Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.08.2019, Az. 4 StR 342/19

4. Strafsenat | REWIS RS 2019, 4511

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Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Beurteilungszeitpunkt für die Gefahrenprognose


Tenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des [X.] vom 26. März 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB), deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und eine isolierte Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis festgesetzt. Die hiergegen gerichtete und auf die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten hat Erfolg.

I.

2

Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Gefährlichkeitsprognose ist nicht tragfähig begründet.

3

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten der in § 63 Satz 1 StGB genannten Art begehen wird; eine nur latente Gefahr oder die bloße Möglichkeit künftiger Tatbegehungen genügt insoweit nicht ([X.], Beschluss vom 13. Dezember 2011 - 5 [X.], [X.], 107, 108). Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.](en) zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschlüsse vom 27. Februar 2019 - 4 StR 419/18, juris Rn. 11; vom 2. September 2015 - 2 StR 239/15, juris Rn. 9; vom 3. Juni 2015 - 4 StR 167/15, [X.], 724; vom 1. Oktober 2013 - 3 [X.], [X.], 42) und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustandes drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12, Rn. 27; [X.], Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, [X.], 306).

4

Maßgebender Beurteilungszeitpunkt für die Gefährlichkeitsprognose ist die Situation im [X.]punkt des Urteils (vgl. [X.], Urteile vom 28. März 2019 - 4 StR 530/18, Rn. 13; vom 23. Januar 2018 - 5 [X.], Rn. 19; vom 10. August 2005 - 2 [X.], [X.], 370, 371). Dies bedeutet aber nicht, dass die Gefährlichkeitsprognose nur auf den [X.]punkt der Entscheidung zu stellen ist; sie muss vielmehr einen längeren [X.]raum in den Blick nehmen ([X.], Urteile vom 3. August 2017 - 4 StR 193/17, [X.], 426; vom 30. August 1988 - 1 StR 358/88, [X.]R StGB § 63 Gefährlichkeit 6). In Fällen, in denen auf Grund einer zwischenzeitlichen Behandlung im Urteilszeitpunkt eine Stabilisierung des [X.] eingetreten ist, ist deshalb im Interesse der öffentlichen Sicherheit der Umstand in die Prognoseentscheidung einzustellen, dass in späterer, aber absehbarer [X.] mit einer erneuten Verschlechterung des Gesundheitszustands und der Wahrscheinlichkeit erneuter rechtswidriger Taten zu rechnen ist (vgl. [X.], Urteile vom 11. Oktober 2018 - 4 [X.], NStZ-RR 2019, 41, 42 f.; vom 3. August 2017 - 4 StR 193/17, [X.], 426; vom 30. August 1988 - 1 StR 358/88, [X.]R StGB § 63 Gefährlichkeit 6). Mögliche negative Entwicklungen, die in einem zeitlichen Abstand von mehreren Jahren oder in ungewisser Zukunft zu erwarten sind, vermögen die Annahme der Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit jedoch regelmäßig nicht zu tragen.

5

2. Hieran gemessen begegnen die Erwägungen, mit denen das [X.] die zur [X.] führende Gefährlichkeitsprognose begründet hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

6

Zwar ist das [X.] im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass maßgeblicher [X.]punkt für die Prognoseentscheidung die Hauptverhandlung ist, und dass die Gefährlichkeitsprognose längerfristig zu stellen ist. Das [X.] hat als prognostisch günstig berücksichtigt, dass die Anlassdelikte nunmehr bereits mehr als fünfeinhalb Jahre zurückliegen und der an einer bipolaren affektiven Störung leidende Beschuldigte ungeachtet der fortbestehenden Erkrankung seither nicht mehr durch die Begehung rechtswidriger Taten aufgefallen ist. Darüber hinaus hat es in den Blick genommen, dass die Erkrankung zwar fortbesteht, aber derzeit remittiert ist. Die Annahme fortbestehender Gefährlichkeit hat das [X.] - den Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen folgend - maßgeblich auf die Erwägung gestützt, dass die psychische Erkrankung nicht überwunden sei und die „sichere Erwartung eines Wiederauftretens [X.] und depressiver Phasen früher oder später“ bestehe. Unsicherheit bestehe „allein hinsichtlich des [X.]punkts neuerlicher Manifestationen dieser Zustände“. Ein neuerliches Wiederaufflammen der Erkrankung sei „in den nächsten Jahren“ zu erwarten, wenn der Beschuldigte sich keiner Behandlung unterziehe. Diese Ausführungen lassen offen, ob - wie von Rechts wegen erforderlich - in „absehbarer [X.]“, also in einem überschaubaren [X.]raum, mit einem Wiederaufflammen der Erkrankung und infolge dessen mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades mit der erneuten Begehung erheblicher rechtswidriger Taten zu rechnen ist. Damit bleibt letztlich sogar offen, ob innerhalb der vom [X.] festgesetzten Bewährungszeit überhaupt mit einem Wiederaufflammen der Erkrankung zu rechnen ist, und die [X.] erforderlich ist, um der vom Beschuldigten ausgehenden Gefahr wirksam zu begegnen.

7

3. Der Senat hebt das Urteil insgesamt auf, um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

II.

8

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

9

1. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird hinsichtlich der [X.] vom 11. Oktober 2013 Gelegenheit haben, sich genauer als bisher geschehen mit der Frage zu beschäftigen, ob der für die Verwirklichung des Tatbestands des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB erforderliche Gefahrverwirklichungszusammenhang zwischen der Tathandlung verkehrswidrigen Überholens und der Gefährdung des betroffenen Verkehrsteilnehmers gegeben ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 15. März 2018 - 4 StR 469/17, [X.], 215, 216, vom 22. November 2016 - 4 StR 501/16, juris Rn. 6). Die bisher getroffenen Feststellungen, die sich auf die Mitteilung beschränken, dass der Beschuldigte sein Fahrzeug „nach links halb vor das Fahrzeug des Geschädigten Z.         “ gezogen habe, um ihn „jedenfalls“ zu einem scharfen Abbremsen seines Fahrzeugs zu zwingen, belegen dies nicht zweifelsfrei.

2. Auch die Erwägungen, mit denen das [X.] - abweichend von den Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen - seine Annahme begründet hat, der Beschuldigte sei „aufgrund [X.]“ nicht in der Lage gewesen, das Unrecht seines Tuns einzusehen (§ 20 StGB), sind nicht nachvollziehbar. Ausführungen dazu, in welcher Weise sich das vom [X.] angenommene „Wahnerleben“ bei Begehung der [X.] konkret auf die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten ausgewirkt hat, fehlen. Es erschließt sich auch nicht, aus welchen Gründen das [X.] von der Einschätzung der Sachverständigen, die von erhaltener Unrechtseinsicht, aber einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit ausgegangen ist, abgewichen ist.

Sost-Scheible     

        

Roggenbuck     

        

Quentin

        

Bartel     

        

[X.]     

        

Meta

4 StR 342/19

13.08.2019

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Berlin, 26. März 2019, Az: 501 KLs 14/15

§ 20 StGB, § 63 StGB, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.08.2019, Az. 4 StR 342/19 (REWIS RS 2019, 4511)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 4511

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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