bezeichneten drei Straftaten begangen zu haben. Der [X.] hat deshalb den Haftbefehl in Fall 3 so geändert, dass er nunmehr den aktuellen Verfahrensstand widerspiegelt. Das Beschwerdevorbringen der Angeklagten ist nicht geeignet, ein anderes Ergebnis zu rechtfertigen. Im Einzelnen:

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.]s unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im [X.] nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (vgl. Beschlüsse vom 21. April 2016 - StB 5/16, [X.], 217; vom 5. Februar 2015 - StB 1/15, [X.]R StPO § 304 Abs. 4 Haftbefehl 3; vom 22. Oktober 2012 - StB 12/12, NJW 2013, 247 Rn. 6; vom 2. September 2003 - StB 11/03, [X.], 368). Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen, unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Allerdings muss es in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über das Rechtsmittel der Angeklagten auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen, um den erhöhten Anforderungen, die nach ständiger Rechtsprechung des [X.] an die Begründungstiefe von [X.]entscheidungen zu stellen sind, ausreichend Rechnung tragen zu können. Daraus folgt indes nicht, dass das erkennende Gericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung unterziehen muss. Die abschließende Bewertung der Beweise und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Haftprüfung und Haftbeschwerde führen nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das erkennende Gericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste ([X.], Beschlüsse vom 21. April 2016 - StB 5/16, [X.], 217; vom 29. Oktober 2015 - StB 14/15, juris Rn. 7 [X.]).

b) Nach diesen Maßstäben ist die im Beschluss vom 21. November 2019 ausführlich begründete Bewertung des [X.]s, der dringende Tatverdacht bestehe weiterhin in allen drei Anklagefällen, nicht zu beanstanden. Auf die dortigen Ausführungen nimmt der [X.] zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug und macht sie sich zu eigen. Wie sich aus diesen im Einzelnen ergibt, stellen die Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme den dringenden Tatverdacht nach vorläufiger Bewertung nicht in Frage; vielmehr untermauern sie ihn. Es besteht auch unter Berücksichtigung des [X.] kein Anlass, von der plausiblen Würdigung des [X.]s abzuweichen. Das gilt insbesondere für den Sachverhalt, der Fall 3 der Anklage zugrunde liegt. Die Ausführungen des [X.]s zu den bisher erhobenen Beweisen zum objektiven und subjektiven Tatgeschehen und ihrer Eignung zur Widerlegung der Einwände der Angeklagten sind nachvollziehbar und überzeugend. In diesem Zusammenhang wird das [X.] im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung allerdings die konkrete Eignung der nach der Anklageschrift extrahierten Rizinmenge von 84,3 Milligramm für die Kriegsführung im Sinne des § 1 Abs. 1 KrWaffKG im Blick zu behalten haben (zur Voraussetzung der Gebrauchsfähigkeit für die [X.] vgl. [X.], Waffenrecht, 10. Aufl., § 1 KrWaffKG Rn. 1b).

Soweit die Angeklagte über ihre Verteidiger eine abweichende Bewertung der Beweislage vortragen lässt, die dahin geht, dass sie weder Kenntnis von den wahren Absichten ihres Ehemannes besessen noch selbst konkrete Anschlagspläne gehegt habe, findet dies auf der Grundlage der bisherigen Beweislage, wie sie sich nach dem Beschluss des [X.]s vom 21. November 2019 darstellt, keine Stütze.

2. Zutreffend geht das [X.] überdies davon aus, dass weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO vorliegt. Die Angeklagte ist zwar Mutter von insgesamt sieben Kindern, von welchen das jüngste im Juni 2018 geboren wurde. Zwei ihrer Kinder leben in Pflegefamilien, drei weitere im Kinderheim. Nach dem derzeitigen Beweisergebnis beabsichtigte sie allerdings trotz dieses Umstands vor ihrer Inhaftierung, [X.] zu verlassen, um "Hijrah zu machen", mithin als [X.]istin auszuwandern und den "[X.]" zu unterstützen, sowie dabei ihre Kinder oder jedenfalls ihre Söhne gegebenenfalls zurückzulassen. Der [X.] verweist bezüglich der Einzelheiten auch insoweit auf den genannten Beschluss des [X.]s und seine eigene [X.]entscheidung vom 20. Februar 2019. Die Angeklagte verfügt zudem weder über einen festen Wohnsitz noch über eine Erwerbstätigkeit. Eine mit Auflagen nach § 116 StPO verbundene Außervollzugsetzung des Haftbefehls ist unter diesen Umständen nicht geeignet, den Zweck der Untersuchungshaft in gleicher Weise zu erfüllen.

3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft steht nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem [X.] und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung bei Berücksichtigung und Abwägung der gegebenen Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens - auch angesichts der bald eineinhalb Jahre währenden Untersuchungshaft und der zu erwartenden Gesamtdauer des Verfahrens - hat die Haft anzudauern. Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist gewahrt. Insoweit gilt:

a) Der Entzug des in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Rechts der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen ist aufgrund der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Der vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkung muss - unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die [X.] in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen, aber auch die Anforderungen an den die [X.] rechtfertigenden Grund zunehmen (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschlüsse vom 8. August 2019 - StB 19/19, juris Rn. 35; vom 21. April 2016 - StB 5/16, [X.], 217 f.).

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen erfordert, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn deren Fortdauer auf vermeidbarer Verfahrensverzögerung beruht. Bei absehbar umfangreichen Verfahren ist eine Hauptverhandlung mit im Grundsatz durchschnittlich mehr als einem [X.] pro Woche notwendig. Insgesamt ist eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des [X.] durchzuführen. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschluss vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff. [X.]; [X.], Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, [X.], 217, 218).

b) An diesen Anforderungen gemessen ist der Prozess bislang mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Hinsichtlich der Förderung des Verfahrens bis zur Anklageerhebung, der Komplexität der Sache, der Vielzahl und der besonderen Schwierigkeit der erforderlichen Ermittlungsmaßnahmen und des [X.] verweist der [X.] auf seinen Beschluss vom 20. Februar 2019. Auch seither ist dem Verfahren weiterhin mit der gebotenen Beschleunigung Fortgang gegeben worden. Im Zwischenverfahren mussten zunächst die 138 Seiten umfassende Anklageschrift für den Mitangeklagten übersetzt und dann der Ablauf von [X.] abgewartet werden. Hier sind Versäumnisse, die zu einer Verlängerung des Verfahrens geführt haben, nicht zu erkennen, zumal nach Eröffnung des Hauptverfahrens am 5. Mai 2019 die Hauptverhandlung bereits am 7. Juni 2019 begonnen hat.

Die Angeklagte macht allerdings im Ansatz zu Recht geltend, dass das Beschleunigungsgebot in umfangreichen Haftsachen wie der vorliegenden eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Verhandlungsplanung erfordert (vgl. [X.], Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07, juris Rn. 52). Vor diesem Hintergrund erschließt es sich nicht ohne Weiteres, dass das [X.] die Verhandlungstermine bisher in Etappen bestimmt hat, anstatt von vornherein eine ausreichende Anzahl an Terminen anzuberaumen. Ungeachtet dieses Umstands haben jedoch nach Aufhebung des Termins am 17. Dezember 2019 bisher insgesamt 29 - fast ausnahmslos ganztägige - Verhandlungstage stattgefunden. Zieht man die zwei maßvollen Urlaubspausen während der [X.] Sommer- und Herbstferien ab (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 23. Januar 2008 - BvR 2652/07, juris Rn. 53; [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2018 - StB 45/18, juris Rn. 11), die sich im Rahmen der Strafprozessordnung halten und zusammen nur fünfeinhalb Wochen umfassen, errechnet sich für die verbleibenden 22,5 Wochen seit Verhandlungsbeginn eine durchschnittliche Verhandlungsdichte von knapp 1,3 Tagen pro Woche. Diese Frequenz ist angesichts der konkreten Umstände des vorliegenden Falles, etwa der inhaltlichen Komplexität des Verfahrens - u.a. wurden zuletzt auf Antrag der Verteidigung der Angeklagten Daten in einem Umfang von 32 Gigabyte beigezogen - und der Anzahl der Verfahrensbeteiligten nicht zu beanstanden.

Anhaltspunkte dafür, dass das [X.] den Prozess bisher nicht stringent und effizient geführt hat, liegen nicht vor. Allein bis zum einschließlich 24. [X.] hat das [X.] 29 Zeugen und sechs Sachverständige vernommen. Es kommt hinzu, dass hinsichtlich eines [X.], welches über 1000 Seiten umfasst, das Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO angeordnet ist. Die Schriftstücke stehen den Verfahrensbeteiligten seit Juli 2019 zur Verfügung, ein Dolmetscher für den Mitangeklagten ist bereitgestellt. Dadurch hat das [X.] eine der Verfahrensbeschleunigung dienende zusätzliche Konzentration des Prozessstoffs bewirkt (vgl. [X.], Beschluss vom 17. Juli 2019 - StB 18/19, juris Rn. 12).

Bedeutsame Verzögerungen oder Versäumnisse, welche die Fortdauer der Untersuchungshaft mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hindern würden, sind auch mit Blick auf das Beschwerdevorbringen nicht ersichtlich. Auf den Umstand, dass vom [X.] zusätzlich vorgeschlagene Verhandlungstermine an Verhinderungen der Verteidiger gescheitert sind und ein bereits terminierter [X.] deshalb sogar vollständig entfallen musste (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07, juris Rn. 55), kommt es danach nicht maßgebend an.

Nach alledem ist der weitere Vollzug der Untersuchungshaft angesichts der Bedeutung der Sache und der konkreten Straferwartung immer noch verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Allein für den Tatvorwurf in Fall 3 sieht § 20 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. 2 KrWaffKG eine gesetzliche Strafandrohung von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe vor. Die im Fall der Verurteilung der Angeklagten zu verbüßende Gesamtfreiheitsstrafe wird - auch unter Berücksichtigung einer möglichen Strafaussetzung nach zwei Dritteln der Strafe (§ 57 Abs. 1 StGB) - jedenfalls die aktuelle Dauer der Untersuchungshaft wesentlich übersteigen.

4. Das [X.] wird der Angeklagten den mit diesem Beschluss geänderten Haftbefehl zu eröffnen haben.

[X.]              Erbguth

Meta

StB 29/19

18.12.2019

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

§ 112 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.12.2019, Az. StB 29/19 (REWIS RS 2019, 241)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 241

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2 BvR 2098/12

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