Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 07.04.2021, Az. 2 B 10/21

2. Senat | REWIS RS 2021, 7177

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Gegenstand

Gehörsverstoß durch unterlassene Mitteilung und Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung wegen Mitwirkung eines nicht mehr zur Entscheidung berufenen ehrenamtlichen Richters


Leitsatz

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) wird verletzt, wenn das Gericht (Disziplinargericht), nachdem ihm (erst) in der Schlussberatung offenbar wird, dass ein nicht (mehr) zur Entscheidung berufener ehrenamtlicher Richter (Beamtenbeisitzer) mitgewirkt hat, es unterlässt, dies den Verfahrensbeteiligten mitzuteilen und ohne Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung das beratene Urteil verkündet.

Tenor

Das Urteil des [X.] vom 9. Oktober 2020 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

1

Die [X.]eschwerde des [X.]n hat mit der Maßgabe Erfolg, dass das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit gemäß § 41 Abs. 1 [X.] SH, § 69 [X.] und § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor. Die Verfahrensweise des [X.], den [X.]n nicht unverzüglich über den erst in der [X.] bekannt gewordenen Eintritt der ehrenamtlichen Richterin D. in den Ruhestand - bereits mit Ablauf des Monats Januar 2019 - zu informieren und diesen Umstand erst im [X.]erufungsurteil offenzulegen, hat das Recht des [X.]n auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Vor der Entscheidung über die [X.]erufung des [X.]n hätte das [X.]erufungsgericht diesem vielmehr Gelegenheit zur Stellungnahme geben und dementsprechend die [X.]erufungsverhandlung wiedereröffnen müssen. Innerhalb der hiermit zwangsläufig verbundenen Unterbrechung des Verfahrens hätte das Oberverwaltungsgericht die ehrenamtliche Richterin D. von ihrem Amt entbinden müssen und können. Dadurch hätte es der gesetzlichen Vorgabe genügt, dass in einem [X.]verfahren nur solche [X.]eamte als [X.]eamtenbeisitzer in [X.]etracht kommen, die zum klagenden Dienstherrn in einem aktiven [X.]eamtenverhältnis stehen.

2

1. Der 1962 geborene [X.] steht als Studienrat im Dienst des [X.]. Am 26. Juni 2013 wurde der [X.] in [X.]/[X.] bei der Einreise in die [X.] mit der [X.]egründung verhaftet, zum Zwecke der Aufnahme sexueller Kontakte mit unter 12-jährigen Kindern in die [X.] eingereist zu sein. Anfang Oktober 2014 wurde der [X.] aufgrund eines entsprechenden [X.] durch den US District Court [X.]/[X.] zu einer Freiheitsstrafe von 189 Monaten verbunden mit einer anschließenden lebenslangen "Führungsaufsicht" verurteilt. Aufgrund der Informationen der [X.] Strafverfolgungsbehörden leitete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen den [X.]n ein. In dessen Rahmen wurden mehrere Speichermedien des [X.]n sichergestellt und auf kinderpornographische Schriften untersucht. Mitte Juni 2016 erhob der Kläger [X.] zum einen wegen des Vorwurfs, der [X.] habe den Versuch unternommen, im Ausland Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren sexuell zu missbrauchen. Für seinen geplanten Aufenthalt in [X.] vom 26. bis zum 30. Juni 2013 habe er für einen [X.]etrag von 1 025 $ mehrere Mädchen für sich "bestellt", die bestimmten Kindern aus kinderpornographischen Serien ähneln sollten. [X.]ei seiner Landung in den [X.] habe er in seinem Gepäck Damenunterwäsche in sehr kleinen Größen, Fesselungsutensilien und eine Augenbinde gehabt. Gegenstand der [X.] ist zum anderen der Vorwurf, in der [X.] vom 9. März 2005 bis zur [X.]eschlagnahme am 8. August 2013 insgesamt 944 kinderpornographische Schriften besessen zu haben.

3

Das Verwaltungsgericht hat den [X.]n aus dem [X.]eamtenverhältnis entfernt. Im ersten [X.]erufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht das Verfahren durch [X.]eschluss vom 14. November 2019 aufgrund von § 41 Abs. 1 Satz 1 [X.] SH sowie §§ 56 und 65 Abs. 1 Satz 1 [X.] beschränkt und den Vorwurf, den Versuch unternommen zu haben, im Ausland Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren sexuell zu missbrauchen, sowie den Vorwurf des [X.]esitzes von 256 Posing-[X.]ildern aus dem Verfahren ausgeschieden. Die [X.]erufung des [X.]n hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Dieses erste [X.]erufungsurteil hat das [X.] durch [X.]eschluss vom 18. Juni 2020 ([X.]VerwG 2 [X.]) wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Unmittelbarkeit der [X.]eweisaufnahme aufgehoben; die Sache wurde zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

4

Im zweiten [X.]erufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht durch Einnahme eines Augenscheins [X.]eweis erhoben über den Inhalt der beim [X.]n beschlagnahmten [X.]ild- und Videodateien. Ferner hat es durch den in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2020 verkündeten [X.]eschluss seinen [X.]eschränkungsbeschluss vom 14. November 2019 hinsichtlich des unter Punkt 2. der Klageschrift vorgeworfenen [X.]esitzes kinderpornographischer Schriften geändert und 374 [X.]ilder ausgeschieden, die gemäß Protokoll der [X.]eweisaufnahme vom 5. und 6. Oktober 2020 der Kategorie 1 ("sonstige [X.]ilder, ohne Eindringen oder [X.]erühren") zugeordnet worden sind; im Übrigen hat es den [X.]eschluss vom 14. November 2019 aber aufrechterhalten. Durch das hier angegriffene zweite [X.]erufungsurteil hat es die [X.]erufung des [X.]n gegen das Urteil des [X.] wiederum zurückgewiesen. Zur [X.]egründung hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, durch sein außerdienstliches Verhalten, das den Straftatbestand des vorsätzlichen [X.]esitzes von kinderpornographischen Schriften nach § 184b Abs. 4 StG[X.] in der Fassung vom 31. Oktober 2008 erfülle, habe der [X.] als Lehrer an einer allgemeinbildenden Schule das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren.

5

2. Die Verfahrensrügen des [X.]n, das [X.]erufungsgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und das [X.]erufungsgericht sei bei der Entscheidung über die [X.]erufung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, sind begründet.

6

Das Recht auf rechtliches Gehör gewährleistet, dass der Einzelne nicht bloßes Objekt des Verfahrens ist, sondern vor einer seine Rechte betreffenden Entscheidung zu Wort kommt, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können. Das Recht auf Äußerung im Verfahren setzt voraus, dass der [X.]eteiligte überhaupt über die hierfür erforderlichen Informationen verfügt. Dementsprechend ist das Gericht verpflichtet, die [X.]eteiligten über alle für die Entscheidungsfindung relevanten Aspekte zu unterrichten. Denn nur aufgrund der rechtzeitigen und umfassenden Information ist der [X.]eteiligte zum sachgerechten Vortrag und damit zur Wahrung seiner Rechte in der Lage. In der Rechtsprechung des [X.] ist geklärt, dass die [X.]eteiligten in der Lage sein müssen, sich über den gesamten Verfahrensstoff zu informieren ([X.], [X.]eschlüsse vom 29. Mai 1991 - 1 [X.]vR 1383/90 - [X.]E 84, 188 <190>, vom 19. Mai 1992 - 1 [X.]vR 986/91 - [X.]E 86, 133 <144> und vom 8. Juni 1993 - 1 [X.]vR 878/90 - [X.]E 89, 28 <35>). Dies gilt auch für die Frage der ordnungsgemäßen [X.]esetzung der Richterbank mit ehrenamtlichen Richtern (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 11. Februar 2013 - 2 [X.] 58.12 - [X.] 235.1 § 48 [X.] Nr. 2 Rn. 12, 15).

7

Unmittelbar nach Mitteilung der ehrenamtlichen Richterin in der [X.], sie sei bereits in den Ruhestand versetzt, hätte das Oberverwaltungsgericht die [X.]eteiligten auf diesen Umstand hinweisen müssen (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 11. Juli 2018 - 2 [X.] 41.18 - [X.] 235.2 LDisziplinarG Nr. 57 Rn. 5). Denn der Eintritt in den Ruhestand betrifft unmittelbar die Frage der vorschriftsmäßigen [X.]esetzung des erkennenden Gerichts, der besondere [X.]edeutung zukommt (vgl. § 138 Nr. 1 VwGO). Zu diesem Aspekt hätte der [X.] angehört werden müssen, weil er einen Anspruch auf [X.]eachtung der gesetzlichen Vorgaben zur [X.]esetzung der Richterbank hat (vgl. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).

8

Aus § 41 Abs. 1 Satz 1 [X.] SH und § 50 Abs. 1 Nr. 4 [X.] folgt, dass an einem Disziplinarurteil nur solche Personen als [X.]eamtenbeisitzer mitwirken dürfen, die zum [X.]punkt des Urteils zu dem betreffenden Dienstherrn in einem aktiven [X.]eamtenverhältnis stehen. Die Systematik des [X.]undesdisziplinargesetzes - § 1 Satz 1 und § 2 Abs. 1 und 2 - belegt, dass [X.]eamtenbeisitzer nur ein auf Lebenszeit ernannter aktiver [X.]eamter sein kann; Ruhestandsbeamte werden demgegenüber gesondert erwähnt (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 16. September 2011 - 10 P 2/11 - NVwZ-RR 2012, 246).

9

Zum [X.]punkt der Mitteilung der [X.]eamtenbeisitzerin über ihren Eintritt in den Ruhestand war die mündliche Verhandlung bereits nach § 104 Abs. 3 Satz 1 VwGO geschlossen. Dementsprechend hätte die Vorsitzende des [X.]erufungssenats die mündliche Verhandlung zum Zwecke der Information des [X.]n und damit zur Vermeidung der Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 173 Satz 1 VwGO und § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wiedereröffnen müssen.

Da das Gesetz durch § 41 Abs. 1 Satz 1 [X.] SH und § 50 Abs. 1 Nr. 4 [X.] vorgibt, dass in den Ruhestand versetzte [X.]eamte nicht als [X.]eamtenbeisitzer an einem Disziplinarurteil mitwirken dürfen, hätte das Oberverwaltungsgericht in dem [X.]raum, der dem [X.]n zur Stellungnahme zur Frage des Ausschlusses der ehrenamtlichen Richterin von der Funktion des [X.]eamtenbeisitzers hätte eingeräumt werden müssen, die Entscheidung des nach § 41 Abs. 1 Satz 1 [X.] SH, § 50 Abs. 3 [X.] und § 24 Abs. 3 VwGO zuständigen Senats des [X.] über die zwingende Entbindung der ehrenamtlichen Richterin von ihrem Amt als [X.]eamtenbeisitzern herbeiführen müssen.

Die Entbindung obliegt dabei gerade dem für Disziplinarsachen (Land) zuständigen 14. Senat des [X.]erufungsgerichts. Die Voraussetzungen für die Entbindung der in den Ruhestand getretenen [X.]eamtenbeisitzerin hat das [X.] wegen durch eigene Maßnahmen zu klären, hier konkret durch eine unmittelbare Nachfrage beim Dienstherrn der ehrenamtlichen Richterin, dem [X.], vertreten durch die personalverwaltende Stelle, hier das [X.] Diese [X.]ehörde ist zugleich Kläger des gerichtlichen Disziplinarverfahrens.

Meta

2 B 10/21

07.04.2021

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 9. Oktober 2020, Az: 14 LB 1/19, Urteil

§ 24 Abs 3 VwGO, § 104 Abs 3 S 1 VwGO, § 108 Abs 2 VwGO, § 133 Abs 6 VwGO, § 138 Nr 1 VwGO, § 173 S 1 VwGO, § 156 Abs 2 Nr 1 ZPO, § 1 S 1 BDG, § 2 Abs 1 BDG, § 2 Abs 2 BDG, § 50 Abs 1 Nr 4 BDG, § 50 Abs 3 BDG, § 41 Abs 1 S 1 DG SH 2003, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 07.04.2021, Az. 2 B 10/21 (REWIS RS 2021, 7177)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 7177

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