Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 17.08.2017, Az. 4 StR 127/17

4. Strafsenat | REWIS RS 2017, 6477

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[X.]:[X.]:[X.]:2017:170817U4STR127.17.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

IM NAMEN [X.]S VOLKES

URTEIL
4
StR
127/17

vom
17. August 2017
in der Strafsache
gegen

wegen fahrlässiger Körperverletzung

-
2
-
Der 4.
Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 17. August
2017, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende [X.]in
am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible,

[X.]in
am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
[X.] am Bundesgerichtshof
Cierniak,
[X.],
Dr. Feilcke

als beisitzende [X.],

[X.]in am Amtsgericht

als Vertreterin
des
[X.]s,

Rechtsanwalt

als Verteidiger,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

-
3
-
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 14.
November 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des [X.] verwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverlet-zung sowie
wegen fahrlässiger Körperverletzung in zwei rechtlich zusammen-treffenden Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Mona-ten verurteilt und deren Vollstreckung
zur Bewährung ausgesetzt.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer zu Ungunsten des Angeklag-ten eingelegten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts
gestützten Re-vision. Das Rechtsmittel, das vom [X.] vertreten wird, hat [X.].
I.
Das [X.] hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und [X.] getroffen:
1
2
-
4
-
1.
Am 4.
August 2015 kamen die Zwillinge [X.]

und [X.]

, gemeinsa-
me Kinder des Angeklagten und seiner Lebensgefährtin T.

[X.]

, zur
Welt. Da die Säuglinge zu früh geboren wurden, blieben sie bis zum 9.
Sep-tember 2015
im Krankenhaus und kamen dann in die gemeinsame Wohnung des Angeklagten und seiner Lebensgefährtin, die beide Drogenmissbrauch be-trieben und bereits mit der Erziehung ihres gemeinsamen dreijährigen Sohns D.

überfordert waren. Die Familie erhielt durch das Jugendamt Unterstüt-
zung in Form einer Familienhilfe. Die ohnehin belastete Familiensituation spitzte sich weiter zu, nachdem die Familienhelferin Kenntnis davon erlangt hatte, dass der Angeklagte Anfang Mai 2015 aus dem Strafvollzug geflohen war, und am 30.
Oktober 2015 bei einem Besuch der Familie auf eine Rückkehr des Ange-klagten in die Justizvollzugsanstalt drang.
An einem nicht näher feststellbaren Tag Anfang November 2015 hielt
der Angeklagte den drei Monate alten Säugling [X.]

auf dem Arm und ließ ihn ver-
sehentlich fallen, weil er nicht ausreichend darauf achtete, ihn sicher zu halten, obwohl er trotz seines zu dieser Zeit gesteigerten Drogenkonsums hierzu in der Lage gewesen wäre. Das Kind traf mit dem Gesicht auf dem Boden auf, was jedenfalls zu nicht unerheblichen Schmerzen führte, ohne dass sich ein [X.] [X.] zeigte. Der Angeklagte legte [X.]

sodann ins Bett, ohne
ihn näher zu untersuchen oder das Geschehen einer anderen Person mitzutei-len. Nach der Wahrnehmung des Angeklagten verhielt sich das Kind unauffällig.
Auch die Familienhelferin und die Hebamme
der Lebensgefährtin des Ange-klagten nahmen in der Folgezeit bei ihren Aufenthalten in der Wohnung der Familie

zuletzt am 11.
November 2015

weder bei [X.]

noch bei [X.]

Ver-
letzungen oder sonstige Anzeichen von Misshandlungen
wahr (Fall
1).
3
4
-
5
-
Am frühen Morgen des 14.
November 2015 gegen 5
Uhr hörte der Ange-klagte, der am Vortag im üblichen Umfang Amphetamine, LSD und Cannabis konsumiert hatte, im Kinderzimmer die Säuglinge weinen

. Er stand auf, um ihnen Fläschchen zu geben, und stellte in der Küche zur Vorbe-reitung zwei leere [X.] bereit. Sodann begab er sich in das Kinder-zimmer, ohne dort das Licht einzuschalten.
Er hob
nun die e-genden Säuglinge gleichzeitig aus deren Gitterbett
und nahm sie auf den Arm, wobei ihm klar sein
musste, dass bei dieser Art des Hochhebens der Kinder die Gefahr bestand, dass er
sie nicht würde festhalten können. Als er sich aufge-richtet hatte, rutschten ihm versehentlich zunächst [X.]

und kurz darauf [X.]

aus dem Arm. Beide Kinder fielen auf den Boden, wodurch sie Schmerzen erlit-ten. Versehentlich stieß der Angeklagte sodann mit dem Fuß gegen den am Boden liegenden [X.]

. Der Angeklagte legte nun beide Säuglinge zurück in
das Kinderbett, um sie zu beruhigen. Erneut rutschten sie ihm hierbei verse-hentlich aus dem Arm, so dass sie mit ihren Köpfen schmerzhaft und deutlich hörbar gegeneinanderschlugen.
Ohne sich weiter um die Kinder zu kümmern und ohne nach möglichen Verletzungen zu schauen, begab sich der Angeklagte nunmehr in die Küche, um die [X.] zuzubereiten. Dort nahm er jedoch zwei [X.] gegen einsetzende Zahnschmerzen ein und wurde so müde, dass er sich im Wohnzimmer auf ein Sofa setzte und einschlief; die Fläschchen blieben un-gefüllt in der Küche stehen. Als seine Lebensgefährtin gegen 8
Uhr wach wurde und nach den Zwillingen sah, entdeckte sie [X.]

blau angelaufen und leblos im
Kinderbett. Von ihr unternommene Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.
[X.] war eine nicht offensichtliche Lungenentzündung
(Fall
2).
5
6
-
6
-
Bei [X.]

s Obduktion am 16.
November 2015 wurden folgende Verlet-
zungen festgestellt: vier relativ frische

auf die Reanimationsmaßnahmen zu-rückführbare

Knochenbrüche
auf der linken [X.], vier nicht mehr ganz frische Knochenbrüche dreier Rippen links und einer Rippe rechts, drei etwas ältere Rippenfrakturen rechts, ein ebenfalls etwas älterer Bruch des rech-ten Speichenknochens
sowie ein mindestens
drei Tage vor dem Tod erlittenes
Schädel-Hirn-Trauma mit einem Bruch des linken Scheitelbeins und typischen Einblutungen.
[X.]

wurde
ebenfalls in ein Krankenhaus gebracht. Dort wurden bei ihr
zwei zeitlich nicht näher eingrenzbare Schädelbrüche im Bereich der rechten und linken Schläfen-
und Scheitelregion mit korrespondierenden Unterblutun-gen, eine etwa ein bis zwei Wochen alte Bruchbildung des linken Oberschen-kelknochens mit massiver umliegender Weichteilschwellung sowie zwei nicht mehr frische, etwa zwei bis drei Wochen alte Bruchbildungen zweier Rippen festgestellt.
2.
Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen. Das [X.] hat seine Überzeugung von dem Tatgeschehen auf die Anga-ben der polizeilichen Vernehmungsbeamten
KHK W.

und KOK B.

ge-
stützt, denen gegenüber sich der Angeklagte im Ermittlungsverfahren im Sinne der Feststellungen geständig eingelassen habe. Der Angeklagte habe dort ein-geräumt, jeweils aus Unachtsamkeit die Säuglinge fallengelassen
und ihre Köp-fe beim Zurücklegen in das Kinderbett zusammengestoßen zu haben; außer-dem habe der Angeklagte bei dieser Vernehmung den Vorwurf von sich gewie-sen, die zahlreichen Knochenbrüche der Kinder verursacht zu haben. Die [X.] hat diese Einlassung des Angeklagten als nicht widerlegbar angese-hen. Es könne ihm nicht nachgewiesen werden, dass er den Säuglingen
die 7
8
9
-
7
-
Knochenbrüche beigebracht oder von solchen gewusst
habe, und nach dem rechtsmedizinischen Gutachten könnten die Verletzungen der Kinder den bei-den festgestellten Fahrlässigkeitstaten
nicht zugeordnet werden.
Daher scheide ein über die Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzungen hinausgehen-der Schuldspruch, etwa wegen fahrlässiger Tötung durch [X.] oder durch Unterlassen, aus. Auch eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen

wie angeklagt

komme nicht in Betracht; dem Angeklag-ten könne ein bedingter Tötungsvorsatz nicht nachgewiesen werden, da ihm am Morgen des 14.
November 2015, als er es unterließ, Hilfsmaßnahmen zu veran-lassen, die für [X.]

bestehende Lebensgefahr nicht bewusst gewesen sei.
II.
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist begründet. Das Urteil weist in zweierlei Hinsicht Rechtsfehler auf, die sich zum Vorteil des Angeklagten ausgewirkt haben können.
1.
Das angefochtene Urteil kann bereits deshalb keinen Bestand haben, weil
das [X.] der ihm obliegenden
umfassenden
Kognitionspflicht (§
264 [X.]) nicht nachgekommen ist.
Dies ist ein auf die Sachrüge hin zu beachten-der Rechtsfehler (vgl. [X.], Urteile vom 27.
April 2017

4
StR
592/16
Rn.
5; vom 6.
April 2017

3
StR
548/16
Rn.
5; vom 24.
Oktober 2013

3
StR
258/13, [X.], 57; vom 27.
Juni 2013

3
StR
113/13
Rn.
3).
a)
Gegenstand der Urteilsfindung ist nach §
264 Abs.
1 [X.] die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhand-lung darstellt. Dabei handelt es sich um den geschichtlichen Vorgang, auf den die Anklage und der Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte
einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Das Tatgericht ist ver-10
11
12
-
8
-
pflichtet, den Unrechtsgehalt dieses Vorgangs
unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu untersuchen, aufzuklären
und ohne Bindung an die der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte rechtliche Bewertung abzuurteilen, soweit dem keine rechtlichen Gründe
entgegenstehen (st.
Rspr.; vgl. [X.], Urteile vom 27. April 2017

4
StR
592/16
Rn.
6; vom 26.
Januar 2017

3
StR
479/16, [X.], 410; vom 8.
November 2016

1
StR
492/15
Rn.
53; vom 29.
Oktober 2009

4
StR
239/09, [X.], 222, 223; [X.]/[X.], [X.], 60.
Aufl., §
264 Rn.
10).
b)
Dies
hat das [X.] unterlassen.
aa)
Es hat seine Prüfung lediglich auf die beiden vermeintlichVorfäl-le

Morgen des 14.
Nbeschränkt und

entsprechend der Einlassung des Angeklagten, er habe
die Säuglinge in beiden Fällen versehentlich fallen gelassen

insoweit lediglich fahrlässige Tathandlungen des Angeklagten festgestellt, die sich im Aufkom-men von Schmerzen bei den Säuglingen erschöpft hätten und denen die
in der Anklageschrift bezeichneten Schädelbrüche, sonstigen Schädelverletzungen und weiteren Knochenbrüche nicht zugeordnet
werden
könnten.
bb)
Bei einer Prüfung dieser beiden vermeintlichen Geschehnisse durfte es indes nicht sein Bewenden haben, denn der Verfolgungswille der Staatsan-waltschaft
war ersichtlich darauf gerichtet, sämtliche Tathandlungen, die zu den in der Anklage bezeichneten schweren
Verletzungen der beiden Säuglinge führ-ten, der Kognition des Gerichts zu unterbreiten.
Zwar bildet den Rahmen der Untersuchung zunächst das tatsächliche Geschehen, wie
es die Anklage umschreibt. [X.], wie hier, sind aber regelmäßig bereits durch die Art des Erfolgs und das Tatopfer hinreichend kon-13
14
15
16
-
9
-
kretisiert, so dass die [X.] auch bei Abweichungen vom zugelassenen Anklagesatz hinsichtlich der Tatzeit, dem [X.] und der Art
und Weise der Tat-begehung

etwa bei einem Austausch von
Vorsatz und Fahrlässigkeit oder [X.] und Unterlassen

gewahrt bleiben kann (vgl. [X.], Urteile
vom 11.
Januar 1994

5
StR
682/93, [X.]St 40, 44, 46;
vom 17.
April 1984

1
StR
116/84, [X.], 469
f.; vom 16.
Dezember 1982

4
StR
644/82, [X.], 174
f.;
LR-[X.]/Stuckenberg,
26.
Aufl.,
§
264 Rn.
97, 104), wobei entsprechende
Än-derungen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht erforderlichenfalls im Wege eines Hinweises nach
§
265 [X.] deutlich zu machen
sind.
Da das [X.] die angeklagten Verletzungen den von ihm festge-stellten Tatgeschehnissen
nicht zuordnen konnte, war es im Rahmen der ihm obliegenden umfassenden Kognitionspflicht gehalten zu prüfen, ob andere Handlungen des Angeklagten oder ein Unterlassen ursächlich für die schweren Verletzungen der Kinder waren. Den Blick für diese weitergehende [X.] hat es sich indes verstellt, indem es ersichtlich meinte, der [X.] sei auf die in der Anklage angegebenen Tatzeiten und Tathandlungen be-schränkt.
2.
Auch die Beweiswürdigung des [X.]s weist durchgreifende Rechtsfehler auf.
a)
Die Beweiswürdigung ist dem Tatgericht vorbehalten (§
261 [X.]). Es
obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhand-lung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Die Schlussfolgerungen des Tatgerichts brauchen nicht zwingend zu sein; es ge-nügt, dass sie möglich sind. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unter-liegt nur, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist,
gegen 17
18
19
-
10
-
Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Gericht über-spannte Anforderungen an die
Überzeugungsbildung gestellt hat (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Urteil vom 13.
Juli 2016

1
StR
94/16
Rn.
9). Die Überzeugung des Tatgerichts muss in den Feststellungen und der sie tragenden Beweiswürdi-gung allerdings eine ausreichende objektive Grundlage finden. Insbesondere in Fällen, in denen nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung ein erheblicher [X.] gegen den Angeklagten besteht, ist es erforderlich, in die Beweiswür-digung und ihre Darlegung in den Urteilsgründen alle wesentlichen gegen den Angeklagten sprechenden Umstände einzubeziehen und sie einer umfassen-den Gesamtwürdigung zu unterziehen (vgl. [X.], Urteile vom 5.
April 2017

2
StR
593/16
Rn.
11; vom 11.
November 2015

1
StR
235/15, [X.], 47 f.).
b)
An diesen Maßstäben gemessen hält die tatrichterliche Beweiswürdi-gung rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie ist insgesamt nicht tragfähig, ins-besondere in weiten Teilen lückenhaft.

s-sung des Angeklagten im Ermittl

16). Ein Geständnis enthebt das Tatgericht
jedoch nicht von seiner Pflicht, dieses

wie jedes ande-re Beweismittel

einer kritischen Prüfung auf seine Plausibilität und Tragfähig-keit zu unterziehen und zu den sonstigen Beweismitteln in Beziehung zu setzen
(vgl. [X.], Urteil vom 25.
Oktober 2012

4
StR
170/12, [X.], 52
f.; Beschlüsse vom 29.
Dezember 2015

2
StR
322/15, [X.], 147
f.; vom 5.
November 2013

2
StR
265/13, [X.], 170).
Die Plausibilität des vor der Polizei abgelegten Geständnisses des Angeklagten begegnet in mehr-facher Hinsicht durchgreifenden Bedenken,
mit denen sich das [X.], obwohl sich dies aufdrängte,
rechtsfehlerhaft nicht auseinandergesetzt hat.
20
21
-
11
-
aa)
Die Schilderungen des Angeklagten erscheinen
bereits für sich be-trachtet nicht gleichzeitig und überdies zu
einem Zeitpunkt aus d[X.] hochgenommen ha-ben, als er die Fläschchen für ihre geplante Fütterung noch gar nicht zubereitet hatte, sondern diese
noch leer in der Küche standen; was er mit den Säuglin-gen bis zur Zubereitung der Fläschchen vorhatte, erschließt sich nicht.
Anlass zu einer kritischen Prüfung der Einlassung gab zudem die auffal-lende Häufung von vorgeblich versehentlichem Fehlverhalten und Ungeschick-lichkeiten des Angeklagten bei Betreuung der Kinder: das Fallenlassen des Säuglings [X.]

Anfang November 2015, das Fallenlassen beider Kinder am
14.
November 2015, der nachfolgende
Fußtritt gegen [X.]

und das
anschlie-
ßende nochmalige Wegrutschen beider Säuglinge aus dem Arm des Angeklag-ten, wobei ihre Köpfe heftig aneinandergestoßen sein sollen.
Dies gilt umso mehr, als
der Angeklagte

trotz seines behaupteten [X.] über das Fallenlassen der Kinder

beide Säuglinge
wiederum gleichzeitig vom Boden hochgenommen und ins Kinderbett zurückgelegt haben will.
Mit seinem behaupteten Vorhaben, die bereits vorher weinenden oder [X.] zu beruhigen, ist schließlich seine Behauptung, sie unmittelbar nach ihren schmerzhaften Stürzen und dem Fußtritt gegen [X.]

ohne weitere Versorgung einfach ins Bett
zurückgelegt und das Kinderzimmer verlassen zu haben, nur schwer in [X.] zu bringen,
zumal die Säuglinge im Bett nochmals deutlich hörbar mit den
Köpfen aneinandergestoßen sein sollen.
bb)
Des Weiteren hat das Schwurgericht davon abgesehen, die Entste-hung der Einlassung des Angeklagten näher darzulegen und sein Einlassungs-verhalten einer kritischen Würdigung zu unterziehen, obwohl hierzu mit Blick 22
23
24
25
-
12
-
auf die Prüfung ihrer Glaubhaftigkeit im vorliegenden Fall Anlass bestand. [X.] hat es sich nicht mit der naheliegenden Möglichkeit auseinanderge-setzt, dass der Angeklagte, der zu Beginn seiner polizeilichen Vernehmung eine Misshandlung der Kinder insgesamt in Abrede gestellt
hatte
und

allerdings nur fahrlässige

Tathandlungen erst sukzessive und auf entsprechende Vor-halte hin einräumte, mit dieser Anpassung seiner Einlassung an die jeweiligen Ermittlungserkenntnisse

allein dem Ziel diente, seine Verantwortung für die Verletzungen der Kinder in einem mög-lichst günstigen Licht erscheinen zu lassen.
cc)
Überdies ist eine kritische Hinterfragung des Geständnisses vor dem Hintergrund der Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen
Dr.
Wi.

nicht erfolgt.
Nach dem rechtsmedizinischen Gutachten sind die unterschiedlich alten und unterschiedlich schweren Knochenbrüche und weiteren Verletzungen an verschiedenen Stellen (bei [X.]

: Brüche beider Schädeldachseiten, des
Oberschenkels und zweier Rippen; bei [X.]

: schweres Schädel-Hirn-Trauma,
Frakturen des Scheitelbeins und der Speiche, jüngere und ältere Rippenbrüche, Hautabschürfungen im Halsbereich und in der Umgebung des [X.]) jeweils erklären; in der Zusammenschau sei vielmehr bei beiden Kindern von einer desmisshandlung

(UA
20
f.).
Auch vor diesem Hintergrund hätte das [X.] erwägen und in [X.] Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Einlassung einstellen müssen, dass der Angeklagte in seiner Vernehmung die konkreten Abläufe und das Ausmaß der Geschehnisse sowie die Frage eines willentlichen Vorgehens wahrheitswidrig 26
27
28
-
13
-
dargestellt haben könnte. Diese Möglichkeit hat das [X.] jedoch rechts-fehlerhaft nicht in seine Beweiswürdigung einbezogen.
dd)
[X.] ist schließlich die Frage geblieben, ob es einen Alternativ-täter gibt, der den beiden Säuglingen die
zahlreichen schweren Verletzungen, die mit der Einlassung des Angeklagten zum Geschehen am 14.
November 2015 nicht zu vereinbaren
sind, beigebracht haben könnte.
Die Tragfähigkeit des Geständnisses, auf dem die Verurteilung des [X.] (lediglich) wegen fahrlässiger Körperverletzung beruht, ist nach alle-dem nicht hinreichend belegt. Da damit auch die Verurteilung wegen [X.] Körperverletzung in Frage steht, wirkt das Rechtsmittel der Staatsanwalt-schaft auch zugunsten des Angeklagten (§
301 [X.]).
III.
Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entschei-dung. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an ein anderes [X.] zu verweisen

354 Abs.
2
Satz
1 [X.]).
Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Soweit sich im Rahmen der Prüfung Anhaltspunkte für eine Straftat der Misshandlung von Schutzbefohlenen nach §
225 StGB,
insbesondere in der Tatbestandsvariante des [X.],
ergeben, wären

da es sich insoweit um eine tatbestandliche Handlungseinheit handeln kann
(vgl. [X.], Urteil vom 17.
Juli 2007

5
StR
92/07, [X.], 304, 306; Beschluss vom 20.
März 2012

4
StR
561/11, [X.], 534, 537)

gegebenenfalls auch weitere Ver-letzungen
der Säuglinge, die im
Anklagesatz
keinen Niederschlag gefunden 29
30
31
32
33
-
14
-
haben, vom [X.] erfasst und unterlägen nach einem entsprechenden Hinweis gemäß §
265 [X.] der gerichtlichen Kognition.
Dies kann, etwa bei Feststellung oder fehlender Ausschließbarkeit eines Alternativtäters,
auch für ein pflichtwidriges Unterlassen des Angeklagten gelten,
sofern sich Anhalts-punkte
dafür ergeben sollten, dass er es pflichtwidrig unterließ, gegen mehrere Verletzungshandlungen oder Unterlassungen des [X.], die in ihrer Gesamtheit ursächlich für den Todeseintritt des Kindes [X.]

waren.
Sost-Scheible
Roggenbuck
Cierniak

Quentin
Feilcke

Meta

4 StR 127/17

17.08.2017

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 17.08.2017, Az. 4 StR 127/17 (REWIS RS 2017, 6477)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 6477

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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