Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.03.2014, Az. 2 BvR 2598/13

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2014, 7068

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Grundrechts auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) durch die unzureichende Prüfung der Voraussetzungen einer vorläufigen Aussetzung von Disziplinarmaßnahmen – zu den Voraussetzungen der Annahme einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache für den Eilrechtsschutz im Bereich des Strafvollzugs


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 19. November 2013 - 50 [X.] - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.

Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits an das [X.] zurückverwiesen.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Disziplinarmaßnahme im Strafvollzug.

I.

2

1. Nachdem im Haftraum des sehbehinderten strafgefangenen Beschwerdeführers in einer Mappe drei an Mitgefangene gerichtete behördliche und gerichtliche Schreiben gefunden worden waren, verhängte die Justizvollzugsanstalt am 13. November 2013 gegen den Beschwerdeführer als Disziplinarmaßnahme einen Ausschluss von gemeinschaftlichen Veranstaltungen und die getrennte Unterbringung während der Freizeit von zehn Tagen, weil der Beschwerdeführer gegen § 76 Abs. 1 [X.] verstoßen - die Schreiben also ungenehmigt in seinem Gewahrsam gehabt - habe. Die Vollstreckung der Disziplinarmaßnahme begann am selben Tag.

3

Gleichfalls unter dem 13. November 2013 stellte der Beschwerdeführer Antrag auf "Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 [X.]" sowie Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Disziplinarmaßnahme. Die Mitgefangenen hätten ihm die Schreiben vorgelesen und sie dann lediglich bei ihm vergessen und dies auch übereinstimmend ausgesagt. Ihm sei, als er seine eigenen Unterlagen in die Mappe geräumt habe, nicht bewusst gewesen, dass sich darunter auch die Schreiben an die Mitgefangenen befunden hätten. Eine Abgabe von Sachen im Sinne des § 76 [X.] habe daher nicht stattgefunden. Für die gegenteilige Annahme der Justizvollzugsanstalt fehle angesichts der übereinstimmenden Aussage der Mitgefangenen die notwendige Grundlage. Zudem wäre, selbst wenn es sich um eine Abgabe der Schreiben gehandelt hätte, eine Anwendung des § 76 [X.] ausgeschlossen. Anderenfalls wäre jede Abgabe von Sachen, und sei es nur einer Tasse Kaffee, ein schuldhafter Pflichtverstoß, der disziplinarisch geahndet werden könne. Dies sei lebensfremd.

4

2. Die Strafvollstreckungskammer wies mit angegriffenem Beschluss vom 19. November 2013 den Eilantrag zurück. Eine einstweilige Anordnung dürfe die Hauptsache nicht vorwegnehmen. Etwas anderes gelte nur, wenn dem Verurteilten ein schwerer, unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Nachteil entstehen würde, der durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könne. Ein solcher Nachteil sei nicht ersichtlich.

5

3. Mit der am 28. November 2013 rechtzeitig eingegangen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die Ablehnung seines Eilantrages mit der Begründung, dass die engen Voraussetzungen, unter denen eine die Hauptsache vorwegnehmende Entscheidung ergehen könne, nicht erfüllt seien, mache den Rechtsbehelf ineffektiv und lasse ihn für den Beschwerdeführer leerlaufen. Der vorläufige Rechtsschutz habe so weit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen. Bei sofort zu vollstreckenden Disziplinarmaßnahmen könnten die dadurch eingetretenen Nachteile später nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Strafvollstreckungskammer habe zudem den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt.

6

4. Das [X.] hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

7

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] (§ 93c Abs. 1 [X.]) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das [X.] bereits geklärt. Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und in einem die Zuständigkeit der Kammer begründenden Sinne offensichtlich begründet.

8

1. Der angegriffene Beschluss das [X.] verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

9

a) Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes Anforderungen auch für den vorläufigen Rechtsschutz. Die Auslegung und Anwendung der [X.]eiligen gesetzlichen Bestimmungen muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt (vgl. [X.] 49, 220 <226>; 77, 275 <284>; [X.]K 1, 201 <204 f.>; 11, 54 <60>). Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt, wenn die Gewährung von Eilrechtsschutz zu Unrecht mit der entscheidungstragenden Begründung abgelehnt wird, sie komme wegen [X.] der besonderen Voraussetzungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht (vgl. [X.]K 1, 201 <204 f.>; 7, 403 <409>; 8, 64 <65 f.>; 11, 54 <60 f.>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 24. März 2009 - 2 BvR 2347/08 -, juris, Rn. 12, und vom 3. Mai 2012 - 2 BvR 2355/10, 2 BvR 1443/11 -, juris, Rn. 13). Eine - nur in Ausnahmefällen zulässige - Vorwegnahme der Hauptsache liegt vor, wenn die begehrte vorläufige Entscheidung faktisch keine vorläufige wäre, sondern einer endgültigen gleichkäme. Dies ist nicht der Fall, wenn die einstweilige Aussetzung einer Maßnahme begehrt wird, die bei entsprechendem Ausgang des Hauptsacheverfahrens wieder in Geltung gesetzt werden kann. Die bloße Tatsache, dass die vorübergehende Aussetzung als solche nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, macht die vorläufige Regelung nicht zu einer faktisch endgültigen. Die vorläufige Aussetzung ist vielmehr, sofern die Voraussetzungen für eine stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade der typische, vom Gesetzgeber vorgesehene Regelungsgehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen (vgl. [X.], [X.]. a.a.O.).

b) Danach steht der angegriffene Beschluss mit den Anforderungen effektiven Eilrechtsschutzes nicht in Einklang. Begehrt ein Gefangener Eilrechtsschutz gegen eine Disziplinarmaßnahme, so geht es um die vorläufige Aussetzung einer ihn belastenden Maßnahme; eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt darin nicht (vgl. [X.]K 1, 201 <201 f., 206>). Die Strafvollstreckungskammer hätte daher, ohne insoweit durch den Gesichtspunkt einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache gebunden zu sein, prüfen müssen, ob die Maßnahme gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 [X.] auszusetzen war (vgl. [X.]K 1, 201 <206>; zu den Maßstäben der Entscheidung nach dieser Vorschrift vgl. [X.], [X.], 3. Aufl. 2011, § 114).

Der Grundrechtsverstoß entfällt nicht dadurch, dass der Beschwerdeführer selbst sein Eilrechtsschutzbegehren als Antrag auf "Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 [X.]" formuliert hatte. [X.] sind vom Gericht zweckentsprechend auszulegen (vgl. [X.] 122, 190 <198>; [X.]K 7, 403 <408>; 18, 152 <157>). Diesem Gebot kommt bei der Auslegung von Anträgen nicht anwaltlich vertretener Gefangener angesichts deren besonderer Schwierigkeiten im Umgang mit den Kompliziertheiten der Rechtsordnung besondere Bedeutung zu (vgl. [X.]K 10, 509 <516>;[X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2012 - 2 BvR 166/11 -, NStZ-RR 2013, [X.] <122>, und vom 23. Oktober 2013 - 2 BvR 1541/13 -, juris, Rn. 7 ). Der Antrag des Beschwerdeführers war offensichtlich auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die verhängte Disziplinarmaßnahme, deren Vollstreckung bereits begonnen hatte, gerichtet. Dass die richtige Zuordnung dieses eindeutigen [X.] zu der einschlägigen Bestimmung des § 114 Abs. 2 Satz 1 [X.] dem Beschwerdeführer nicht gelungen war, änderte daran nichts. Die für die zutreffende rechtliche Einordnung eines Rechtsschutzbegehrens notwendigen Rechtskenntnisse sind nicht dem rechtsschutzsuchenden Gefangenen, sondern dem Gericht abzuverlangen.

2. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 [X.]. Nachdem hinsichtlich des im fachgerichtlichen Eilverfahren verfolgten [X.] Erledigung eingetreten ist und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine Fortsetzungsfeststellungsentscheidung nicht in Betracht kommt (vgl. [X.], [X.], 3. Aufl. 2011, § 115 Rn. 11, m.w.N.), erfolgt die Zurückverweisung nur noch zur erneuten Entscheidung über die Kosten. Die Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sind dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 [X.] zu erstatten.

Meta

2 BvR 2598/13

17.03.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Braunschweig, 19. November 2013, Az: 50 StVK 861/13, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 76 JVollzG ND, § 114 Abs 2 S 2 StVollzG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.03.2014, Az. 2 BvR 2598/13 (REWIS RS 2014, 7068)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 7068

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 BvR 1856/13 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 19 Abs 4 GG durch Versagung von Eilrechtsschutz im Strafvollzug …


2 BvR 1800/13 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Anforderungen der Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 GG) an die Gewährung von Eilrechtsschutz …


2 BvR 983/09 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Anforderungen der Rechtsschutzgewährleistung an die Gewährung von Eilrechtsschutz bzgl einer strafvollzugsrechtlichen Disziplinarmaßnahme - …


2 BvR 869/15 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz durch Versagung von Eilrechtsschutz gegen anstaltsinterne Verlegung …


2 BvR 2355/10, 2 BvR 1443/11 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Zur Berücksichtigung des Vertrauensschutzgrundsatzes bei der Ablösung eines Strafgefangenen von unbefristet zugewiesener Hilfstätigkeit …


Referenzen
Wird zitiert von

2 BvR 1856/13

Zitiert

2 BvR 166/11

2 BvR 1541/13

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.