Bundessozialgericht, Urteil vom 07.04.2011, Az. B 9 SB 3/10 R

9. Senat | REWIS RS 2011, 7775

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Schwerbehindertenrecht - Behinderung - GdB - Schwerbehinderung - rückwirkende Feststellung - Feststellungsinteresse - Status - Ausweis - Datum - Gültigkeit - besonderes Interesse - Maßstab: ein im Ausland lebender behinderter Mensch - Vergünstigung ohne Inlandvoraussetzung - Möglichkeit des Bezuges einer abschlagsfreien Altersrente - keine Voraussetzung: Offensichtlichkeit


Leitsatz

Für die behördliche Erstfeststellung, dass ein GdB von 50 bereits zu einem Zeitpunkt vor der Antragstellung vorgelegen hat, ist nur die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich; eine solche rückwirkende Feststellung ist nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt (Abgrenzung zu BSG vom 29.5.1991 - 9a/9 RVs 11/89 = BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3).

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 19. Januar 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 für einen vor seinem Feststellungsantrag liegenden [X.]raum hat.

2

Der am 26.8.1945 geborene Kläger ist Arzt für Biochemie. Auf Veranlassung seiner behandelnden Ärztin wurde er am [X.] ins Krankenhaus aufgenommen. Dort wurde ein mindestens 10 x 10 cm großer gastrointestinaler Stromatumor (GIST) oberhalb des Blasendaches diagnostiziert und am [X.] operativ entfernt. In der [X.] danach wurden im Rahmen von Kontrolluntersuchungen Metastasen und Rezidive festgestellt, die zu weiteren operativen Eingriffen führten. Seit dem 1.1.2007 bezieht der Kläger Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit Abschlägen.

3

Im Dezember 2006 beantragte der Kläger beim beklagten Land die Feststellung eines GdB ab November 2000. Nach entsprechenden medizinischen Ermittlungen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 26.3.2007 wegen einer Harnblasenerkrankung im Zustand der [X.] einen GdB von 80 seit dem [X.] fest. Dem Widerspruch des [X.] half der Beklagte teilweise ab und stellte fest, dass der GdB nunmehr wegen einer Dünndarmerkrankung, bei der von einer [X.] nicht mehr auszugehen sei, 100 betrage. Den auf Feststellung eines GdB für die [X.] vor dem [X.] gerichteten Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom [X.]).

4

Das vom Kläger daraufhin angerufene [X.] ([X.]) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 19.11.2008). Bei der Feststellung des GdB handele es sich um eine Statusentscheidung, die generell nur in die Zukunft wirke. § 6 Abs 1 Satz 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) ordne eine rückwirkende Feststellung für die [X.] ab Antragstellung an. Eine weitergehende Rückwirkung sei nach Maßgabe des § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV auf offenkundige Fälle zu beschränken. Ein derartiger Fall liege hier erst ab April 2002 vor, weil die bösartige Tumorerkrankung erstmals in diesem Monat objektiv beweisbar diagnostiziert worden sei. Für die [X.] davor fehle es an aussagekräftigen medizinischen Unterlagen, so dass die vom Kläger behauptete Tatsache, er sei bereits im Mai 2000 wegen [X.] und Schwächeanfällen schwerbehindert gewesen, nicht als offenkundig gelten könne.

5

           

Im Rahmen seiner Berufung hat der Kläger vor dem [X.] (L[X.]) beantragt,

den Gerichtsbescheid des [X.] vom 19.11.2008 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 26.3.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.] zu verpflichten, bei ihm einen GdB von 100, hilfsweise 50, ab dem [X.] festzustellen,
hilfsweise
1. ihn als Arzt (Facharzt für Biochemie) und sachverständige Partei dazu zu vernehmen, dass er bereits seit Mai 2000 unter Teerstühlen, starken Symptomen einer Anämie und Kraftlosigkeit litt,
2. ein pathologisches Sachverständigengutachten durch Prof. Dr. R. B., Institut für Pathologie der Universität B., darüber einzuholen, dass sich sein Gesundheitszustand und seine Funktionseinschränkungen im Jahr 2002 nicht von dem Gesundheitszustand und den Funktionseinschränkungen im Mai 2000 aufgrund der Tumorart, seines Wachstums und der Begleitsymptome signifikant aus ärztlicher Sicht unterschied, so dass ein GdB von 100, mindestens jedoch 50, bereits seit Mai 2000, hilfsweise seit 1.11.2000 offenkundig bestand.

6

Das L[X.] hat unter Zulassung der Revision durch Urteil vom [X.] die Berufung des [X.] zurückgewiesen. Zur Begründung hat es nach Darlegung der allgemeinen Grundlagen für die Feststellung des GdB (§ 69 [X.]B IX) ausgeführt: Es handele sich bei der Feststellung des GdB um eine Statusentscheidung, die prinzipiell in die Zukunft wirke und nach § 6 Abs 1 Satz 1 SchwbAwV lediglich deshalb auf den [X.]punkt der Antragstellung zurückzubeziehen sei, um den schwerbehinderten Menschen für die Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht unzumutbar zu belasten. Für eine weitergehende Rückwirkung sei nach Maßgabe des § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV nur dann Raum, wenn der Betroffene ein besonderes Interesse für eine frühere Statusentscheidung glaubhaft machen könne. Eine solche Rückwirkung müsse jedoch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (B[X.]) überdies auf offenkundige Fälle beschränkt werden, um den Sinn und Zweck einer Statusentscheidung nicht zu konterkarieren. Offenkundigkeit sei hierbei anzunehmen, wenn die für die Feststellung erforderlichen Voraussetzungen aus der Sicht eines unbefangenen, sachkundigen Beobachters nach Prüfung der objektiv gegebenen Befundlage ohne Weiteres deutlich zu Tage träten.

7

Zwar habe der Kläger ein besonderes Interesse an einer früheren Feststellung des GdB insoweit glaubhaft gemacht, als ihm nach § 236a [X.]B VI eine abschlagsfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen zustehen würde, wenn seine Schwerbehinderteneigenschaft bereits zum 16.11.2000 festgestellt würde. Es fehle jedoch an einem offenkundigen Fall, weil medizinische Befunde, aus denen sich die Voraussetzungen für die vom Kläger begehrte Feststellung deutlich entnehmen ließen, für die [X.] vor April 2002 weder vorlägen noch ermittelbar seien. Letzteres ergäbe sich aus den Angaben des [X.] selbst sowie vor allem aus den Attesten der behandelnden [X.] und [X.] vom 25.4.2007. Danach seien hier entweder nur ganz pauschale Aussagen darüber möglich, dass der Kläger bereits ab Mai 2000 unter vereinzelt aufgetretenen [X.] sowie unter starken Symptomen einer Anämie und unter Kraftlosigkeit gelitten habe, oder es könnten nur Rückschlüsse aus Befunden aus der [X.] ab April 2002 gezogen werden, was der Annahme eines offenkundigen Falles entgegenstehe.

8

Vor diesem Hintergrund müsse der [X.] nicht in weitere Ermittlungen eintreten. Insbesondere müsse er den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträgen nicht folgen, weil sie entweder nur vage Tatsachenbehauptungen zum Inhalt hätten oder auf die Einholung eines "Rückschlussgutachtens" zielten, auf das es bei der Prüfung der Frage, ob ein offenkundiger Fall gegeben sei, gerade nicht ankommen könne.

9

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Materielles Recht sei verletzt, weil der Status der Schwerbehinderteneigenschaft nach der Rechtsprechung des B[X.] grundsätzlich mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen beginne (B[X.]E 89, 79), und zwar ohne Beschränkung auf offensichtliche Fälle. Eine abweichende Entscheidung des B[X.] liege für [X.] nicht vor. Das vom L[X.] herangezogene Urteil des B[X.] vom 29.5.1991 betreffe allein Überprüfungsanträge nach § 44 Abs 2 [X.]B X, bei denen es im Rahmen des Ermessens auf die "Offensichtlichkeit" ankomme. Demnach sei das rückwirkende Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft, wie im Sozialrecht generell üblich, mit sämtlichen Erkenntnismitteln zu erforschen. Eine Beschränkung auf Offensichtlichkeitsfälle oder kaum bestimmte "Ausnahmefälle" finde nicht statt.

Das angefochtene Urteil sei auch [X.] zustande gekommen. Das L[X.] habe sein Recht auf rechtliches Gehör nach § 62 [X.]G verletzt, weil es seinen - des [X.] - Vortrag zum Schweregrad des Tumors und dessen Bewertung mit einem GdB von 100, hilfsweise 50, ab Mai 2000 unter Hinweis auf die fehlende Offenkundigkeit der Befunde übergangen habe. Zudem habe das L[X.] auch seine Amtsermittlungspflicht verletzt, weil es den in der letzten mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträgen zu Unrecht nicht gefolgt sei. Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe das angefochtene Urteil.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom [X.] und den Gerichtsbescheid des [X.] vom 19.11.2008 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 26.3.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.] für ihn einen GdB von 100, hilfsweise von 50, ab [X.], hilfsweise ab 1.11.2000, festzustellen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an. Zwar beziehe sich die vom L[X.] zutreffend angewandte Entscheidung des B[X.] vom 29.5.1991 auf die Überprüfung bereits bestandskräftiger Bescheide iS des § 44 [X.]B X. Eine Unterscheidung für die rechtliche Bewertung bei den Voraussetzungen für die rückwirkende Feststellung im Schwerbehindertenrecht sei hingegen hinsichtlich der [X.] nicht erforderlich. Es komme lediglich auf die Bewertung der Feststellung des [X.] als solche an. Diese sei und bleibe eine Statusentscheidung mit den bekannten Ausnahmen für die rückwirkende Feststellung nach der SchwbAwV. Der Kläger trage zwar vor, dass es dem Versorgungsträger und den Sozialgerichten zumutbar sei, durch Einholung von Befunden, Auskünften und ggf von Sachverständigengutachten den objektiven Eintrittspunkt der Schwerbehinderung von Amts wegen zu ermitteln. Dieser [X.] sei indes nicht auf die rückwirkende Feststellung zu übertragen, wie bereits das B[X.] festgestellt habe. Hier gelte die Einschränkung der "Offenkundigkeit". Dieser Begriff lasse schon vom Wortsinn her eine aufwendige Ermittlung nicht zu.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 [X.]G) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revision des [X.] ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 [X.]).

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des [X.] auf Feststellung eines GdB mit 100, hilfsweise von wenigstens 50, schon ab Mai 2000. Diesen Anspruch verfolgt der Kläger mit seiner zulässigen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 [X.]). Entgegen der Auffassung des [X.] ist der Anspruch des [X.] auf rückwirkende GdB-Feststellung nicht aus Rechtsgründen ausgeschlossen. Für die Entscheidung, ob der Anspruch begründet ist, bedarf es weiterer einzelfallbezogener Tatsachenfeststellungen, die das [X.] noch zu treffen hat.

Der Anspruch des [X.] auf Feststellung eines GdB von mindestens 50 ab Mai 2000 und damit für [X.]en vor dem vom Beklagten angenommenen [X.]punkt (1.4.2002) richtet sich nach dem Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz -[X.]-) idF der Neubekanntmachung vom 26.8.1986 ([X.] 1421, [X.] 1550) sowie nach den am [X.] in [X.] getretenen Vorschriften des [X.] vom 19.6.2001 ([X.] 1046), geändert durch das Gesetz vom 23.4.2004 ([X.] 606).

Hinsichtlich der Maßstäbe für die Bestimmung des Begriffs der Behinderung ergeben sich durch die zum [X.] erfolgte Ablösung des [X.] durch das [X.] keine nennenswerten Unterschiede. Zwar sind die Begriffe der Behinderung und der des GdB im [X.] anders umschrieben als zuvor in § 3 Abs 1 [X.], der seinem Wortlaut nach unter Behinderung die Auswirkungen einer nicht nur vorü[X.]gehenden Funktionsstörung verstand. Die nunmehr erfasste Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (s § 2 Abs 1, § 69 Abs 1 Satz 3 [X.] bzw Satz 4 [X.]) entspricht indes der schon nach altem Recht ergangenen Rechtsprechung des BSG (s insgesamt [X.]-3250 § 69 [X.] Rd[X.] 7). Entsprechendes gilt für den auf dem Behinderungsbegriff aufbauenden GdB (s §§ 2 Abs 1, 69 Abs 1 Satz 1 [X.]).

Zwar beginnt der Status als schwerbehinderter Mensch grundsätzlich mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (vgl [X.], 79, 81 = [X.]-3870 § 59 [X.]). Zum Nachweis dieser Eigenschaft ist jedoch eine behördliche Feststellung erforderlich. Dementsprechend stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (vgl § 4 Abs 1 Satz 1 [X.], § 69 Abs 1 Satz 1 [X.]). Von welchem [X.]punkt an diese Feststellung zu treffen ist, wird weder im [X.] noch im [X.] ausdrücklich geregelt. [X.] Maßgaben zur Bestimmung des Wirksamkeitsbeginns einer GdB-Feststellung lassen sich jedoch aus dem Sinn und Zweck solcher Feststellungen und dem Erfordernis einer Vermeidung unnötigen Verwaltungsaufwandes herleiten.

Dabei ist davon auszugehen, dass es sich um [X.] handelt, die in einer Vielzahl von Lebens[X.]eichen die Inanspruchnahme von Vorteilen und Nachteilsausgleichen ermöglichen sollen (vgl dazu zB [X.]-3250 § 69 [X.] Rd[X.]6). Da eine derartige Inanspruchnahme regelmäßig nicht (für längere [X.]) rückwirkend möglich ist, reicht es grundsätzlich aus, wenn die GdB-Feststellung für die [X.] ab Antragstellung erfolgt (vgl dazu [X.] 69, 14, 17 f = [X.]-1300 § 44 [X.]). Mit der Stellung des Antrags bringt nämlich der behinderte Mensch der Behörde gegenü[X.] sein Interesse an einer verbindlichen Statusfeststellung erstmalig zum Ausdruck. Insofern ist es sachgerecht, von dem behinderten Menschen die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses zu verlangen, wenn er seinen GdB ausnahmsweise schon für einen vor der Antragstellung liegenden [X.]raum festgestellt haben möchte.

Diese aus dem [X.] und dem [X.] herzuleitenden rechtlichen Grundsätze haben ihren Niederschlag in den gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften ü[X.] die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises gefunden. Nach § 4 Abs 5 Satz 1 [X.]/§ 69 Abs 5 Satz 1 [X.] stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis ü[X.] die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie ggf ü[X.] weitere gesundheitliche Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen aus. Die Einzelheiten der Ausweisausstellung sind in der nach den Vorgaben des § 4 Abs 5 [X.]/§ 69 Abs 5 [X.] auf der Grundlage des § 4 Abs 5 Satz 5 [X.]/§ 70 [X.] erlassenen SchwbAwV idF der Bekanntmachung vom 25.7.1991 ([X.] 1739), mit späteren Änderungen zuletzt durch Art 20 Abs 8 Gesetz zur Änderung des [X.] und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007 ([X.] 2904), geregelt. Nach deren § 6 Abs 1 [X.] ist auf der Rückseite des Ausweises als Beginn der Gültigkeit in den Fällen des § 69 Abs 1 und 4 [X.] der Tag des Eingangs des Antrags auf Feststellung nach diesen Vorschriften einzutragen. § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV ermöglicht darü[X.] hinaus auf Antrag des schwerbehinderten Menschen und nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses die Eintragung eines zusätzlichen, weiter zurückliegenden Datums.

Soweit § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV für die Eintragung des "zusätzlichen" vor dem Datum der Antragstellung liegenden Datums die "Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses" der antragstellenden Person verlangt, ist allerdings auch dort nicht weiter bestimmt, was ein "besonderes Interesse" iS dieser Vorschrift ist. Auch eine höchstrichterliche Definition des "besonderen Interesses" ist bisher nicht erfolgt. Einige (instanzgerichtliche) Entscheidungen haben ein besonderes Interesse für den Fall verneint, dass der Antragsteller aufgrund der vor die Antragstellung zurückreichenden schwerbehindertenrechtlichen Feststellung Steuervergünstigungen wahrnehmen ([X.] für das Saarland Beschluss vom 5.11.2002 - L 5 [X.]/01 SB -; [X.] Urteil vom [X.] SB 20/03 -; aA [X.] Rheinland-Pfalz Urteil vom [X.] -) oder rückwirkend Kindergeld beanspruchen wollte ([X.] Gerichtsbescheid vom 9.12.2004 - S 7 SB 340/02 -). Demgegenü[X.] hat das [X.] in dem hier angefochtenen Urteil das besondere Interesse bejaht, soweit der Kläger mit der rückwirkenden Feststellung des GdB von mehr als 50 gemäß § 236a [X.] die Altersrente für schwerbehinderte Menschen abschlagsfrei beziehen könnte. [X.] hat das [X.] Berlin-Brandenburg das besondere Interesse des dortigen [X.] im Urteil vom 18.2.2010 - 11 SB 351/08 - beurteilt.

Mangels normativer Maßgaben erscheint es auch angesichts der Bedeutung der Rückwirkung der entsprechenden Feststellungen angemessen, den Begriff des besonderen Interesses nach ähnlichen Maßstäben zu bestimmen wie den Anspruch eines im Ausland lebenden behinderten Menschen auf Feststellung seines GdB in [X.]. Grundsätzlich hat ein in [X.] lebender behinderter Mensch nach dem System des Schwerbehindertenrechts im [X.] Anspruch auf Feststellung des für ihn maßgeblichen GdB unabhängig davon, ob sich seine rechtliche und/oder wirtschaftliche Situation dadurch unmittelbar verbessert. Ein besonderes Feststellungsinteresse (Rechtsschutzbedürfnis) für die [X.] ab Antragstellung ist nicht erforderlich ([X.]-3250 § 69 [X.]). Etwas anderes gilt für einen im Ausland lebenden behinderten Menschen. Nach der Rechtsprechung des BSG ist auf dessen Antrag der GdB festzustellen, wenn davon in [X.] Vergünstigungen abhängen, die keinen [X.] voraussetzen (s [X.]-3250 § 69 [X.] 5; [X.] 99, 9 = [X.] 4-3250 § 69 [X.] 6; zuletzt [X.] vom [X.] SB 1/10 R - SozialVerw 2011, 11). Ein im Ausland lebender Behinderter kann das Feststellungsverfahren nach § 4 [X.] bzw § 69 [X.] nur zur Ermöglichung konkreter inländischer Rechtsvorteile in Anspruch nehmen. Die Durchbrechung des Territorialitätsprinzips (§ 30 Abs 1 iVm § 37 Satz 1 SGB I) ist gerechtfertigt, wenn ihm trotz seines ausländischen Wohnsitzes aus der Feststellung seines GdB in [X.] konkrete Vorteile erwachsen können (BSG aaO). Das BSG hat als entsprechenden Vorteil die Möglichkeit der Inanspruchnahme der gesetzlichen Altersrente für schwerbehinderte Menschen anerkannt ([X.]-3250 § 69 [X.] 5; [X.] 99, 9 = [X.] 4-3250 § 69 [X.] 6).

Zu ähnlichen Ergebnissen würde eine in Anlehnung an den Begriff des [X.] bzw [X.] im gerichtlichen, insbesondere sozialgerichtlichen Verfahren orientierte Definition des Begriffes des besonderen Interesses nach § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV führen. Das gerichtliche Rechtsschutzinteresse ist für einen von einer behördlichen Maßnahme betroffenen oder eine solche Maßnahme erstrebenden Bürger grundsätzlich anzunehmen, wenn er das angestrebte Ergebnis nicht auf einfachere Weise erreichen und mit der gerichtlichen Entscheidung seine rechtliche oder wirtschaftliche Stellung verbessern kann (s nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 9. Aufl 2008, vor § 51 Rd[X.]6a mwN).

Aus Anlass des vorliegend zu entscheidenden Einzelfalls bedarf es letztlich keiner abschließenden Definition des Begriffs des besonderen Interesses, denn es bestehen keinerlei Bedenken gegen die Bejahung des besonderen Interesses des [X.] durch das [X.]. Die Möglichkeit des Bezuges einer abschlagsfreien Altersrente (s dazu sowie zur Berücksichtigung der rückwirkenden Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung [X.] vom 29.11.2007 - [X.] R 44/07 R - [X.] 4-2600 § 236a [X.]) begründet zweifelsohne ein besonderes Interesse an der vor die Antragstellung zurückwirkenden Feststellung des GdB von 50 als Grundlage für die Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch (s § 2 Abs 2 [X.]).

Entgegen der Auffassung des [X.] ist indes für die Rückverlagerung des [X.]punkts der Feststellung des GdB vor den [X.]punkt der Antragstellung nicht zu fordern, dass der betreffende GdB im beanspruchten [X.] offensichtlich [X.]eits vorgelegen hat. Eine Rechtsnorm, die dies bestimmt, existiert nicht. Insbesondere enthält § 6 SchwbAwV keine entsprechende Einschränkung. Diese Einschränkung lässt sich auch, anders als das Erfordernis eines besonderen Interesses, nicht aus den gesetzlichen Grundlagen des Schwerbehindertenrechts herleiten. Für die behördliche Erstfeststellung, dass ein GdB von 50 [X.]eits zu einem [X.]punkt vor der Antragstellung vorgelegen hat, ist nur die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich; eine solche rückwirkende Feststellung ist nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt.

Eine Beschränkung der rückwirkenden Feststellung des GdB durch ein Erfordernis der Offensichtlichkeit hat das BSG allein für den Fall angenommen, dass nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X die Rücknahme einer unanfechtbar bindenden Feststellung des GdB mit Wirkung für die Vergangenheit zu prüfen ist ([X.] vom 29.5.1991 - 9a/9 RVs 11/89 - [X.] 69, 14 = [X.]-1300 § 44 [X.] 3). Diese Einschränkung folgt indes nicht aus § 4 [X.]/§ 69 [X.] oder § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV, sondern rechtfertigt sich, wie in der Literatur zutreffend erkannt worden ist (von [X.], Behindertenrecht 2006, 98, 100), allein im Hinblick auf das nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X auszuübende Verwaltungsermessen. Da es bei der Feststellung des GdB nicht um Sozialleistungen geht und § 44 Abs 1 SGB X damit unanwendbar ist ([X.] 69, 14, 16 = [X.]-1300 § 44 [X.] 3 S 8 f), hat die für die Feststellungen zuständige Behörde oder Körperschaft im Falle des Vorliegens einer auf einen bestimmten [X.]punkt bezogenen bindenden Feststellung des GdB ü[X.] den Antrag auf Rückverlagerung im Ü[X.]prüfungswege nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X kann ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. In dem Fall, in dem die entsprechenden tatsächlichen Voraussetzungen offenkundig sind, könnte das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung der bindenden Feststellung gebieten ([X.] 69, 14, 18 = [X.]-1300 § 44 [X.] 3 S 10).

Im Verfahren einer Erstfeststellung, um das es sich im vorliegenden Fall handelt, beanspruchen diese aus § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X fließenden, allein auf das Verwaltungsermessen bezogenen Grundsätze keine Gültigkeit. Hier muss die Feststellungsbehörde - bei Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses durch den Antragsteller - uneingeschränkt prüfen und entscheiden, ob und seit wann die geltend gemachte Eigenschaft (hier: GdB von mindestens 50) schon vor der Antragstellung bestanden hat. Der entsprechende [X.]punkt ist festzustellen.

Eines ü[X.] die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses hinausgehenden besonderen Korrektivs etwa in Form der Offensichtlichkeit bedarf es auch aus anderen Gründen nicht. Entsprechende Anträge lassen sich nach Aufklärung des Sachverhalts mit den zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast behandeln (s von [X.], aaO, 100).

Da das [X.] davon ausgegangen ist, dass die rückwirkende Feststellung des GdB für [X.]en vor der Antragstellung auf offensichtliche Fälle beschränkt ist, hat es folgerichtig unterlassen, den Gesundheitszustand des [X.] in dem streitigen [X.]raum unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel aufzuklären. Da der erkennende Senat die nach seiner Auffassung erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst durchführen kann (vgl § 163 [X.]), ist eine Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz geboten.

Im wieder eröffneten Berufungsverfahren wird ua auch zu prüfen sein, ob der Kläger ein besonderes [X.] nur ab Novem[X.] 2000 oder - seinem Antrag entsprechend - schon ab Mai 2000 glaubhaft machen kann.

Das [X.] wird auch ü[X.] die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

Meta

B 9 SB 3/10 R

07.04.2011

Bundessozialgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Berlin, 19. November 2008, Az: S 48 SB 2503/07, Gerichtsbescheid

§ 2 SGB 9, § 69 Abs 1 S 1 SGB 9, § 69 Abs 1 S 2 SGB 9, § 69 Abs 4 SGB 9, § 69 Abs 5 S 1 SGB 9, § 70 SGB 9, § 6 Abs 1 S 1 SchwbAwV, § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV, § 236a SGB 6

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 07.04.2011, Az. B 9 SB 3/10 R (REWIS RS 2011, 7775)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7775

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 9 SB 1/11 R (Bundessozialgericht)

Schwerbehindertenrecht - besonderes Interesse an der rückwirkenden GdB-Feststellung - beabsichtigte Inanspruchnahme von Steuervorteilen - Glaubhaftmachung …


B 13 R 15/15 R (Bundessozialgericht)

Inlandsbezug der Schwerbehinderung als Voraussetzung für eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen - Verlust der Schwerbehinderteneigenschaft …


B 9 SB 48/11 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Auslegung nicht eindeutiger Anträge durch das Gericht - Feststellung des Grades …


B 9 SB 98/12 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Darlegungsanforderungen - Divergenz - abstrakter Rechtssatz - unterschiedliche Gesichtspunkte - …


B 5 R 56/10 R (Bundessozialgericht)

(Altersrente für schwerbehinderte Menschen - Schutzfrist des § 38 Abs 1 SchwbG idF vom 26.8.1986 …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.