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Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"
Erfolgreicher isolierter Eilantrag auf Aussetzung einer Zwangsräumung - unzureichende Berücksichtigung besonderer Gefahren für hochschwangere Räumungsschuldnerin sowie ungeborenes Kind - Zweifel an menschenwürdiger Unterbringung bei Durchführung der Räumung - Folgenabwägung
Die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich des [X.]- 1 C 379/23 - vom 18. Januar 2024 wird einstweilen bis zur Entscheidung über die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das [X.]im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des [X.]muss das [X.]die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. [X.]76, 253 <255>; 99, 57 <66>; stRspr). Ist ein Hauptsacheverfahren noch nicht anhängig, ist ein Eilantrag nur zulässig, wenn der Streitfall als Hauptsache in zulässiger Weise vor das [X.]gebracht werden könnte (vgl. [X.]105, 235 <238>; stRspr).
2. Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Erfolg.
a) Eine noch einzulegende Verfassungsbeschwerde wäre weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Die Sachaufklärung und Begründung der angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts begegnen im Hinblick auf das von den Antragstellern geltend gemachte Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (körperliche Unversehrtheit) verfassungsrechtlichen Bedenken.
aa) Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit [X.]durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird (vgl. [X.]52, 214 <219 f.>). Es ist Aufgabe der staatlichen Organe, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der [X.]des Zweiten Senats vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22 -, Rn. 39 m.w.N.). Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen - beim Fehlen eigener Sachkunde - zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (vgl. BVerfG, Beschluss der [X.]des Zweiten Senats vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22 -, Rn. 40 m.w.N.).
bb) Eine Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit kann im Vollstreckungsschutzverfahren nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids gegeben sein. Die Vollstreckung kann auch aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründen oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne von § 765a ZPO darstellen (vgl. BVerfG, Beschluss der [X.]des Zweiten Senats vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22 -, Rn. 42 m.w.N.). Einzubeziehen sind dabei nicht nur die Gefahren für Leben und Gesundheit des Schuldners während des Räumungsvorgangs, sondern auch die Lebens- und Gesundheitsgefahren im [X.]an die Zwangsräumung (vgl. BVerfG, Beschluss der [X.]des Zweiten Senats vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22 -, Rn. 43 m.w.N.).
cc) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse der [X.]des Zweiten Senats vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22 -, Rn. 38; vom 10. Januar 2024 - 2 BvR 26/24 -, Rn. 7 m.w.N.).
dd) Es spricht derzeit einiges dafür, dass das Amtsgericht diesen Anforderungen im Hinblick auf die besondere Situation der schwangeren Antragstellerin zu 2. und ihrer Familie nicht gerecht geworden ist. Die Antragsteller haben unter Vorlage eines Krankenhausberichts auf die geplante primäre Sectio der Antragstellerin zu 2. am 23. Mai 2025 hingewiesen. Es ist zweifelhaft, ob die gesundheitliche Situation der Antragstellerin zu 2. im Hinblick auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), die sich unmittelbar vor einer Entbindung durch einen Kaiserschnitt befindet, vom Amtsgericht hinreichend gewürdigt worden ist. Gleiches gilt zur Versorgung des noch ungeborenen Kindes in einer Notunterkunft. Die Antragsteller haben wiederholt vorgetragen, dass eine Unterbringung in Containern der Gemeinde das Mindestmaß an medizinischer und hygienischer Grundversorgung angesichts der konkreten Situation der Antragsteller vermissen lasse.
(1) In seinem den beantragten [X.]ablehnenden Beschluss hat das Amtsgericht bereits die gebotene Abwägung der beiderseitigen Interessen von Gläubiger und Schuldnern unter Hinweis darauf unterlassen, dass das Vorbringen der Antragsteller bereits keine mit den guten Sitten nicht vereinbare Härte im Sinne des § 765a Abs. 1 ZPO darstelle. Offensichtlich ging das Amtsgericht im angegriffenen Beschluss vom 13. Mai 2025 zunächst davon aus, dass die Schwangerschaft trotz der ausdrücklichen Bescheinigung des Krankenhauses nicht ausreichend nachgewiesen sei ("erneut schwanger geworden sein soll"), ohne dies näher aufzuklären. Dementsprechend hielt es wohl eine Abwägung für verzichtbar. Dies ist verfassungsrechtlich bedenklich. Denn die Begründung des Amtsgerichts, mit dem es eine weitere Aufklärung letztlich für verzichtbar hielt, ist nicht tragfähig. Das Amtsgericht meint im angegriffenen Beschluss vom 13. Mai 2025, die Antragsteller könnten sich im vorliegenden Fall nicht auf staatliche Schutzpflichten berufen, weil die erneute Schwangerschaft im Hinblick auf ihre finanzielle Situation "geradezu fahrlässig" erscheine. Im Beschluss wird dann ergänzend die in der [X.]nicht dargelegte nähere Erkrankung des Antragstellers zu 1. und des minderjährigen Kindes zu Lasten der Antragsteller gewertet, ohne dass insoweit das Erfordernis einer Abwägung erörtert wurde.
(2) In seinem Nichtabhilfebeschluss bezüglich der eingelegten sofortigen Beschwerde nimmt das Amtsgericht zwar vordergründig eine Abwägung vor, räumt aber dem "durch Art. 19 Abs. 4 und 14 [X.]geschützten titulierten Räumungsanspruch des Gläubigers" Vorrang ein. Dies lässt besorgen, dass es an einer hinreichenden Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Positionen der Antragstellerin zu 2. und ihrem ungeborenen Kind im Rahmen der Abwägung fehlt. Auch der in diesem Zusammenhang erfolgte Verweis auf den Beschluss des [X.]vom 19. September 2012 - 41 T 3377/12 - lässt die Besorgnis aufkommen, dass es an der gebotenen Berücksichtigung und anschließenden Abwägung der Umstände des Einzelfalls fehlt. Insbesondere haben sich die Antragsteller nach ihrem Vorbringen um die Zuweisung von Wohnraum bei der Gemeinde bemüht.
Auch der Verweis im Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts auf die Zuständigkeit der Ordnungsbehörde für den Schutz der Antragsteller begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken. Ist mit der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr verbunden, bedeutet dies zwar noch nicht, dass ohne Weiteres Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO gewährt werden muss. Vielmehr ist eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht notwendig, wenn der Gefahr durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann. Dies setzt aber voraus, dass die Fachgerichte die Geeignetheit der Maßnahmen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt haben (vgl. BVerfG, Beschluss der [X.]des Zweiten Senats vom 8. August 2019 - 2 BvR 305/19 -, Rn. 33, m.w.N.).
Es ist Aufgabe der zuständigen staatlichen Stellen, eine menschenwürdige Unterbringung im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG sicherzustellen. Verfassungsrechtlich nicht unbedenklich erscheint es, wenn das Amtsgericht im Nichtabhilfebeschluss meint, dass es nicht seine Aufgabe sei, eine Zwangsvollstreckung trotz drohender menschenunwürdiger Bedingungen im Fall der Unterbringung vorläufig einzustellen. Insofern wäre es bei der Ablehnung des Antrags auf Vollstreckungsschutz Aufgabe des Vollstreckungsgerichts gewesen, zunächst zu prüfen und notfalls sicherzustellen, dass die konkrete Unterkunft für die Bedürfnisse der Antragstellerin zu 2. nach der Entbindung und des ungeborenen Kindes dem Mindestmaß an menschenwürdiger Unterbringung entspricht.
b) Da nach alledem eine nach Erschöpfung des Rechtswegs noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet ist, ist über den Antrag auf einstweilige Anordnung nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten der Antragsteller aus.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, wäre nicht auszuschließen, dass aufgrund der Durchführung der Zwangsräumung möglicherweise nicht rückgängig zu machende Folgen für Leib und Leben der Antragstellerin zu 2. und ihres ungeborenen Kindes eintreten. Mangels Feststellungen des Amtsgerichts zu den konkreten Umständen der Antragstellerin zu 2., die sich am 23. Mai 2025 einem Kaiserschnitt unterziehen soll, und der der Familie in Aussicht gestellten Notunterkunft in einem Container ist es nicht möglich, die Zumutbarkeit der geplanten Unterbringung verantwortbar einzuschätzen. Es liegt jedenfalls nicht fern, dass die Zwangsräumung vier Tage vor dem Eingriff mit einer erheblichen Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Antragstellerin zu 2. und des ungeborenen Kindes verbunden ist.
Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde aber später ohne Erfolg, so verzögerte sich die Zwangsräumung voraussichtlich nur um einige Monate. Dies wiegt insgesamt weniger schwer als die den Antragstellern drohenden Nachteile.
3. Gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wurde wegen der besonderen Dringlichkeit im Hinblick auf die bereits am 19. Mai 2025 um 8:30 Uhr bevorstehende Räumung davon abgesehen, den Begünstigten des Ausgangsverfahrens und den Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu geben.
Meta
18.05.2025
Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer
Einstweilige Anordnung
Sachgebiet: BvQ
vorgehend AG Schwabach, 18. Januar 2024, Az: 1 C 379/23, Entscheidung
Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 765a Abs 1 S 1 ZPO, § 765a Abs 3 ZPO, § 885 Abs 1 S 1 ZPO
Zitiervorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 18.05.2025, Az. 2 BvQ 32/25 (REWIS RS 2025, 3395)
Papierfundstellen: REWIS RS 2025, 3395
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
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