Landgericht Essen, Beschluss vom 26.07.2022, Az. 30 Qs-27 Js 1059/20-12/22

X. große Strafkammer | REWIS RS 2022, 9140

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Tenor

Auf die Beschwerde vom 05.07.2022 hin wird festgestellt, dass die Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 02.05.2022 (616 Ds-27 Js 1059/20-94/21) über den 04.07.2022 hinaus rechtswidrig war.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe

I.

Mit bei dem Strafrichter bei dem Amtsgericht Gelsenkirchen erhobener Anklage vom 15.03.2021 hat die Staatsanwaltschaft Essen dem Beschwerdeführer zur Last gelegt, im Oktober 2020 durch vier selbstständige Taten Diebstähle begangen (Fall 1) bzw. versucht (Fälle 2-4) zu haben, wobei er in 2 Fällen zur Tatausführung in einen Geschäftsraum eingebrochen sei (Fälle 1 und 2) und in 3 Fällen gewerbsmäßig gehandelt habe (Fälle 1, 3 und 4).

Im zunächst für den 29.11.2021 anberaumten und dann auf den 06.12.2021 verlegten Hauptverhandlungstermin erschien der Angeklagte in Begleitung seines Verteidigers. Er erklärte, zur Äußerung nicht bereit zu sein. Daraufhin wurde eine Vertagung der Hauptverhandlung beschlossen. Ein neuer Termin sollte von Amts wegen ergehen.

Mit Verfügung vom 14.03.2022 wurde Hauptverhandlungstermin bestimmt auf den 02.05.2022. Die Ladung wurde dem Beschwerdeführer am 17.03.2022 zugestellt. In dem anberaumten Termin erschien der Beschwerdeführer nicht. Sein Verteidiger und sein Bewährungshelfer – die zum Termin erschienen waren – erklärten, dass der Beschwerdeführer beabsichtigt habe, sich in eine Entzugsklinik zu begeben, wo er sich derzeit wohl befinde. Beide hätten ihn aufgefordert, darüber eine Bescheinigung zu erbringen.

Auf entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft wurde am 02.05.2022 ein Haftbefehl gemäß § 230 StPO erlassen, wozu ausgeführt wurde, dass eine Vorführung als milderes Mittel nicht in Betracht komme, zumal der Termin dem Beschwerdeführer lange vorher bekannt gewesen sei und er von seinem Verteidiger und seinem Bewährungshelfer aufgefordert worden sei, eine Bescheinigung über den Aufenthalt in einer Entzugsklinik einzureichen. Der letzte telefonische Kontakt zum Bewährungshelfer habe am 22.04.2022 stattgefunden.

Unter dem 12.05.2022 teilte der Verteidiger mit, dass der Beschwerdeführer wieder Kontakt zu ihm aufgenommen habe, und bat um Terminierung.

Am 22.06.2022 wurde der Beschwerdeführer bei dem Bundespolizeirevier der Bundespolizeiinspektion E vorstellig und daraufhin angesichts des in der vorliegenden Sache bestehenden Haftbefehls festgenommen. Im Rahmen der Haftbefehlsverkündung am 23.06.2022 erklärte er, sich am 28.04.2022 bei einer Entzugsklinik angemeldet zu haben und am 02.05.2022 von dort zurückgekommen zu sein. Er habe den Gerichtstermin „vertauscht“. Der Haftbefehl wurde verkündet und in Vollzug gesetzt.

Mit Verfügung vom 23.06.2022 wurde Hauptverhandlungstermin anberaumt auf den 04.07.2022. In diesem erklärte der Angeklagte wiederum, zu einer Äußerung nicht bereit zu sein. Die Hauptverhandlung wurde unterbrochen und Fortsetzungstermin anberaumt auf den 11.07.2022. Der Haftbefehl wurde mit Beschluss vom 04.07.2022 aufrechterhalten.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde vom 05.07.2022, mit der der Beschwerdeführer über seinen Verteidiger vortragen lässt, zwar am 02.05.2022, jedoch nicht am vorherigen Termin am 06.12.2021 der Hauptverhandlung unentschuldigt ferngeblieben zu sein. Eine Vorführung des Beschwerdeführers zum Termin am 04.07.2022 sei nicht versucht worden. Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls über den 04.07.2022 hinaus sei unverhältnismäßig.

Mit Beschluss vom 08.07.2022 hat das Amtsgericht der Beschwerde nicht abgeholfen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer sei zu dem Termin am 02.05.2022 ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen. Nach wie vor liege kein Nachweis über eine vor dem Termin erfolgte Entgiftung des Beschwerdeführers vor. Dieser behaupte nunmehr, den Termin vertauscht zu haben, weshalb er sich hätte am falschen Ort/Gericht befinden müssen, was offengeblieben sei. Noch zeitnah vor dem Termin habe der Beschwerdeführer Kontakt zu seinem Verteidiger und seinem Bewährungshelfer gehabt. Eine Verwechslung des Hauptverhandlungsortes erscheine daher fernliegend und hätte durch einen Anruf bei dem Verteidiger, dem Bewährungshelfer oder dem Gericht noch am Terminstag aufgeklärt werden können. Eine Vorführung zum Termin sei nicht ausreichend gewesen, zumal auf eine verlässliche Bekanntgabe des Aufenthaltsortes des Beschwerdeführers nicht ausreichend Verlass sei. Der Aufforderung zur Vorlage einer Bescheinigung über die Entgiftung durch seinen Verteidiger und seinen Bewährungshelfer sei er nicht nachgekommen. Ausschlaggebend für die Bewertung der Verhältnismäßigkeit sei der aktuelle Zustand, so dass es nicht darauf ankomme, ob der Beschwerdeführer einen Hauptverhandlungstermin am 06.12.2021 freiwillig eingehalten habe. Die Beweisaufnahme sei noch nicht abgeschlossen, weshalb der Haftbefehl auch weiterhin verhältnismäßig sei.

Nach Abschluss der Hauptverhandlung wurde der Haftbefehl am 11.07.2022 aufgehoben.

Mit Schriftsatz vom 14.07.2022 trägt der Verteidiger des Beschwerdeführers vor, aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung an der Beschwerde festzuhalten. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer keinen Nachweis über seinen Aufenthalt am 02.05.2022 erbracht habe, rechtfertige die Aufrechterhaltung des Haftbefehls bis zum Hauptverhandlungstermin am 04.07.2022, darüber hinaus jedoch nicht.

II.

Die Beschwerde gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 02.05.2022 über den 04.07.2022 hinaus ist zulässig, §§ 304, 305 S. 2 StPO.

Sie richtet sich, nachdem der angegriffene Haftbefehl unter dem 11.07.2022 aufgehoben wurde, auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 02.05.2022 über den 04.07.2022 hinaus (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 65. Auflage, Vor § 296, Rn. 18).

Die darauf gerichtete Beschwerde ist weiterhin zulässig, auch wenn sich der angegriffene Haftbefehl nach Einlegung des Rechtsmittels am 05.07.2022 durch Aufhebung am 11.07.2022 erledigt hat (KK/Gmel, 8. Auflage, § 230 StPO, Rn. 18). Insbesondere fehlt es der Beschwerde nicht an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Vielmehr bleibt die Beschwerde in Fällen tiefgreifender, tatsächlich jedoch nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe – wie vorliegend des Eingriffs in das Grundrecht auf Freiheit aus Art. 2 S. 2 GG – auch noch nach der Erledigung der Maßnahme zulässig (MüKo/Arnoldi, 1. Auflage, § 230 StPO, Rn. 19). Angesichts des hohen Stellenwerts des Grundrechts auf Freiheit hängt die Gewährung von Rechtsschutz im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise vor Beendigung der Haft erlangt werden kann (MüKo/Arnoldi, a.a.O. m.w.N.). Jedenfalls besteht die Zulässigkeit der Beschwerde fort, wenn der Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO – wie vorliegend – vor der Entscheidung des Beschwerdegerichts aufgehoben wird (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 18a).

Die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufrechterhaltung des Haftbefehls über den 04.07.2022 hinaus gerichtete Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht den Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren.

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht dabei ein Stufenverhältnis dahingehend, dass grundsätzlich zunächst zwingend das mildere Mittel – mithin die polizeiliche Vorführung – anzuordnen ist, da nur dieses dem verfassungsmäßigen Gebot gerecht wird, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen. Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig, etwa wenn feststeht, dass der Angeklagte auf keinen Fall erscheinen will. Greift das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls, muss aus seiner Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, aus denen ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Hiervon kann zudem nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zu Tage liegt und sich daher von selbst versteht (zum Vorstehenden insgesamt KG Berlin, Beschluss vom 19.07.2016, 4 Ws 104/16).

Davon ausgehend war bereits der Erlass des Haftbefehls vom 02.05.2022 – mithin auch seine Aufrechterhaltung über den 04.07.2022 – hinaus rechtswidrig. Vielmehr fehlt es bereits an der grundsätzlich zunächst zwingend anzuordnenden polizeilichen Vorführung des Beschwerdeführers zum Hauptverhandlungstermin, nachdem ein Ausnahmefall, der den sofortigen Erlass eines Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO rechtfertigen könnte, nicht gegeben ist. Soweit das Amtsgericht eine vorangehende polizeiliche Vorführung mit den Argumenten abgelehnt hat, dass der Termin dem Beschwerdeführer lange vorher bekannt gewesen sei und er von seinem Verteidiger und seinem Bewährungshelfer aufgefordert worden sei, eine Bescheinigung über seinen Aufenthalt in einer Entzugsklinik einzureichen, vermag dies einen Verzicht auf eine zunächst zu versuchende polizeiliche Vorführung nicht zu rechtfertigen. Vielmehr belegen die Kontakthaltung des Beschwerdeführers zu seinem Verteidiger und seinem Bewährungshelfer über den Zeitpunkt der Ladung zum Hauptverhandlungstermin hinaus sowie auch dessen Mitteilung, einen Aufenthalt in einer Entzugsklinik anzustreben gerade, dass eine polizeiliche Vorführung Erfolgsaussicht gehabt hätte. Angesichts des noch am 22.04.2022 – 10 Tage vor dem Termin – stattgehabten Kontaktes zu seinem Bewährungshelfer war nicht zu erwarten, dass eine Kontaktaufnahme zum Zweck der Ermittlung des Aufenthaltes des Beschwerdeführers nicht erfolgversprechend gewesen wäre. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer einen Nachweis über einen Aufenthalt in einer Entzugsklinik gegenüber seinem Verteidiger und seinem Bewährungshelfer nicht erbracht hat. Insbesondere führt dieser Umstand – ebenso wie die Angabe des Beschwerdeführers, den Termin vertauscht zu haben – nicht zur Annahme mangelnder Verlässlichkeit der Angaben des Beschwerdeführers in Bezug auf seinen Aufenthaltsort. Auch wenn der Beschwerdeführer seinen vorab angekündigten Klinikaufenthalt – hinsichtlich dessen eine Anschrift unschwer hätte auch ohne Erbringung des Nachweises erfragt werden können – nicht nachgewiesen hat und zur Zeit des anberaumten Hauptverhandlungstermins aufgrund einer Verwechslung an einem anderen Ort gewesen sein mag, ist nicht ersichtlich, warum er nicht am Terminstag vor Beginn des Termins in der Entzugsklinik oder an seiner ladungsfähigen Anschrift hätte zum Zweck der Vorführung angetroffen werden können.

Dessen ungeachtet war jedenfalls die Aufrechterhaltung des Haftbefehls über den 04.07.2022 hinaus nicht verhältnismäßig und damit rechtswidrig. Nachdem an jenem Tag ein Hauptverhandlungstermin durchgeführt worden war, in dem der Angeklagte bereits erklärt hatte, nicht zur Äußerung bereit zu sein, ist nicht ersichtlich, warum die Verhandlung im Falle der Abwesenheit des Angeklagten im Fortsetzungstermin am 11.07.2022 nicht hätte ohne ihn nach Maßgabe des § 231 Abs. 2 StPO fortgeführt werden können. Dann jedoch war der Vollzug des Haftbefehls zur Durchführung der Hauptverhandlung nicht im Sinne des § 230 Abs. 2 StPO geboten.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Meta

30 Qs-27 Js 1059/20-12/22

26.07.2022

Landgericht Essen X. große Strafkammer

Beschluss

Sachgebiet: Js

StPO § 230 Abs. 2

Zitier­vorschlag: Landgericht Essen, Beschluss vom 26.07.2022, Az. 30 Qs-27 Js 1059/20-12/22 (REWIS RS 2022, 9140)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 9140

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