Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.01.2018, Az. 4 StR 597/17

4. Strafsenat | REWIS RS 2018, 15623

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen: Feststellung der Widerstandsunfähigkeit nach altem Recht


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten [X.]    wird das Urteil des [X.] vom 28. August 2017 - auch soweit es die Mitangeklagte [X.]    betrifft - mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) hinsichtlich des Angeklagten [X.]    ,

aa) soweit dieser in den Fällen [X.] 3 bis 7 der Urteilsgründe verurteilt ist,

bb) in den Fällen [X.] 1 und 2 der Urteilsgründe im Strafausspruch,

cc) im Ausspruch über die Gesamtstrafe;

b) hinsichtlich der Angeklagten [X.]    , soweit sie verurteilt worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten [X.]    wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten [X.]    wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Schutzbefohlenen in zwei Fällen sowie schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die nicht revidierende Mitangeklagte [X.]hat es wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person und Beihilfe zum schweren sexuellen Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte [X.]    wendet sich mit der allgemeinen Sachrüge gegen seine Verurteilung. Sein Rechtsmittel hat den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg und führt zu einer Erstreckung der Aufhebung auf die nicht revidierende Mitangeklagte [X.](§ 357 Satz 1 StGB). Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Die Verurteilung des Angeklagten [X.]    wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in den Fällen [X.] 3 bis 7 der Urteilsgründe nach dem zur Tatzeit geltenden § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB in der bis zum 9. November 2016 geltenden Fassung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Urteilsgründe eine [X.] des [X.] nicht belegen.

3

a) Nach den Feststellungen leidet der zu den [X.] Nebenkläger unter einer leichten geistigen Behinderung, die im Grenzbereich zu einer mittelgradigen geistigen Behinderung liegt. Aufgrund dessen verfügte er nur über die Intelligenz eines etwa neun bis zehn Jahre alten Kindes und eine dementsprechend entwickelte [X.] Kompetenz.

4

In der [X.] zwischen dem 17. Januar 2015 und dem 20. September 2015 forderte der Angeklagte den Nebenkläger mehrfach dazu auf, mit ihm den Analverkehr (Fälle [X.] 3, 4 und 7 der Urteilsgründe) oder den Oralverkehr (Fall [X.] 6 der Urteilsgründe) auszuüben. In einem Fall sollte er zusätzlich an der Scheide der Mitangeklagten [X.](seiner Mutter) lecken (Fall [X.] 6 der Urteilsgründe). Der Nebenkläger kam diesem Ansinnen jeweils nach, weil er „aufgrund seiner psychischen Situation nicht in der Lage war, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und deutlich zu machen bzw. durchzusetzen“. In den Fällen [X.] 3 und 4 der Urteilsgründe handelte er auch aus Angst vor körperlichen Züchtigungen. Im Fall [X.] 6 der Urteilsgründe brach die Mitangeklagte [X.]die sexuellen Handlungen mit dem Nebenkläger ab, nachdem dieser durch ein Kopfschütteln signalisiert hatte, dass er dies nicht wolle. In einem weiteren Fall (Fall [X.] 5 der Urteilsgründe) führte der Angeklagte - bestärkt von der zusehenden Mitangeklagten [X.]- einen Dildo in den Anus des [X.] ein. Als er anschließend den Penis des [X.] in den Mund nahm, versuchte dieser seinen Unwillen durch ein Kopfschütteln deutlich zu machen. Der Angeklagte erwiderte daraufhin, dass sich der Nebenkläger „nicht so haben soll“ und führte den Oralverkehr an ihm aus. Der Nebenkläger ließ dies geschehen, weil er „aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht in der Lage war, die Situation ausreichend zu erfassen und einen entgegenstehenden Willen durchzusetzen“.

5

Nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. Da.  , der sich die [X.] angeschlossen hat, könne bei dem Nebenkläger weder die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung noch die Möglichkeit für eine „altersadäquate Widerständigkeit“ gegenüber den Handlungen des Angeklagten festgestellt werden. Ihm sei es aufgrund seiner Entwicklungsdefizite und der Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeiten nicht möglich gewesen, die Absichten des Angeklagten umfassend zu reflektieren und die Folgen für seine sexuelle Selbstbestimmung abzuschätzen (UA 21).

6

b) Diese Feststellungen rechtfertigen nicht den Schluss, dass der Nebenkläger in den konkreten [X.] im Sinne von § 179 Abs. 1 StGB in der bis zum 9. November 2016 geltenden Fassung widerstandsunfähig war.

7

aa) Nach dieser Vorschrift machte sich strafbar, wer eine Person, die aus den in der Norm näher genannten Umständen zum Widerstand unfähig war, dadurch missbrauchte, dass er unter Ausnutzung der [X.] sexuelle Handlungen an ihr vornahm oder an sich von ihr vornehmen ließ. Als widerstandsunfähig galt, wer - wenn auch nur vorübergehend - gänzlich unfähig war, einen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen gegen das an ihn herangetragene sexuelle Ansinnen zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Die Feststellung der [X.] erforderte eine normative Entscheidung, die der Tatrichter auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung zu treffen hatte, in welche auch das aktuelle Tatgeschehen und etwaige Beeinträchtigungen des [X.] durch die [X.] einzubeziehen waren (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 9. Mai 2017 - 4 StR 366/16, [X.], 240, 241; Beschluss vom 16. Mai 2017 - 3 StR 43/17, [X.], 33; Urteil vom 15. März 1989 - 2 [X.], [X.]St 36, 145, 147 mwN). Eine [X.] konnte danach nicht schon ohne nähere Begründung auf die Feststellung einer geistigen Behinderung und daraus resultierende allgemeine Kompetenzmängel gestützt werden (vgl. [X.], Beschluss vom 1. Oktober 2008 - 2 [X.], [X.], 14; Beschluss vom 26. Januar 2005 - 2 [X.], [X.], 172, 173; Beschluss vom 1. April 2003 - 4 [X.], [X.], 602, 603).

8

bb) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Aus der allgemein gehaltenen Feststellung, dass es dem Nebenkläger aufgrund seiner Entwicklungsdefizite und der Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeiten nicht möglich gewesen sei, die Absichten des Angeklagten umfassend zu reflektieren und die Folgen für seine sexuelle Selbstbestimmung abzuschätzen, folgt nicht ohne weiteres, dass es ihm in den einzelnen [X.] unmöglich war, einen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Eine das konkrete jeweilige Tatgeschehen einbeziehende Gesamtbetrachtung hat das [X.] in keinem der abgeurteilten Fälle erkennbar vorgenommen. Dabei hätte insbesondere näher erörtert werden müssen, dass es dem Nebenkläger im Fall [X.] 6 der Urteilsgründe möglich war, die Mitangeklagte [X.]durch ein bloßes Kopfschütteln zum Abbruch der sexuellen Handlungen zu bewegen und er auch im Fall [X.] 5 der Urteilsgründe seinen Unwillen zur Durchführung des [X.] zum Ausdruck brachte. Dafür, dass der Nebenkläger - jedenfalls in eingeschränktem Umfang - zu einer Reflektion seines Verhaltens und zu [X.] in der Lage war, spricht überdies, dass er in den Fällen [X.] 3 und 4 der Urteilsgründe die sexuellen Handlungen des Angeklagten an sich auch aus Angst vor körperlichen Züchtigungen duldete. Schließlich durfte die [X.] in den Fällen [X.] 3, 4, 6 und 7 der Urteilsgründe auch nicht ohne nähere Begründung offenlassen, ob dem Nebenkläger aufgrund seiner Defizite bereits die Fähigkeit fehlte, einen Widerstandswillen zu bilden oder ob es ihm lediglich unmöglich war, einen solchen Willen in den konkreten [X.] zu äußern oder durchzusetzen.

9

c) Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung ist in den Fällen [X.] 5 und 6 der Urteilsgründe nach § 357 Satz 1 StPO auf die nicht revidierende Mitangeklagte [X.]zu erstrecken, weil in beiden Fällen ein innerer Zusammenhang zwischen ihrer Verurteilung und derjenigen des Angeklagten [X.]    besteht.

Sollte der neue Tatrichter wiederum zu der Überzeugung gelangen, dass sich die Angeklagten nach § 179 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB in der bis zum 9. November 2016 geltenden Fassung gegebenenfalls in Verbindung mit § 27 StGB strafbar gemacht haben, wird bei der Prüfung der Frage, ob der mit Wirkung zum 10. November 2016 neu gefasste § 177 StGB, der insbesondere in den Abs. 1, 2 Nrn. 1 und 2 sowie Abs. 4 Nachfolgeregelungen zu § 179 StGB enthält, das nach § 2 Abs. 3 StGB mildere Gesetz darstellt, von ihm zu beachten sein, dass es insoweit auf eine konkrete Betrachtungsweise ankommt (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 30. August 2017 - 4 StR 345/17; Beschluss vom 9. Mai 2017 - 4 StR 366/16, [X.], 241 f.; Beschluss vom 16. Mai 2017 - 3 StR 43/17, [X.], 33; Beschluss vom 4. April 2017 - 3 StR 524/16, [X.], 242).

2. In den Fällen [X.] 1 und 2 der Urteilsgründe hält jeweils der Ausspruch über die Einzelstrafe revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die [X.] dem Angeklagten die Störung des Sexualverhaltens des [X.] als Folge dieser Taten angelastet hat, obwohl die Feststellungen dafür keinen ausreichenden Beleg bieten.

a) Als verschuldete Auswirkungen der Tat im Sinne von § 46 Abs. 2 StGB können nur Geschehnisse und Umstände angesehen werden, bei denen feststeht, dass sie durch die Tat verursacht worden sind. Kann das Gericht hierzu keine sicheren Feststellungen treffen, darf sich das nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken (vgl. [X.], Beschluss vom 20. August 2003 - 2 StR 285/03, [X.], 41, 42; Beschluss vom 7. Januar 1997 - 4 [X.], [X.], 336, 337). Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass die therapiebedürftige Unfähigkeit des [X.], seine eigene Sexualität zu regulieren und Schamgrenzen anderer zu erkennen, sicher auch auf die unter [X.] 1 und 2 der Urteilsgründe festgestellten Taten zurückzuführen ist. In den Feststellungen wird dazu - soweit nachvollziehbar - nur ein Zusammenhang zu der von beiden Angeklagten vorgelebten „offenen Sexualität“ hergestellt ([X.] f.).

b) Dies und die Aufhebung in den Fällen [X.] 3 bis 7 der Urteilsgründe zieht bei dem Angeklagten die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

Sost-Scheible     

      

Roggenbuck     

      

Franke

      

Bender     

      

Quentin     

      

Meta

4 StR 597/17

16.01.2018

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Halle (Saale), 28. August 2017, Az: 14 KLs 11/16

§ 179 Abs 1 StGB vom 27.12.2003

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.01.2018, Az. 4 StR 597/17 (REWIS RS 2018, 15623)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 15623

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

4 StR 597/17 (Bundesgerichtshof)


2 StR 111/17 (Bundesgerichtshof)

Sexueller Übergriff: Strafrechtliche Beurteilung des Hinwegsetzens über den Willen einer widerstandsunfähigen Person nach neuem Recht; …


4 StR 366/16 (Bundesgerichtshof)

Schwerer sexueller Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person: Anwendung des mildesten Gesetzes nach Gesetzesänderung


2 StR 111/17 (Bundesgerichtshof)


2 StR 597/18 (Bundesgerichtshof)

Pflicht des Tatrichters zur erschöpfenden Beweiswürdigung: Geständnis und teilweise abweichende Zeugenaussage


Referenzen
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.