Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.05.2011, Az. 2 BvR 1367/10

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2011, 6601

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen einer ehelichen Beistandsgemeinschaft - hier: Verweigerung von Eilrechtsschutz gegen drohende Abschiebung trotz pflegebedürftigen Ehepartners des betroffenen Ausländers verletzt Art 6 Abs 1 GG - auslegungsleitende Funktion des § 1353 Abs 1 S 2 BGB für § 5 Abs 2 S 2 AufenthG 2004


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 21. Mai 2010 - 6 [X.]/10 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an den [X.]Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 4.000 € (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

2

1. Der 31jährige Beschwerdeführer ist [X.] Staatsangehöriger. Seit August 2006 ist er mit der in [X.] bei ihren Eltern lebenden [X.] verheiratet. Seine Ehefrau, seit Juli 2008 [X.] Staatsangehörige, ist wegen verschiedener körperlicher und psychischer Erkrankungen auf die dauernde Hilfe von [X.] angewiesen. Sie ist als schwerbehindert anerkannt; ihre Mutter wurde für sie zur Betreuerin bestellt. Zwei Anträge des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung wurden 2007 und 2008 abgelehnt. Nachdem er im September 2009 mit einem Schengen-Visum in das [X.] eingereist war, beantragte er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

3

2. Die Ausländerbehörde lehnte den Antrag mit Bescheid vom 3. Dezember 2009 ab und drohte die Abschiebung an. Die Aufenthaltserlaubnis sei nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] zu versagen, weil der Beschwerdeführer bei der Einreise nicht im Besitz des notwendigen Visums für den von Anfang an beabsichtigten Daueraufenthalt gewesen sei. Von der Einhaltung des [X.]s könne nicht abgesehen werden. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe dem Beschwerdeführer nicht zu, weil er durch falsche Angaben gegenüber der Auslandsvertretung die Einreisebestimmungen gezielt umgangen habe. Es sei auch nicht erkennbar, dass ihm die Visumnachholung nicht zumutbar wäre. Sein Verhalten könne schon aus [X.] Gründen nicht hingenommen werden. Zudem bestünden Zweifel, ob die geschlossene Ehe rechtsgültig sei und ob eine eheliche Lebensgemeinschaft vorliege.

4

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid Klage, über die noch nicht entschieden worden ist. Gleichzeitig beantragte er die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Die Nachholung des [X.]s zum Zwecke der Familienzusammenführung sei ihm nicht zumutbar. Weil die schwere Erkrankung seiner Ehefrau seine ununterbrochene Anwesenheit verlange, sei das Ermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] auf Null reduziert. Im [X.] habe er keine falschen Angaben zu Zweck und Dauer des beabsichtigten Aufenthalts gemacht. Damals sei er von einer akut lebensbedrohlichen Erkrankung seiner Ehefrau ausgegangen und habe nicht mit einem längerfristigen Aufenthalt gerechnet. Die Ehe sei rechtswirksam und werde in einem gemeinsamen Haushalt gelebt.

5

4. Mit Beschluss vom 15. März 2010 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab, da sich der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig erweise. Die Versagung der Aufenthaltserlaubnis werde jeweils selbständig durch das Fehlen der Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 und § 5 Abs. 2 Satz 1 [X.] gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer habe zum einen Falschangaben zur Erlangung des Visums gemacht. Zum anderen lägen die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] nicht vor. Einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe der [X.] nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a [X.] entgegen. Die Nachholung des [X.]s sei dem Beschwerdeführer zumutbar, selbst wenn seine Anwesenheit zu einer besseren psychischen Stabilität seiner Ehefrau geführt haben sollte. Schließlich greife der allgemeine Versagungsgrund nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 [X.] ein.

6

5. Mit seiner Beschwerde gegen diese Entscheidung machte der Beschwerdeführer geltend, dass die [X.]nach § 5 Abs. 2 Satz 1 [X.] nicht erfüllt sein müsse, weil ein Fall des § 39 Nr. 3 [X.] vorliege. Zudem sei, weil seine Ehefrau seines Beistandes bedürfe, das Ermessen der Behörde nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] auf Null reduziert. Der Regelversagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.] liege nicht vor. Der Beschwerdeführer habe im [X.] weder Falschangaben gemacht noch sei er auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen worden. Schließlich führe er mit seiner Frau eine eheliche Lebensgemeinschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG, was die Annahme eines [X.] nach § 27 Abs. 1a [X.] ausschließe; insoweit komme es auf die gegenwärtigen Verhältnisse an.

7

6. Mit Beschluss vom 21. Mai 2010 wies der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde zurück: Die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertige sich jedenfalls daraus, dass die Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 [X.] nicht erfüllt sei. Der Beschwerdeführer sei vom [X.] nicht durch die Ausnahmeregelung des § 39 Nr. 3 [X.] befreit. Die Entscheidung der Ausländerbehörde, von ihrem Ermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] keinen Gebrauch zu machen, lasse keine Ermessensfehler erkennen. Insbesondere sei bei der Abwägung die Bedeutung des grundrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie nicht verkannt worden. Besondere individuelle Gründe, die es für den Beschwerdeführer unzumutbar machen würden, das [X.] nachzuholen, seien von ihm nicht dargetan worden. Die Ehefrau des Beschwerdeführers habe bis zu dessen Einreise unter der Obhut ihrer Familie gestanden. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass ihre Betreuung nicht wenigstens vorübergehend durch ihre hier lebenden Familienangehörigen sichergestellt werden könne. Auch unter Berücksichtigung ihrer schwierigen gesundheitlichen Situation sei sie deshalb offenbar nicht auf die ununterbrochene Anwesenheit des Beschwerdeführers angewiesen. Ob die (Regel-) Versagungsgründe nach [ref=8655dd81-11ac-49c3-b021-9385281b8c23]§ 27 Abs. 1a Nr. 1 [X.][/ref] oder nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 [X.] vorlägen, könne folglich dahingestellt bleiben.

8

7. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verletzungen in Art. 6 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 G[X.] Aus Art. 6 Abs. 1 GG folge, dass das Ermessen der Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] auf Null reduziert sei. Die schwere Erkrankung der Ehefrau des Beschwerdeführers und die voraussichtlich unabsehbar lange Dauer des [X.]s ließen keine andere Beurteilung zu. Der Verwaltungsgerichtshof entwerte die Ehe und die eheliche Lebensgemeinschaft, indem er diese auf eine Stufe mit Betreuungs- und Beistandsleistungen beliebiger sonstiger Verwandter stelle und damit den Ehepartner zum beliebig austauschbaren Gesellschafter degradiere. Auch verkenne er die Notwendigkeit festzustellen, welcher Trennungszeitraum den Eheleuten unter den gegebenen Umständen überhaupt zuzumuten sei. Art. 19 Abs. 4 GG gebiete, durch die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vollendete Tatsachen zu verhindern, wenn diese auch für die Entscheidung in der Hauptsache Bedeutung gewinnen können.

9

8. Das [X.] untersagte im Wege der einstweiligen Anordnung der Ausländerbehörde, bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde die angedrohte Abschiebung zu vollziehen (Beschluss der [X.] des Zweiten Senats des [X.]s vom 29. Juni 2010 - 2 BvR 1367/10 -).

9. Dem [X.] wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.


II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in [ref=fb7befb2-7988-46e6-a5d4-3497289c8aed]§ 90 Abs. 1 [X.]] genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden ([[X.] 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]]). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von [ref=f2bf2f6e-f079-4b6a-8c8c-45970674c181]§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]]. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus [ref=7970d488-0fed-4db6-8229-de8babf9dc5a]Art. 6 Abs. 1 [X.]].

1. Der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]) steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Die geltend gemachten Grundrechtsverstöße beruhen gerade auf der Versagung von [X.] (vgl. zu diesem Erfordernis [X.] 35, 382 <397 f.>; 53, 30 <53 f.>; 59, 63 <83 f.>; 76, 1 <40>). Bereits die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes hat die Möglichkeit einer Abschiebung des Beschwerdeführers und damit die Vereitelung des von ihm beanspruchten Rechts auf ein ununterbrochenes eheliches Zusammenleben zur Folge, weshalb er nicht auf die noch ausstehende Entscheidung im Hauptsacheverfahren verwiesen werden kann.

2. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG.

a) Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende [X.], nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren, die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im [X.] aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. [X.] 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>; [X.]K 2, 190 <193 f.>). Der Betroffene braucht es nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung dieser Gesichtspunkte daran gehindert zu werden, bei seinem im [X.] lebenden Ehepartner ständigen Aufenthalt zu nehmen. Eingriffe in seine diesbezügliche Freiheit sind nur dann und insoweit zulässig, als sie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sind (vgl. [X.], 26 <27>).

Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. [X.], 26 <27 f.>). Das [X.] bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Das [X.] trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.]) abzusehen. Der mit der Durchführung des [X.]s üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik [X.] begehrt, regelmäßig hinzunehmen (vgl. [X.], 562 <567>).

Erfüllt die Familie im [X.] die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in [X.] erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen [X.]s nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. [X.] 80, 81 <95> zur [X.]). Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. [X.], 562 <567> m.w.N.). Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die Beistandsgemeinschaft als Hausgemeinschaft gelebt wird oder ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Oktober 1995 - 2 BvR 901/95 -, juris Rn. 8; [X.]K 7, 49 <56> m.w.N.).

b) Diesen Grundsätzen wird der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs nicht gerecht. Die darin vorgenommene Überprüfung der ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] verkennt die aufenthaltsrechtlichen [X.]einer ehelichen Beistandsgemeinschaft.

Der Verwaltungsgerichtshof hat die Ablehnung von [X.] maßgeblich darauf gestützt, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis die Einreise des Beschwerdeführers ohne das nach § 6 Abs. 4 Satz 1 [X.] für Daueraufenthalte erforderliche nationale Visum entgegenstehe und die Entscheidung der Ausländerbehörde, von diesem Erfordernis nach § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] nicht abzusehen, nicht zu beanstanden sei. Hingegen hat er die Rechtswirksamkeit der Ehe nicht angezweifelt und die weiteren von der Ausländerbehörde und vom Verwaltungsgericht angeführten Ablehnungsgründe ausdrücklich dahinstehen lassen. Bei der Überprüfung der von der Ausländerbehörde getroffenen Ermessensentscheidung hat der Verwaltungsgerichtshof zwar die einschlägige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung genannt. Die anschließende Verneinung besonderer Gründe für das Absehen vom [X.] steht indes mit den sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Vorgaben nicht in Einklang.

Der Beschwerdeführer hatte bereits gegenüber der Ausländerbehörde angegeben, dass seine Ehefrau wegen ihrer Erkrankung auf seinen Beistand dringend angewiesen sei. Im Beschwerdeverfahren hatte er dargelegt, dass beide Ehepartner in einem gemeinsamen Haushalt lebten und er Verantwortung für seine Ehefrau übernehme, indem er sie im Krankenhaus besuche und Versorgungs- und Pflegeleistungen erbringe. Der [X.] hat dieses Vorbringen nicht in Zweifel gezogen, sondern allein darauf abgestellt, die Ehefrau des Beschwerdeführers sei auf dessen ununterbrochene Lebenshilfe nicht angewiesen, weil ihre Betreuung wenigstens vorübergehend durch ihre in [X.] lebenden Familienangehörigen sichergestellt werden könne. Mit dieser Erwägung lässt der Verwaltungsgerichtshof den verfassungsrechtlichen Schutz, der der ehelichen Lebensgemeinschaft gemäß [[X.]-4cc4-8380-255fced87c1f]Art. 6 Abs. 1 [X.]] zukommt, außer [X.]. Selbst wenn er, was dem angegriffenen Beschluss nicht zweifelsfrei zu entnehmen ist, das Bestehen einer aufenthaltsrechtlich schützenswerten Beistandsgemeinschaft nicht in Abrede stellen wollte, verfehlt der Verwaltungsgerichtshof jedenfalls die daraus zu ziehenden Konsequenzen.

Der verfassungsrechtliche Schutz der ehelichen Beistandsgemeinschaft beruht zum einen darauf, dass Art. 6 Abs. 1 GG den Staat verpflichtet, die Familiengemeinschaft sowohl im [X.] als auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich als eigenständig und selbstverantwortlich zu respektieren (vgl. [X.] 53, 257 <296>; 61, 319 <346 f.>). Die Ehegatten bestimmen in gleichberechtigter Partnerschaft ihre persönliche und wirtschaftliche Lebensführung. Die Aufgabenverteilung in der Ehe unterliegt ihrer freien Entscheidung ([X.] 61, 319 <347> m.w.N.). Zum anderen gewährleistet die Verfassung Ehe und Familie nicht abstrakt, sondern in der verfassungsgeleiteten Ausgestaltung, wie sie den herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht (vgl. [X.] 15, 328 <332>; 31, 58 <82 f.>; 53, 224 <245>). Die Reichweite der Schutzwirkungen des Art. 6 GG wird insoweit von den das verfassungsrechtliche Bild von Ehe und Familie auch im Allgemeinen prägenden Regelungen der § 1353 Abs. 1 Satz 2, §§ 1626 ff. BGB mitbestimmt (vgl. [X.] 76, 1 <43>; [X.]K 7, 49 <57>). § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB hält die Ehegatten an, füreinander Verantwortung zu tragen. Diese Pflicht beinhaltet wechselseitigen Beistand in Zeiten der Bedrängnis und insbesondere in Zeiten besonderer körperlicher und seelischer Belastungen. Der Gesetzgeber hat diese Beistandspflicht als Rechtspflicht ausgestaltet, deren näherer Inhalt von der jeweiligen konkreten Situation abhängig ist (vgl. [X.] 117, 316 <327>). In der zivilgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Ehegatten im Rahmen dieser Beistandspflicht grundsätzlich einander auch Krankenpflege schulden (vgl. [X.], Urteil vom 10. Februar 1998 - 1 UF 207/97 -, juris Rn. 32).

[X.] hinsichtlich der persönlichen Lebensführung und die Bestimmung des grundrechtlichen Schutzes auch anhand § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB sind für § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] auslegungsleitend. Kommt es für die aufenthaltsrechtliche Erheblichkeit der ehelichen Beistandsgemeinschaft nicht darauf an, ob die von dem ausländischen Ehegatten tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden kann, so wird in der Regel davon auszugehen sein, dass die Nachholung des [X.]s nicht zumutbar im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] ist. Dementsprechend werden auch in der aufenthaltsrechtlichen Kommentarliteratur und der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte Krankheit und Pflegebedürftigkeit des Ehepartners, die diesen mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen sein lassen, als verfassungsrechtlich gebotene Anwendungsfälle von § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] genannt (vgl. [X.], Beschluss vom 25. September 2008 - 2 M 184/08 -, juris Rn. 4; [X.], in: GK-[X.], § 5 Rn. 174 , jeweils m.w.N.). Der Verwaltungsgerichtshof hätte sich angesichts dessen mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob im Falle des Beschwerdeführers für die Entscheidung der Ausländerbehörde, vom [X.] nicht abzusehen, überhaupt Raum bleibt, und diese Frage nur dann bejahen dürfen, wenn besondere Umstände dafür sprechen, dass den Ehegatten eine vorübergehende Trennung zuzumuten ist.

3. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs beruht auf der Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] den Beschluss auf und verweist die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurück. Auf das Vorliegen des weiter gerügten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG kommt es nicht an.

III.

Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des [X.] wird nicht zur Entscheidung angenommen; insoweit wird von einer Begründung abgesehen (§ 93a Abs. 2, § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]).


IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 [X.], die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 1367/10

17.05.2011

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 21. Mai 2010, Az: 6 B 870/10, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, Art 6 Abs 1 GG, Art 6 Abs 2 GG, § 55 Abs 2 Nr 1 Buchst a AufenthG 2004, § 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG 2004, § 5 Abs 2 S 1 Nr 1 AufenthG 2004, § 5 Abs 2 S 2 AufenthG 2004, § 39 Nr 3 AufenthV, §§ 1626ff BGB, § 1353 Abs 1 S 2 BGB, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 37 Abs 2 S 2 RVG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.05.2011, Az. 2 BvR 1367/10 (REWIS RS 2011, 6601)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6601

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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