Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.06.2011, Az. IX B 11/11

9. Senat | REWIS RS 2011, 5405

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Gegenstand

Prozessfähigkeit - grundsätzliche Bedeutung - Sachaufklärungspflicht


Leitsatz

1. NV: Die Prozessfähigkeit eines Beteiligten ist als Sachentscheidungsvoraussetzung und zugleich Prozessvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen.

2. NV: Hinsichtlich der Rechtsfrage der Prozessfähigkeit eines Klägers entscheidet nicht der Sachverständige oder Arzt abschließend, sondern das Gericht nach seiner freien Überzeugung in Würdigung des gesamten Prozessstoffes und unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung. Dabei sind in solchen Fällen gerade die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, die generell nicht grundsätzlich bedeutsam sind.

3. NV: Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht liegt nicht vor, wenn angesichts der vorgelegten Unterlagen, der Einvernahme des behandelnden Arztes als (sachverständigen) Zeugen und dem tatsächlichen Verhalten des Klägers in der (ersten) mündlichen Verhandlung eine weitere Sachaufklärung durch Einholung eines --im Gegensatz zu den vorliegenden (zeitnahen) Unterlagen und Aussagen weniger aktuellen--Sachverständigen-Gutachtens für das FG nicht veranlasst und damit entbehrlich war.

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Es bleibt dahingestellt, ob ihre Begründung den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) entspricht. Die geltend gemachten Zulassungsgründe sind jedenfalls nicht gegeben.

2

1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O. Auf die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) aufgeworfenen Rechtsfragen kommt es im Streitfall nicht an; auch hat das Finanzgericht ([X.]) die vom Kläger behaupteten Rechtssätze zu einer "bipolaren Persönlichkeitsstörung" bzw. zu einer "psychophysischen Erkrankung" nicht aufgestellt. Vielmehr hat das [X.] in der mündlichen Verhandlung am 28. Oktober 2010 aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens einschließlich Beweisaufnahme die volle Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O) gewonnen, dass der Kläger in der (ersten) mündlichen Verhandlung am 15. April 2010 verhandlungs- und prozessfähig gewesen war und so für die Streitjahre (1996, 1997) wirksame Erklärungen zur tatsächlichen Verständigung und zur Erledigung der Rechtsstreite hat abgeben können. Im Übrigen entscheidet nicht der Sachverständige oder Arzt (bzw. deren Gutachten) über die Rechtsfrage der Prozessfähigkeit abschließend, sondern das Gericht nach seiner freien Überzeugung in Würdigung des gesamten [X.] (im Wege des [X.]; vgl. Beschluss des [X.] --BFH-- vom 1. September 2005 IX B 87/05, [X.], 94) und unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung (vgl. Beschluss des [X.] vom 26. Januar 1988  5 [X.]/86, [X.] 310 § 62 VwGO Nr. 20). Dabei sind in solchen Fällen gerade die besonderen Umstände des Einzelfalls --hier in der Person des [X.] (und seinem Verhalten)-- zu berücksichtigen, die generell nicht grundsätzlich bedeutsam i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O sind.

3

2. Die geltend gemachten Verfahrensfehler sind nicht gegeben.

4

a) [X.] der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 [X.]O) durch das [X.] als (verzichtbaren) Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O in Gestalt der Nichteinholung eines (aktuellen?) [X.] greift nicht durch. Der in der (zweiten) mündlichen Verhandlung am 28. Oktober 2010 anwaltlich vertretene Kläger hat eine solche Einholung zwar nicht beantragt, aber zumindest angeregt. Indes kam es darauf nach der maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung des [X.] (vgl. [X.] vom 2. Oktober 2007 [X.], [X.], 92, unter 3.b; vom 28. Juli 2004 IX B 136/03, [X.] 2005, 43, m.w.N.) nicht an. Denn angesichts der vorgelegten Unterlagen, der Einvernahme des den Kläger behandelnden Arztes als (sachverständigen) Zeugen und dem tatsächlichen Verhalten des [X.] in der (ersten) mündlichen Verhandlung am 15. April 2010 war eine weitere Sachaufklärung durch Einholung eines --im Gegensatz zu den vorliegenden (zeitnahen) Unterlagen und Aussagen weniger aktuellen-- [X.] für das [X.] nicht veranlasst und damit entbehrlich.

5

b) Auch der weitere geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O) der fehlenden Feststellung zur Prozessfähigkeit (§ 58 Abs. 1 [X.]O) des [X.] in der (ersten) mündlichen Verhandlung am 15. April 2010 ist nicht gegeben.

6

Nach § 58 Abs. 1 Nr. 1 [X.]O sind alle nach bürgerlichem Recht geschäftsfähigen Personen prozessfähig. Die Prozessfähigkeit eines Beteiligten ist als Sachentscheidungsvoraussetzung und zugleich Prozesshandlungsvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (§ 58 Abs. 2 Satz 2 [X.]O i.V.m. § 56 Abs. 1 der Zivilprozessordnung --ZPO--; vgl. [X.] vom 8. Juli 1999 [X.]/99, [X.] 1999, 1628; in [X.], 94, m.w.N.).

7

Diese Prüfung war im Streitfall angesichts des Vorlaufs zur mündlichen Verhandlung am 15. April 2010 entbehrlich; einer ausdrücklichen Feststellung im Sitzungsprotokoll (vgl. § 94 [X.]O i.V.m. § 160 ZPO) bedurfte es daher nicht. Dabei kann dahinstehen, ob die beim Kläger "seit längerem bestehende bipolare Persönlichkeitsstörung" als gerichtsbekannte Tatsache anzusehen ist. Denn die bis zur (ersten) mündlichen Verhandlung am 15. April 2010 eingereichten ärztlichen Atteste haben jedenfalls zur Verhandlungs- und Prozessfähigkeit des [X.] (für den 15. April 2010) keine Aussage getroffen; darauf wurde der Kläger mit [X.]-Schreiben vom 29. März 2010, also rechtzeitig vor der ersten mündlichen Verhandlung, hingewiesen. An diesem Status hatte sich auch bis zum Beginn dieser mündlichen Verhandlung und in dessen Verlauf nichts geändert.

8

Die entsprechende (Über-)Prüfung hat das [X.], nachdem der Kläger die Unwirksamkeit seiner Erledigungserklärung geltend gemacht hatte, in der (zweiten) mündlichen Verhandlung am 28. Oktober 2010 durchgeführt. Es ist aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu der Überzeugung und damit der positiven Feststellung gelangt, dass der Kläger in der (ersten) mündlichen Verhandlung am 15. April 2010 verhandlungs- und prozessfähig gewesen war und so für die Streitjahre (1996, 1997) wirksame Erklärungen zur tatsächlichen Verständigung und zur Erledigung der Rechtsstreite hat abgeben können (s. unter 1.). Diese Feststellung wäre auch revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

9

Im Übrigen ergeht der Beschluss gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O ohne weitere Begründung.

Meta

IX B 11/11

28.06.2011

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend Thüringer Finanzgericht, 28. Oktober 2010, Az: 2 K 552/07, Urteil

§ 58 Abs 1 FGO, § 76 Abs 1 FGO, § 96 Abs 1 S 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 3 S 3 FGO, § 56 Abs 1 ZPO, § 160 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.06.2011, Az. IX B 11/11 (REWIS RS 2011, 5405)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 5405

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