Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 04.05.2022, Az. 2 BvL 1/22

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2022, 73

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungsmäßigkeit des § 193 Abs 6 S 2 VVG (Säumniszuschlag von 1 % bei Rückstand des Versicherungsnehmers mit der Prämienzahlung) - unzureichende Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit sowie zur verfassungsrechtlichen Beurteilung - insb unzureichende Darlegung, dass § 193 Abs 6 S 2 VVG mit § 233a Abs 1 AO (hierzu BVerfGE 158, 282) vergleichbar sei


Tenor

Die Vorlage ist unzulässig.

Gründe

1

Die Vorlage betrifft die Frage, ob die Vorschrift des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] ([X.]) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als der Versicherungsnehmer für jeden angefangenen Monat eines [X.] einen Säumniszuschlag in Höhe von 1 Prozent des [X.] zu entrichten hat.

2

1. Die Vorschrift des § 193 [X.], dessen Absatz 6 Satz 2 das [X.] für verfassungswidrig hält, hat in der Fassung des [X.] und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen ([X.]) vom 23. Dezember 2016 ([X.] 3234), in [X.] getreten am 1. Januar 2020, folgenden, seitdem unveränderten Wortlaut:

(1)

(…)

(3)

(…)

(6)

(7)

3

2. a) Im Steuerrecht enthält § 240 der Abgabenordnung ([X.]) eine Regelung, die einen Säumniszuschlag zum Gegenstand hat:

(1)

(…)

4

b) Darüber hinaus regelt § 233a [X.] die Verzinsung von [X.] und Steuererstattungen:

(1)

(2)

(…)

5

Zur Höhe der nach § 233a [X.] fällig werdenden Zinsen bestimmt § 238 [X.]:

(1)

(…)

6

c) Der Erste Senat des [X.] erklärte mit Beschluss vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 [X.] für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 ein Zinssatz von einhalb Prozent für jeden Monat zugrunde gelegt wird. Die Anwendung der Vorschriften führe zu einer verfassungsrechtlich relevanten Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Steuerpflichtigen, die dem Fiskus aufgrund einer Steuerfestsetzung einen bestimmten Steuerbetrag schuldeten. Steuerschuldner, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt werde, würden gegenüber Steuerschuldnern, deren Steuer innerhalb der Karenzzeit festgesetzt werde, ungleich behandelt (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 -, Rn. 103). Das bisherige Recht erklärte der Erste Senat des [X.] für bis einschließlich in das [X.] fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen.

7

3. Der Vorlage liegt eine zivilrechtliche Streitigkeit zugrunde.

8

Nach erfolgloser Durchführung eines Mahnverfahrens begehrte die Klägerin, ein Versicherungsunternehmen in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft, vor dem [X.] von dem beklagten Versicherungsnehmer (im Folgenden: [X.]r) die Zahlung rückständiger Prämienbeiträge in Höhe von 4.784,15 Euro nebst Säumniszuschlägen nach § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.]. Diese resultierten nach dem Vortrag der Klägerin aus einer privaten Krankenversicherung, die der Erfüllung der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 Satz 1 [X.] diente.

9

Nach Abschluss eines Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens führte das [X.] mit Verfügung vom 2. August 2021 das schriftliche Vorverfahren durch und forderte den [X.]n auf, seine Verteidigungsabsicht binnen zwei Wochen ab Zustellung der Anspruchsbegründung anzuzeigen und innerhalb einer Frist von weiteren zwei Wochen nach Zustellung der Anspruchsbegründung auf diese schriftlich zu erwidern.

Mit Beschluss vom 14. September 2021 sowie Ergänzungsbeschluss vom 21. Dezember 2021 hat das Amtsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem [X.] die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] mit dem Grundgesetz vereinbar und deshalb gültig ist.

1. Die aufgeworfene Frage sei entscheidungserheblich. Falls § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] verfassungskonform sei, müssten der Klägerin die Säumniszuschläge wie beantragt zugesprochen werden. Für den Fall der Ungültigkeit des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] habe das Gericht der Klägerin keine Säumniszuschläge in der geforderten Höhe zuzusprechen, sondern nur denjenigen Prozentsatz, der nicht auf die Zinsen entfalle. Das Gericht gehe hierbei von 0,5 % pro Monat aus, weshalb der Tenor entsprechend anders ausfiele.

2. Die Regelung des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Der allgemeine gleichheitsrechtliche Maßstab finde auch bei der Auswahl des Zinsgegenstands und der Bestimmung des Zinssatzes Anwendung. Es bestehe eine Ungleichbehandlung zwischen zinszahlungspflichtigen Steuernachzahlern und säumniszuschlagszahlungspflichtigen Versicherungsnehmern seit dem [X.]. Säumniszuschläge seien wie Nachzahlungszinsen Zinsen, weil sie eine spezielle Form der Verzugszinsen darstellten. Der Säumniszuschlag verfolge das Ziel, den Bürger zur zeitnahen Erfüllung seiner Zahlungspflichten anzuhalten. Neben einer Straffunktion sei aber auch eine angemessene Verzinsung der Forderung gewollt, weil Säumniszuschläge einen Gegenleistungscharakter für das Hinausschieben fälliger Beiträge hätten. Überdies würden damit Mehrkosten (wie Mahn- und Überwachungsarbeiten) abgegolten. Bei dem im Säumniszuschlag enthaltenen Zinsanteil werde jedoch - anders als bei den zinszahlungspflichtigen Steuernachzahlern - das strukturelle [X.] seit 2014 nicht berücksichtigt.

3. Die Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt. Nach den Grundsätzen der Entscheidung des [X.] des [X.] vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - bemesse sich die Rechtfertigung der Benachteiligung der säumniszuschlagspflichtigen Versicherungsnehmer nach strengeren Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Der typisiert festgelegte starre Säumniszuschlag von monatlich 1 % beziehungsweise der darin enthaltene starre Zinsanteil erweise sich im Laufe der [X.] unter veränderten tatsächlichen Bedingungen ebenfalls und "erst recht" spätestens seit dem [X.] trotz der grundsätzlichen [X.] des Gesetzgebers als evident realitätsfern.

4. Der Änderung des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] liege das Bestreben des Gesetzgebers zugrunde, die Anpassung der Beiträge für die Gesamtheit der privat Krankenversicherten nach oben zu verhindern. Ausweislich der "Systematik der §§ 238, 249 [X.]" enthalte der Säumniszuschlag einen Zinsanteil von 0,5 Prozentpunkten. Mangels detaillierter Aufschlüsselung der Zusammensetzung des [X.] bei § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] sei von einem gleichen Anteil auszugehen. Schließlich führt das Amtsgericht aus, dass Säumniszuschläge eine Besserstellung von Beitragspflichtigen, die ihre Beiträge verspätet zahlten, verhindern sollten. Es gehe um die Vermeidung von Zinsvorteilen. Allerdings habe auch der Versicherungsnehmer seit 2014 keine Zinsvorteile mehr. Ein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Erreichung des Gesetzeszwecks sei daher die Herabsetzung des [X.] auf 0,5 Prozentpunkte.

Die Vorlage ist unzulässig.

Sie genügt den aus § 80 Abs. 2 Satz 1 [X.]G folgenden Begründungsanforderungen nicht.

1. Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des [X.] einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 [X.]G genügt ein Vorlagebeschluss nur, wenn die Ausführungen des Gerichts erkennen lassen, dass es sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. [X.]E 127, 335 <355 f.>; stRspr). Hierfür muss das vorlegende Gericht in nachvollziehbarer und für das [X.] nachprüfbarer Weise darlegen, dass es bei seiner anstehenden Entscheidung auf die Gültigkeit der Norm ankommt, und aus welchen Gründen es von der Unvereinbarkeit der Norm mit der Verfassung überzeugt ist (vgl. [X.]E 105, 61 <67>; 141, 1 <10 f. Rn. 22>; stRspr). Für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist (vgl. [X.]E 2, 181 <190 f.>; 105, 61 <67>; 129, 186 <203>; 133, 1 <11 Rn. 35>; 138, 136 <171 Rn. 92>; 141, 1 <11 Rn. 22>).

Das vorlegende Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm überzeugt sein und die für diese Überzeugung maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar darlegen (vgl. [X.]E 78, 165 <171 f.>; 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 93, 121 <132>; 141, 1 <11 Rn. 23>). Der Vorlagebeschluss muss den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angeben, die naheliegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte erörtern, sich sowohl mit der [X.] als auch mit der verfassungsrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, dabei die in der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen und insbesondere auf die maßgebliche Rechtsprechung des [X.] eingehen (vgl. [X.]E 76, 100 <104>; 79, 240 <243 f.>; 86, 52 <57>; 86, 71 <77 f.>; 88, 198 <202>; 94, 315 <325>), wobei § 80 Abs. 2 Satz 1 [X.]G das vorlegende Gericht allerdings nicht verpflichtet, auf jede denkbare Rechtsauffassung einzugehen (vgl. [X.]E 141, 1 <11 Rn. 22>).

2. Diesen Vorgaben genügt die Vorlage in gleich zweifacher Hinsicht nicht.

a) Das Amtsgericht hat nicht nachvollziehbar dargetan, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] im derzeitigen Verfahrensstadium entscheidungserheblich ist.

aa) Wenn ein Gericht, das nach seiner Stellung im Aufbau der Gerichte dazu berufen ist, die für die Rechtsfindung erheblichen Tatsachen zu ermitteln, und dem die Rechtsordnung hierzu die prozessualen Mittel zur Verfügung stellt, dem [X.] einen Tatsachenkomplex zur rechtlichen Beurteilung unterbreitet, so muss es unter Abwägung des Für und Wider zu einer exakten Tatsachenfeststellung gelangen und in einer für das [X.] nachprüfbaren Weise im Einzelnen die Tatsachen und Erwägungen angeben, die für seine Überzeugung maßgebend sind (vgl. [X.]E 17, 135 <138 f.>; 18, 186 <192>; 58, 153 <158>). In einem Zivilverfahren ist das vorlegende Gericht daher gehalten, die Tatsachen - soweit möglich und unter Beachtung des Dispositionsgrundsatzes - aufzuklären und die Entscheidungsreife der Sache herbeizuführen.

Die Vorlage lässt nicht erkennen, ob oder dass der Sachverhalt vollständig aufgeklärt und die erforderlichen Beweise erhoben worden sind, die Sache mithin entscheidungsreif ist. Das Amtsgericht legt insbesondere nicht dar, ob der [X.] die für das Bestehen eines Anspruches erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen zugestanden hat, oder das Gericht aufgrund durchgeführter Beweisaufnahme zu eben jener Überzeugung gelangt ist (vgl. § 286 ZPO), dass die vorbezeichneten Tatsachen feststehen. Es ist nicht Aufgabe des [X.], sich den Sachverhalt erst durch Auswertung der Akten des Ausgangsverfahrens zu erarbeiten, sondern es ist vielmehr in die Lage zu versetzen, nur anhand des [X.] entscheiden zu können, ob die Verfassungskonformität einer gesetzlichen Regelung aus Sicht des vorlegenden Gerichtes entscheidungserheblich ist (vgl. [X.]E 66, 265 <268 f.>).

bb) Das Amtsgericht subsumiert zudem nicht unter die zur Überprüfung gestellte Regelung des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] (vgl. dazu etwa [X.]/Maischein, r+s 2012, [X.] zu § 193 Abs. 6 Satz 8 [X.] a.F.). Insbesondere wird nicht erkennbar, welche Tatbestandsmerkmale vom Amtsgericht als erforderlich und erfüllt angesehen werden. Dies gilt maßgeblich für das Erfordernis des Verzugs und des [X.], über das in der Literatur Streit besteht (ein Vertretenmüssen für erforderlich ansehend etwa [X.], in: [X.], [X.], 3. Aufl. 2016, § 193 Rn. 29; [X.]/[X.], [X.], [X.]93 <603>; Brand, [X.], S. 1337 <1341>; [X.], r+s 2011, [X.]>; [X.], ZfS 2021, [X.]54 <555>; dagegen [X.], [X.], 2010, § 193 [X.] Rn. 155; [X.], in: [X.][X.], [X.], 31. Aufl. 2021, § 193 Rn. 40; [X.]/Maischein, r+s 2012, [X.] <479>), zu dem das Amtsgericht aber nicht Stellung bezieht. Das [X.] kann daher auch aus diesem Grund nicht beurteilen, ob die Entscheidungserheblichkeit aus der insoweit maßgeblichen Sicht des Amtsgerichts nachvollziehbar bejaht wurde.

cc) Im Übrigen ist nicht hinreichend nachvollziehbar dargelegt, wie das Amtsgericht im Falle der Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] zu der Annahme gelangt, es werde dann 0,5 % Zinsen zuzusprechen haben. Der bloße Rekurs auf "§§ 238, 249 [X.]" (richtig: §§ 238, 240 [X.]) vermag dies nicht hinreichend zu begründen. Die Frage nach der Höhe des im Säumniszuschlag etwaig vorhandenen Zinses ist gerade auch im Steuerrecht ungeklärt (vgl. dazu Romswinkel, StB 2021, S. 101 <102 f.>), weshalb eine intensivere Auseinandersetzung über das Ob und die Höhe des im Säumniszuschlag enthaltenen Zinsteils hätte stattfinden müssen.

b) Auch die Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm genügen den Vorgaben des § 80 Abs. 2 Satz 1 [X.]G nicht. Das Amtsgericht stellt nicht hinreichend dar, weshalb es von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt ist.

aa) Soweit es von einer Ungleichbehandlung "zwischen zinszahlungspflichtigen Steuernachzahlern und säumniszuschlagszahlungspflichtigen Versicherungsnehmern seit dem [X.]" ausgeht, fehlt es an der Herausarbeitung eines mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG gleichheitsrechtlich relevanten Bezugspunktes. Das Amtsgericht geht davon aus, dass die auf Steuerpflichtige einerseits und Versicherungsnehmer andererseits jeweils Anwendung findenden Normen des § 233a Abs. 1 [X.] und des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] derart miteinander vergleichbar sind, dass sich aus der Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 233a Abs. 1 [X.] "erst recht" eine Verfassungswidrigkeit des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] ergibt. Dafür fehlt es an einer tragfähigen Begründung.

(1) Ausgangspunkt der in der Entscheidung des [X.] vom 8. Juli 2021 als verfassungswidrig angesehenen Ungleichbehandlung war die in § 233a Abs. 2 Satz 1 [X.] geregelte fünfzehnmonatige Karenzzeit, welche nach Ansicht des [X.] zu einer verfassungsrechtlich relevanten Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Steuerpflichtigen führt (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 -, Rn. 103); nämlich derjenigen Steuerschuldner, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit (zutreffend) festgesetzt wurde, gegenüber denjenigen, deren Steuer bereits innerhalb der Karenzzeit endgültig festgesetzt wurde, mithin eine Ungleichbehandlung zinszahlungspflichtiger gegenüber nicht zinszahlungspflichtigen Steuerschuldnern (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 -, Rn. 104). Dabei spielte die Frage, ob ein Zinssatz von monatlich 0,5 % den durch eine [X.] zulasten der Steuerpflichtigen auszugleichenden Vorteil der Höhe nach [X.] abbildet, erst in der anschließenden Rechtfertigungsprüfung nach strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen eine Rolle (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juli 2021, - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 -, Rn. 103 ff.).

(2) Das Amtsgericht hätte darlegen müssen, inwieweit Versicherungsnehmer im Hinblick auf diese Konstellation mit Steuerpflichtigen vergleichbar sind. Es fehlt vor diesem Hintergrund bereits an einer hinreichenden einfach-rechtlichen Auseinandersetzung sowohl mit der vorgelegten Regelung des § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] als auch mit der ihr gegenübergestellten Vorschrift des § 233a Abs. 1 [X.]. Damit wird die für einen "Erst-Recht-Schluss" erforderliche Vergleichbarkeit beider Normen und somit der ihnen unterfallenden Personengruppen nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

(a) Die nach § 233a [X.] geregelte [X.] soll stark typisierend objektive Zins- und [X.] erfassen, die dadurch entstehen, dass zwischen Entstehung des Steueranspruchs und seiner Fälligkeit nach Festsetzung ein [X.]raum von mehreren Jahren liegen kann (vgl. [X.], in: [X.]/[X.]/Wagner, BeckOK [X.], § 233a Rn. 1 ). Nachzahlungszinsen sind dementsprechend - anders als etwa ein Verspätungszuschlag - weder Sanktion noch Druckmittel (vgl. insoweit BTDrucks 8/1410, S. 4; BTDrucks 19/20836, [X.]), sondern ein Ausgleich für die Kapitalnutzung (vgl. BTDrucks 8/1410, S. 4; [X.] 324/18, [X.]). Die [X.] hat keine zusätzliche Lenkungsfunktion dahingehend, die Steuerpflichtigen dazu anzuhalten, ihre Steuererklärungen frühzeitig abzugeben oder etwaige Vorauszahlungen angemessen anzusetzen (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 -, Rn. 126). Die Regelung wirkt sowohl zugunsten (im Fall der Steuererstattung) wie zuungunsten (im Fall der [X.]) der Steuerpflichtigen. Darauf, ob sie tatsächlich einen Zinsvorteil oder -nachteil durch die späte Steuerfestsetzung erzielt haben, kommt es nicht an. Auch die Gründe für die späte Steuerfestsetzung und insbesondere, ob die Steuerpflichtigen oder die Behörde hieran ein Verschulden trifft, sind für die Anwendung des § 233a [X.] unerheblich ([X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 -, Rn. 7).

(b) Der in § 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] geregelte Säumniszuschlag tritt demgegenüber seinem Sinn und Zweck nach an die Stelle der Möglichkeit des Versicherers, für den [X.] nach den allgemeinen Bestimmungen zu verlangen (§ 286 Abs. 1, § 288 [X.]; hierauf reduzierend Brand, in: [X.], [X.], 9. Aufl. 2020, § 93 Rn. 72). Er nimmt daher zunächst die Rolle eines Bereicherungsausgleichs, aber auch eines Druckmittels ein, dem eine "verhaltenssteuernde Wirkung" zukommt (zu dem allgemeinen Zweck der Verzinsung von Geldschulden vgl. [X.], in: [X.], BeckOGK Zivilrecht, § 288 [X.] Rn. 2 ff. ; [X.], in: [X.], [X.], 18. Aufl. 2021, § 288 Rn. 1). Der vergleichsweise hohe Säumniszuschlag erfüllt zudem eine pönale Funktion (wiederum zu den allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Bestimmungen [X.], in: [X.]/Langen, [X.] Schuldrecht, 4. Aufl. 2021, § 288 Rn. 2 zu [X.] im unternehmerischen Verkehr).

§ 193 Abs. 6 Satz 2 [X.] verfolgt daher das Ziel - wovon das Amtsgericht selbst ausgeht -, den Bürger zur zeitnahen Erfüllung seiner Zahlungsverpflichtungen anzuhalten und die Verletzung eben jener Verpflichtungen zu sanktionieren. Die Abschöpfung von [X.]n ist damit nicht Haupt-, sondern allenfalls [X.] der Regelung. Gerade anders als im Steuerrecht ist der Säumniszuschlag die Folge einer dem Versicherungsnehmer zurechenbaren Pflichtverletzung, der Nichtzahlung der Prämien trotz Fälligkeit und Einredefreiheit. Das Amtsgericht wäre daher gehalten gewesen, sich dezidiert mit Sinn und Zweck des [X.] auseinanderzusetzen. Dabei hätte es insbesondere die Frage in den Blick nehmen müssen, ob ein Vertretenmüssen tatbestandliche Voraussetzung eines Anspruchs auf Zuerkennung von Säumniszuschlägen ist (vgl. dazu oben Rn. 23). Allein hierdurch würde sich der Säumniszuschlag ganz wesentlich von der Verzinsung nach § 233a [X.] unterscheiden.

(c) Schließlich setzt sich das Amtsgericht nicht mit dem Grund für eine vergleichsweise hohe Verzinsung im Kontext versicherungsrechtlicher Besonderheiten auseinander. Der in § 193 Abs. 6 [X.] geregelte Mechanismus tritt aufgrund der Bedeutung des [X.] für den Versicherungsnehmer an die Stelle des sonst bei Zahlungsverzug bestehenden Kündigungsrechts des Versicherers nach § 38 Abs. 3 [X.] (vgl. dazu [X.], in: [X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2015, § 193 [X.] Rn. 75). Eine ordentliche wie außerordentliche Kündigung des Versicherers ist in diesen Fällen nach § 206 Abs. 1 Satz 1 [X.] ausgeschlossen. Dem Versicherer fehlt daher trotz andauernder Verletzung der Hauptleistungspflichten durch den Versicherungsnehmer die Möglichkeit, sich durch die Ausübung eines Gestaltungsrechts vom Vertrag zu lösen. Er muss stattdessen den Versicherungsvertrag im Notlagentarif fortsetzen (vgl. § 193 Abs. 7 [X.] i.V.m. § 153 [X.]) und weitere Leistungen erbringen, weshalb es für ihn (so etwa [X.], in: [X.]/Matusche-[X.], [X.], 3. Aufl. 2015, § 44 Rn. 224) und letztlich die gesamte Versichertengemeinschaft von gesteigertem Interesse ist, den Versicherungsnehmer zu der Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten (vgl. [X.], in: [X.] Kommentar zum [X.], 2. Aufl. 2017, § 193 Rn. 4).

bb) Das Amtsgericht legt zudem nicht dar, warum eine Vergleichbarkeit mit Säumniszuschlägen gemäß § 240 [X.] nicht in Betracht kommt. Die Rechtsprechung der Finanzgerichte hält § 240 [X.] für verfassungsgemäß und lehnt eine Übertragung der verfassungsrechtlichen Bedenken zu § 233a [X.] auf § 240 [X.] einheitlich ab (vgl. [X.], Beschluss vom 29. Mai 2020 - 12 V 901/20 [X.] -, juris, Rn. 28 ff.; Urteil vom 4. Februar 2021 - 10 K 1672/19 U -, juris, Rn. 49; [X.], Urteil vom 1. Oktober 2020 - 2 K 11/18 -, juris, Rn. 26 ff.; [X.], Urteil vom 22. April 2021 - 12 K 1420/20 [X.] -, juris, Rn. 9). Der [X.]. Senat des [X.] hat demgegenüber in einem Beschluss vom 26. Mai 2021 (- [X.] B 13/21 (AdV) -, juris, Rn. 13 f.) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des [X.] zu § 233a [X.] (vgl. [X.], 431 <435 ff. Rn. 16 ff.>; BFH, Beschluss vom 3. September 2018 - [X.]I B 15/18 -, juris, Rn. 12 ff.; Beschluss vom 11. Februar 2020 - [X.]I B 131/19 -, juris, Rn. 29) verfassungsrechtliche Bedenken geäußert. Derzeit sind mehrere Revisionsverfahren beim [X.] zur Klärung dieser Grundsatzfrage anhängig (BFH, anhängige Verfahren: - [X.] R 55/20 -, juris; - [X.] R 19/21 -, juris, erledigt durch Abgabe an einen anderen Senat, neues Aktenzeichen: - [X.]/21 -, juris; - [X.] R 21/21 -, juris).

Die Kammer kann die Unzulässigkeit der Vorlage durch einstimmigen Beschluss feststellen (§ 81a Satz 1 [X.]G).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvL 1/22

04.05.2022

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvL

vorgehend AG Wiesbaden, 14. September 2021, Az: 92 C 1252/21 (13), Vorlagebeschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 100 Abs 1 S 1 Alt 2 GG, § 80 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 233a Abs 1 S 1 AO 1977, § 193 Abs 6 S 2 VVG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 04.05.2022, Az. 2 BvL 1/22 (REWIS RS 2022, 73)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 73

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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