VG Ansbach, Urteil vom 11.05.2022, Az. AN 3 K 21.00664

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Gegenstand

Verhältnis von Vorbescheid und nachfolgender Baugenehmigung, Gebot der Rücksichtnahme bei Einsichtmöglichkeiten (verneint)


Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen. Die Kläger tragen die Kosten des jeweiligen Verfahrens als Gesamtschuldner.

2. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten jeweils selbst.

3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines dem Beigeladenen erteilten Vorbescheids (AN 3 K 21.00664) und einer nachfolgenden Baugenehmigung (AN 3 K 21.01708) für die Erweiterung eines Wohnhauses mit zwei Stellplätzen auf dem Grundstück FlNr. 97/41 der Gemarkung … (…) in … Der Beigeladene ist Eigentümer des eingangs genannten Grundstücks, welches aktuell mit einem zweigeschossigen Einfamilienhaus mit Flachdach und Garage bebaut ist. Das Wohngebäude ist grenzständig an der westlichen Grundstücksgrenze errichtet, die Garage schließt sich unmittelbar östlich an das Wohnhaus an.

Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans Nr. 1 der Standortgemeinde aus dem Jahr 1973. Als Art der baulichen Nutzung wird ein reines Wohngebiet festgesetzt. Die Lage der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen bedingt und bezweckt, dass sich in der Umgebung in Ost-West-Richtung vor allem sogenannte Kettenhauspaare bilden, die jeweils zu einer Seite grenzständig stehen und im Übrigen mit Abstand zu jeweils anderen Grundstücksgrenze errichtet wurden. Die Baugrenzen definieren auf dem Grundstück zwei Baufenster, wobei das westliche für Bebauung mit einem Wohngebäude mit zwei Geschossen und das östliche nur für Bebauung mit Garagen und eingeschossig zugelassen ist. An den Grundstücksgrenzen sind in Ost-West-Richtung nur Drahtzäune mit einer Höhe von maximal 1,5 m als Einfriedung zulässig.

Die Kläger sind Eigentümer des östlich an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücks FlNr. 97/42 (* … **). Dieses ist ebenfalls mit einem zweigeschossigen Wohnhaus samt Garage bebaut. Zum Grundstück des Beigeladenen besteht aufgrund der Baugrenzen ein Abstand von ca. 5 m. Das klägerische Grundstück und das Beigeladenengrundstück liegen damit in unterschiedlichen Kettenhauspaaren.

Mit Beschluss des Gemeinderats der Standortgemeinde vom 19. November 2010 wurde eine neue „städtebauliche Leitlinie im Sinne der §§ 30, 31 BauGB“ als „Orientierungsrahmen“ für das Plangebiet beschlossen. Eine förmliche Änderung des Bebauungsplans erfolgte nicht, jedoch sollte die Leitlinie schrittweise die Anpassung der damals vierzig Jahre alten Planung an moderne Wohnverhältnisse ermöglichen. Der durch die Grundstücksgrenzen erforderliche Freiraum zwischen den Kettenhauspaaren solle zukünftig nicht mehr 10 m (5 m auf beiden Grundstücken), sondern nunmehr 6 m (3 m auf beiden Grundstücken) betragen.

Mit Bauantrag vom 4. Dezember 2020 beantragte der Beigeladene einen Vorbescheid für die Erweiterung des Wohngebäudes unter Abbruch der bisherigen Garage und der Errichtung von zwei Stellplätzen mit folgenden Fragestellungen:

1. Wird einer Überbauung der für Garagen vorgesehenen Flächen durch die Erweiterung des Wohnhauses zugestimmt und wird die hierfür erforderliche Befreiung erteilt?

2. Wird den Überschreitungen der Baugrenzen - wie zeichnerisch dargestellt - zugestimmt und wird die hierfür erforderliche Befreiung erteilt?

3. Wird die Errichtung von Stellplätzen vor dem Gebäude und außerhalb der Baugrenzen - wie zeichnerisch dargestellt - zugelassen?

4. Ist das Vorhaben über die zuvor gestellten Fragen hinaus und unter Voraussetzung, dass die im Bebauungsplan festgelegten Maße der baulichen Nutzung (GFZ, GRZ) nicht überschritten werden, planungsrechtlich zulässig?

Der Beigeladene beabsichtigt, östlich an das bestehende Wohngebäude einen ca. 7,20 m x 16 m breiten, eingeschossigen Anbau mit Flachdach mit einer Höhe von 3,60 m zu errichten. Dazu wird die bestehende Garage abgerissen und stattdessen zwei Stellplätze vor dem Anwesen hergestellt. Der Abstand zur Grundstücksgrenze der Kläger beträgt mindestens 3 m.

Die Standortgemeinde erteilte mit Beschluss vom 17. Dezember 2020 ihr Einvernehmen für die Erteilung von zwei Befreiungen hinsichtlich der Nutzung der Garagenfläche für den Wohnanbau und der Überschreitung der Baugrenze.

Unter dem 8. März 2021 wurde der beantragte Vorbescheid unter expliziter Gewährung von Befreiungen für den Garagenstandort und die Baugrenzen für das Hauptgebäude erteilt. Zur Begründung führt der Bescheid im Wesentlichen aus, dass eine Überbauung der für Garagen vorgesehenen Flächen durch das Hauptgebäude bereits im Umfeld zugelassen worden sei. Baugrenzenüberschreitungen lägen im Bereich des Bebauungsplans mehrfach vor. Stellplätze seien, da im Bebauungsplan nichts Abweichendes geregelt sei, außerhalb der festgesetzten Baugrenzen zulässig. Anhand der vorgelegten Unterlagen könne nur eine Aussage zu den vorgenannten Befreiungen getroffen werden. Eine planungsrechtliche Unzulässigkeit sei nach den Unterlagen nicht erkennbar. Sollten weitere Befreiungen erforderlich werden, müsste darüber im Bauantragsverfahren entschieden werden.

Gegen den Vorbescheid ließen die Kläger Klage erheben.

Mit Bauantrag vom 4. April 2021 wurde die Baugenehmigung für das streitgegenständliche Vorhaben beantragt. Mit Beschluss des Gemeinderats vom 19. Mai 2021 wurde das gemeindliche Einvernehmen verweigert. Zur Begründung führt die Standortgemeinde aus, dass ein neuer Grundsatzbeschluss am 18. Februar 2021 im Zuge der Novellierung der Abstandsflächen in der BayBO gefasst worden sei. Die Überschreitung des Baufensters sei massiv, wodurch neue Präzedenzfälle geschaffen würden und eine Beeinflussung der Wohnqualität zu befürchten sei. Aufgrund des angefochtenen Vorbescheids vom 8. März sei man nicht mehr an das dort erteilte Einvernehmen gebunden.

Mit Bescheid vom 10. August 2021 wurde die Baugenehmigung unter expliziter Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens für das Bauvorhaben erteilt. Zur Begründung führt der Bescheid im Wesentlichen aus, dass die erforderlichen Befreiungen bereits Antragsgegenstand im Antrag auf den Vorbescheid gewesen seien und dort im Einvernehmen mit der Standortgemeinde erteilt worden seien. Somit sei über die Befreiungen nicht erneut zu entscheiden gewesen. Der zuletzt vorgelegte Plan entspreche den vorgelegten Plänen zum Vorbescheid. Das Einvernehmen der Gemeinde werde ersetzt, da dieses zu Unrecht verweigert worden sei und der Bauherr einen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung habe. Das gemeindliche Einvernehmen sei für die Erteilung von Befreiungen verweigert worden, die nicht Bestandteil dieses Bauantrages seien, sondern bereits im Vorbescheid erteilt worden seien. Da kein bauplanungsrechtlicher Ablehnungsgrund vorliege, habe die Standortgemeinde das Einvernehmen nicht verweigern dürfen.

Mit Schriftsätzen vom 12. April 2021 und vom 17. September 2021 ließen die Kläger durch ihren Bevollmächtigten Klage gegen den Vorbescheid und die Baugenehmigung erheben. Zur Begründung wird mit Schriftsatz vom 3. Juni 2021 und im wesentlichen inhaltsgleichen Schriftsatz vom 18. November 2021 vorgetragen, dass in tatsächlicher Hinsicht der Beigeladene die Planung seit Erteilung des Vorbescheids verändert habe und unter anderem die Lage des Anbaus nach Süden verschoben worden sei und die Stellplätze anders auf dem Baugrundstück angeordnet werden sollten. Gleichwohl habe das Landratsamt mit Bescheid vom 10. August 2021 die streitgegenständliche Baugenehmigung erteilt und das gemeindliche Einvernehmen ersetzt. Das Landratsamt habe sich dabei darauf gestützt, dass der Beigeladene seine Pläne nach der Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens erneut geändert bzw. wieder auf die ursprüngliche Planung zurückgeführt habe. Dies sei offensichtlich mit dem Ziel erfolgt, so der Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens nachträglich die Grundlage zu entziehen.

Der Bescheid vom 8. März 2021 und der Bescheid vom 10. August 2021 seien jeweils rechtswidrig und verletzten die Kläger in ihren Rechten. Beide Bescheide seien rechtswidrig, da das Bauvorhaben des Beigeladenen nicht genehmigungsfähig sei. Insbesondere seien die erteilten Befreiungen städtebaulich nicht vertretbar und berührten die Grundzüge der Planung. Auch seien sie unter Würdigung nachbarlicher Interessen nicht mehr mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Zudem habe das Landratsamt das gemeindliche Einvernehmen zu Unrecht ersetzt. Die Bebauungspläne der Standortgemeinde zeigten eine klare Aufteilung nach verschiedenen Baugebieten auf und seien auf Basis des Flächennutzungsplanes erstellt. Das Grundstück des Beigeladenen liege im räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 1. Aufgrund der exponierten Randlage des betreffenden Wohngebiets im Bebauungsplan zwischen einem Landschaftsschutzgebiet und einem FFH-Schutzgebiet komme der Grünflächensituation eine besondere Bedeutung zu. Die Grünflächen im streitgegenständlichen Bebauungsplan seien bewusst ausreichend groß gehalten, um eine möglichst enge Verzahnung zwischen angrenzendem Wald und Wohngebiet zu gewährleisten. Aus diesem Grund seien im Bebauungsplan nur eingeschränkte Baufenster für eine lockere Wohnbebauung mit einem großen Freiflächenanteil ausgewiesen. Der geplante Anbau führe zu einer deutlichen Vergrößerung des Baufensters. Die Grundfläche des Bestandsgebäudes betrage 82 qm. Diese würde sich um die Grundfläche des Anbaus (110 qm) um 135% vergrößern. Damit werde die Beibehaltung der Gebietsfunktion nicht mehr gewährleistet. Nach den Festsetzungen des Bebauungsplans sollten die Gebäude jeweils zweier aneinander angrenzender Grundstücke an der Grundstücksgrenze aneinandergebaut werden. Der Bereich zu den jeweils auf der anderen Seite angrenzenden Grundstücken solle auf beiden Grundstücksseiten frei bleiben (wird weiter ausgeführt). Entgegen den Festsetzungen solle der vom Beigeladenen geplante Anbau auf derjenigen Grundstücksseite errichtet werden, die gemäß den Festsetzungen des Bebauungsplans von der Bebauung frei zu halten sei. Durch den geplanten Anbau auf der „falschen Seite“ sei die Beibehaltung des Gebietscharakters nicht mehr gewährleistet. Dies sei vor allem deswegen problematisch, weil damit städtebauliche Konflikte geschaffen würden, die der Bebauungsplan verhindern wolle. Der Anbau habe eine viel größere Grundfläche als das Bestandsgebäude, weshalb seine Wirkung die eines zusätzlichen Einfamilienhauses und nicht die eines untergeordneten Anbaus zum bestehenden Gebäude habe (wird weiter ausgeführt). Das Gebäude der Kläger erhalte in der Folge den Charakter eines Reihenhauses, da die vom Bebauungsplan vorgesehenen Abstandsflächen verloren gingen. Der geplante Anbau sei für das Baugebiet vollkommen überdimensioniert, da er auf einer Länge von 16 m errichtet werden solle und lediglich einen Mindestabstand von 3 m zur Grundstücksgrenze einhalte (wird weiter ausgeführt). Das Gebäude der Kläger verfüge an der Seite zum Grundstück des Beigeladenen hin über ein breites, über zwei Stockwerke gehendes Fenster, das von der Seite einen Einblick in das gesamte obere Stockwerk erlaube. Aufgrund der geplanten Nähe des Anbaus könne von den dortigen Wohnbereichen direkt in das Gebäude der Kläger eingesehen werden. Dies stelle eine starke Beeinträchtigung der Privatsphäre der Kläger dar. Zudem beeinträchtige der massive und lediglich die Mindestabstandsflächen einhaltende Anbau den Lichteinfall in die Kellerräume der Kläger erheblich. Auf dem klägerischen Grundstück befänden sich ein 15 und ein 20 Jahre alter Baum, die Bestandsrecht hätten. Aufgrund der für den Anbau geplanten Eingriffe im Wurzelraum der Bäume seien diese in ihrem Bestand gefährdet. Dadurch sei auch der Sichtschutz und der Schutz vor Lichtemissionen seitens der Straßenbeleuchtung nicht mehr gewährleistet (wird weiter ausgeführt). Die Kläger hätten ein Interesse daran, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans eingehalten würden (wird weiter ausgeführt). Aufgrund der geringen Abstandsfläche und einem vom Beigeladenen ebenfalls geplanten Fahrradschuppen im hinteren Bereich des Gartens verlagerten sich auch die Verkehrswege unmittelbar an die Grundstücksgrenze zu den Klägern hin. Dies beeinträchtige die Privatsphäre der Kläger auf der gesamten Länge des Grundstücks (wird weiter ausgeführt). Schließlich sei das gemeindliche Einvernehmen zu Unrecht ersetzt worden. Der Vorbescheid sei durch die Kläger angefochten worden. Nur ein bestandkräftiger Vorbescheid entfalte für die Gemeinde Bindungswirkung (unter Verweis auf Literatur und Rechtsprechung). Die Gemeinde habe somit ihr Einvernehmen im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens verweigern dürfen (wird weiter ausgeführt).

Im Verfahren AN 3 K 21.00664 beantragen die Kläger mit Schriftsatz vom 3. Juni 2021:

Der Bescheid des Landratsamts vom 8. März 2021 wird aufgehoben.

Im Verfahren AN 3 K 21.01708 beantragen die Kläger mit Schriftsatz vom 18. November 2021:

Der Bescheid des Landratsamts vom 10. August 2021 wird aufgehoben.

Mit Schriftsätzen vom 16. Juni 2021 und vom 10. Dezember 2021 beantragt der Beklagte jeweils,

die jeweiligen Klagen abzuweisen.

Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass die Bescheide rechtmäßig seien und die Kläger nicht in ihren nachbarschützenden Rechten verletzt würden. Die dargelegten städtebaulichen Beeinträchtigungen könnten nicht nachvollzogen werden. Der Anbau sei zwar größer als die bisher vorhandene Garage, eine lockere und durchlässige Wohnbebauung sei aber weiterhin gegeben. Gemäß den beantragten Befreiungen befinde sich der geplante Anbau zum Teil auf der für Bebauung, allerdings für Garagen, vorgesehenen Fläche. Die Nutzung der Garage werde durch Herstellung von Stellplätzen ersetzt. Die Befreiungen seien bereits dann städtebaulich vertretbar, wenn sie mit einer geordneten städtebaulichen Entwicklung vereinbar seien. Im Bebauungsplangebiet seien bereits mehrfach, teilweise erhebliche Überschreitungen von Baugrenzen zugelassen worden. Die Anordnung der Stellplätze im Plan zum Antrag auf Vorbescheid vor dem Gebäude behindere nicht den Durchgang zum Gartenbereich des Grundstücks. Damit werde auch nicht die Nutzung eines im Antrag auf Vorbescheid nicht dargestellten Fahrradschuppens beeinträchtigt. Die Standortgemeinde habe das gemeindliche Einvernehmen für das eigentliche Baugenehmigungsverfahren wegen der Befreiungen nicht erteilt. Die erforderlichen Befreiungen seien dem Bauantrag jedoch nur nachrichtlich beigefügt gewesen. Über die erforderlichen Befreiungen sei im Antrag auf Vorbescheid entschieden worden. Eine Verweigerung des Einvernehmens wegen Befreiungen, über die nicht entschieden werde, sei nicht möglich. Das Einvernehmen sei deshalb mit dem Baugenehmigungsbescheid ersetzt worden. Die Bindungswirkung des Vorbescheids für ein nachfolgendes Baugenehmigungsverfahren gelte nicht nur für die Bauaufsichtsbehörde, sondern auch für die Gemeinde. Die Behörde könne dem Bauherren gegenüber über die im Vorbescheid getroffenen Entscheidungen im Baugenehmigungsverfahren auch dann nicht mehr anders entscheiden, wenn der Nachbar gegen den Vorbescheid einen Rechtsbehelf eingelegt habe. Unter Einhaltung der in dem Baugenehmigungsbescheid aufgenommenen Nebenbestimmungen entspreche die Baumaßnahme den öffentlich-rechtlichen Vorschriften und sei somit zu genehmigen gewesen. Eine lockere und durchlässige Wohnbebauung sei auch nach Realisierung der Maßnahmen weiterhin gegeben. Die Bepflanzung des Nachbargrundstücks könne kein Grund für die Ablehnung des Bauantrags sein.

Mit Schriftsatz vom 17. Januar 2022 erwiderte der Beigeladene auf das klägerische Vorbringen in beiden Verfahren, ohne jedoch einen Antrag in der Sache stellen zu wollen. Zur Begründung führt der Beigeladene im Wesentlichen an, dass sowohl das von der Klägerseite angesprochene Landschaftsschutzgebiet als auch das FFH-Gebiet zeitlich mindestens 20 Jahre nach Inkrafttreten des streitgegenständlichen Bebauungsplans überhaupt erst ausgewiesen worden seien. Eine planerische Zielsetzung könne diesbezüglich gar nicht vorgelegen haben (wird weiter ausgeführt). Die Standortgemeinde habe etlichen Befreiungen in der näheren Umgebung erteilt (unter Verweis auf diverse Anwesen in der Umgebung). Der Abstand zwischen den Gebäuden der Kläger und des Beigeladenen betrage nach Realisierung des Bauvorhabens immer noch 8 m. Dies sei weitaus größer als die mittlerweile üblichen Abstandsflächen. Die Argumentation des Klägers aus dem Bebauungsplan, dass der Anbau durch die Befreiung auf einer Fläche stehen solle, die vom Bebauungsplan freigehalten werden solle, sei falsch. Gerade diese Fläche sei im Bebauungsplan mit einer Bebauung durch Garagen vorgesehen (wird weiter ausgeführt). Auf prozentuale Größenveränderungen, wie sie die Klägerseite anführe, komme es nach Meinung des Beigeladenen nicht an. Vielmehr würden die Größe und Umfang der zulässigen Bebauung durch die Geschoss- und Grundflächenzahl eines Bebauungsplans definiert. Diese seien mit dem geplanten Anbau gemäß den Befreiungen eingehalten (wird weiter ausgeführt). Der Anbau sei gerade zur Erhaltung des bisherigen planerischen Eindrucks als eingeschossiger Flachdachanbau geplant. Dies entspreche der bisherigen Aufteilung zwischen Wohngebäude und Garage (wird weiter ausgeführt). Das zwei Stockwerke umfassende Fenster der Kläger sei ein Fenster für Flur und Treppe und nicht für Wohnräume. Die Ausführung als Klarglas (gegenüber dem vorherigen sichtschützenden Riffelglas) hätten die Kläger bei Änderung vor einiger Zeit selbst so veranlasst. Ebenso liege es im Ermessen des Eigentümers, dass bisher kein Sicht- und Lichtschutz vorgesehen worden sei. Dies könne dem Beigeladenen nicht zur Last gelegt werden. Bereits seit Einbau dieses Treppenhausfensters in Klarsichtglas könne von den östlichen Fenstern und dem Balkon des Gebäudes des Beigeladenen in das Treppenhaus und den Flur der Kläger eingesehen werden. Der Einblick in das klägerische Haus durch dieses Fenster sei insbesondere bei Dunkelheit sogar von der Straße aus möglich. Ein besonders schutzwürdiges, nachbarschaftliches Interesse scheine dem Beigeladenen daher nicht erkennbar, soweit dies zu berücksichtigen sei. Wie eine zusätzliche Beeinträchtigung der durch Klarglas selbst aufgegebenen Privatsphäre durch den geplanten Anbau erfolgen solle, sei nicht nachvollziehbar. Gerade die Einhaltung der Abstandsflächen, die auch die gegenseitig zumutbare Einsichtnahme in Grundstücke und Gebäude im Baurecht regle, stelle die Sicherung der Privatsphäre nach Rechtsauffassung des Beigeladenen sicher. Die Lichtemissionen und deren Stärke seien eine reine Mutmaßung. Warum Verdunkelungen, die sonst an dem Gebäude der Kläger montiert seien, an dem besagten Flur- und Treppenhausfenster nicht zumutbar seien, werde nicht begründet, scheine baurechtlich unerheblich und stehe allein in der Entscheidung der Kläger. Ob der Lichteinfall in dem als Wohnraum ausgebauten Kellerraum - von den Klägern als Arbeitszimmer bezeichnet - beeinträchtigen werde, sei von den Klägern nicht nachgewiesen. Da Kellerräume untergeordnete Nutzräume seien, dürfte sich das Argument bezogen auf den Bescheid als unerheblich darstellen. Zudem würden die erforderlichen Abstandsflächen eingehalten. Die nachbarschaftlichen Rechte blieben somit gewahrt. Die angesprochenen Bäume ständen mehrere Meter von dem geplanten Anbau entfernt. Mögliche Beeinträchtigungen durch Lichtemissionen der Straßenbeleuchtung, die der täglichen Verkehrssicherheit dienten, seien alltäglich und als hinnehmbar zu betrachten. Die Kläger hätten zudem Rollläden an ihren frontseitigen Fenstern, so dass sie sich gegen Lichtemissionen abschirmen könnten.

Mit Schriftsatz vom 18. März 2022 ließen die Kläger replizierend nochmals vortragen, dass der Zugang zum Garten des Beigeladenengrundstücks derzeit durch einen Zwischengang, welcher zwischen der Garage und dem Haus angeordnet sei und nicht entlang der Grundstücksgrenze, erfolge. Für die Wahrung der Privatsphäre sei insbesondere entscheidend, welcher Abstand dieser Verkehrsweg zum Nachbargrundstück habe. Durch den geplanten Anbau würde der Verkehrsweg unmittelbar zur Grundstücksgrenze verlagert und der Zugang zum Garten der Beigeladenen nur noch über diesen Verkehrsweg möglich seien. Dies beeinträchtige die Privatsphäre insbesondere durch den Einblick in das zweistöckige Fenster in den Flur- und Wohnbereich der Kläger. Zu dem Argument, dass zumindest ein Stellplatz durch die Verlagerung des Verkehrsweges zum Garten nicht genutzt werden könne, werde vom Beigeladenen nicht Stellung genommen. Im Gebäude der Kläger sei ein sichtundurchlässiges Fenster insbesondere wegen notwendiger Isoliermaßnahmen durch ein Klarsichtfenster ersetzt worden. Diese Entscheidung sei jedoch auf Basis der Kenntnis des Bebauungsplans getroffen worden, nach welchem kein Wohnraum und somit auch keine Fenster eines Nachbargebäudes unmittelbar gegenüber erstellt werden könnten. Das Argument, man könne bereits heute in das Haus Einblick nehmen, greife zu kurz, insofern Abstand und Blickwinkel durch das Fenster für die beiden Situationen völlig andere seien. Während man von der Straße aus nur aus großer Entfernung und über einen sehr steilen Blickwinkel durch das Fenster in das Haus sehen könne, sei dies durch den Anbau aus geringer Entfernung und frontal zu dem zweistöckigen Fenster möglich. Während man also von der Straße aus nur im Wesentlichen eine Wandfläche des Innenwohnbereichs sehen könne, erschließe sich der Blick durch den geplanten Anbau aufgrund der Fenstergröße nahezu in das gesamte Wohnhaus. Das im Kellerbereich ausgebaute Arbeitszimmer mit Fußbodenheizung und bodentiefen Fenstern sei durch die bauliche Veränderung als vollwertiger Wohnraum anzusehen.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 11. Mai 2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässigen Klagen sind unbegründet, da sowohl der Vorbescheid (1.) als auch die folgende Baugenehmigung (2.) in für Drittschutz relevanten Aspekten rechtmäßig sind und die Kläger insofern nicht in eigenen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Kläger als Dritte können sich mit ihrer Anfechtungsklage nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen einen Vorbescheid oder eine Baugenehmigung zur Wehr setzen, wenn diese rechtswidrig sind sowie die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (sog. Schutznormtheorie, vgl. u.a. BayVGH, B.v. 30.7.2021 - 1 CS 21.1506 - juris Rn. 9 m.w.N.).

1. Die Klage gegen den Vorbescheid bleibt ohne Erfolg, da die dort erteilten Befreiungen nicht in einem drittschützenden Aspekt rechtswidrig sind.

Regelungsgegenstand eines baurechtlichen Vorbescheids sind nach Art. 71 Satz 1 BayBO einzelne Fragen des Bauvorhabens. Der Vorbescheid entwickelt als „vorweggenommener Teil der Baugenehmigung“ innerhalb seines Regelungsgegenstands Bindungswirkung für das spätere Baugenehmigungsverfahren. Veränderungen der Planung zwischen der Erteilung des Vorbescheids und der Baugenehmigung („Tekturen“) heben die Bindungswirkung jedoch wieder auf, es sei denn die Veränderungen an der Planung sind geringfügig in dem Sinne, dass Genehmigungsfragen nicht erneut und rechtserheblich aufgeworfen werden (BVerwG, B.v. 10.10.2005 - 4 B 60/05 - juris Rn. 3 ff. = BauR 2006, 481; BayVGH, B.v. 4.8.2011 - 2 CS 11.997 - juris Rn. 7 ff.).

Für die vorliegende Drittanfechtungsklage kommt es nur auf die Fragen 1 und 2 des Vorbescheidverfahrens an, welche eine Befreiung vom Bebauungsplan Nr. 1 der Gemeinde für die Ausweisung von Flächen für Garagen (Frage 1) und den festgesetzten Baugrenzen (Frage 2) regeln. Soweit auch die Verlagerung der Stellplätze (Frage 3) angesprochen ist, ist nicht erkennbar, dass die Realisierung der Stellplätze vor dem Haus irgendwelche über Fragen 1 und 2 hinausgehenden drittschützenden Aspekte aufwirft. Im Hinblick auf die „bauplanungsrechtliche Zulässigkeit im Übrigen“ (Frage 4) ist für das Gericht schon nicht klar, ob diese Frage überhaupt im Vorbescheid geregelt werden sollte. Jedenfalls, könnte diesbezüglich auf die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung (2.) verwiesen werden, weshalb auch hier keine Rechtsverletzung der Kläger zu sehen ist.

1.1 Für die Frage des Rechtsschutzes Dritter gegen Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB kommt es zunächst darauf an, ob die Festsetzung des Bebauungsplans, von der befreit werden soll, selbst drittschützenden Charakter hat (BayVGH, B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332 - juris Rn. 21 = NVwZ-RR 2020, 960). Bei drittschützenden Festsetzungen kommt dem Nachbarn ein Vollüberprüfungsanspruch der Voraussetzungen von § 31 Abs. 2 BauGB mit der Folge zu, dass jeder Verstoß gegen Tatbestandselemente des § 31 Abs. 2 BauGB zum Erfolg der Klage führt (BayVGH, B.v. 28.1.2019 - 15 ZB 17.1833 - juris Rn. 2 m.w.N.). Bei Befreiungen von nicht drittschützenden Festsetzungen kommt den Nachbarn lediglich der Anspruch auf „Würdigung der nachbarlichen Belange“ zu, was auf einen Anspruch auf Einhaltung des Gebots der Rücksichtnahme hinausläuft (BVerwG, B.v. 8.7.1998 - 4 B 64/98 - juris Rn. 5 m.w.N. = NVwZ-RR 1999, 8). Weitergehende Ansprüche im Fall nicht drittschützender Festsetzungen, insbesondere einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung im Übrigen, hat der Nachbar nicht (BVerwG a.a.O.).

Drittschutz ist immer dann anzunehmen, wenn die Festsetzung in ein wechselseitiges (nachbarliches) Austauschverhältnis gestellt (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7/17 - juris Rn. 15 m.w.N. = BVerwGE 162, 363) und damit vergleichbar einem Gebietserhaltungsanspruch eine „bodenrechtliche Schicksalsgemeinschaft“ gebildet werden sollte. Ob eine Festsetzung drittschützende Wirkung hat oder nicht, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, wobei auf die konkrete Anordnung von Drittschutz in der Festsetzung, auf die Begründung des Plans, Unterlagen des Aufstellungsverfahrens oder die Bewertung des Zusammenhangs der Festsetzungen abgestellt werden kann (BayVGH, B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332 - juris Rn. 23 = NVwZ-RR 2020, 960).

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung im Regelfall keinen Drittschutz vermitteln sollen, sondern aus gestalterischen Gründen geregelt werden (BayVGH, B.v. 26.2.2014 - 2 ZB 14.101 - juris Rn. 4 = BayVBl 2015, 170; B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332 - juris Rn. 23 m.w.N. = NVwZ-RR 2020, 961). Insbesondere Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche wie Baugrenzen sind regelmäßig nicht drittschützend (BayVGH, B.v. 5.8.2019 - 9 ZB 16.1276 - juris Rn. 5).

Ein Drittschutz der hier maßgeblichen zeichnerischen Festsetzung der Flächen für Garagen (§ 9 Abs. 1 Nr. 4 BauGB) und der Baugrenzen (§ 23 BauNVO) ist weder von der Klägerseite behauptet noch sonst irgendwie ersichtlich. Die Aufstellung des Bebauungsplans erfolgte schon ausweislich der Begründung von 1973 aus dem Motiv heraus, das bestehende Ortsbild zu regeln, da der Ort „recht willkürlich gewachsen“ sei und das „Massengefüge“ störe. Selbst bei Aufstellung der „städtebaulichen Leitlinie“ zur Befreiungspraxis im Jahr 2010, welche ausdrücklich nicht zu einer förmlichen Änderung des Bebauungsplans führte, spielte die Frage eines wechselseitigen Austauschverhältnisses keine Rolle.

1.2 Damit kommt den Klägern nur ein Anspruch auf Einhaltung des Gebots der Rücksichtnahme im Sinne der Würdigung nachbarlicher Belange zu. Eine Verletzung dessen durch die Befreiungen ist nicht ersichtlich, wobei die folgenden Erwägungen für beide Befreiungen gleichermaßen tragen.

1.2.1 Soweit die Klägerseite schon schriftsätzlich den Verlust eines „Gebietscharakters“ wegen der Aufweichung der aus paarweise angeordneten Kettenhäusern bestehenden Struktur oder den Verlust der „Gebietsfunktion“ wegen der Zunahme der (immer noch eingehaltenen) Grundflächenzahl annimmt, kann das Gericht schon keine subjektiv-rechtliche Position der Kläger erkennen. Inwiefern es sich dabei um „nachbarliche Belange“ im Sinne des Gebots der Rücksichtnahme handelt, verbleibt unklar. Allenfalls im Rahmen eines Gebietsprägungserhaltungsanspruchs (dazu 2.4) könnten solche Quantitätsaspekte eventuell relevant werden.

1.2.2 Im Hinblick auf den gerügten Verlust eines Baumes, der scheinbar als Schutz gegen Lichtimmissionen durch die Straßenbeleuchtung wirkt, ist zum einen anzumerken, dass der Verlust des Wurzelwerks auf dem Grundstück des Beigeladenen zivilrechtlich gedeckt (§ 910 BGB) und im Rahmen einer Baugenehmigung kein Prüfungsaspekt ist (Art. 68 Abs. 5 BayBO). Selbst wenn der Baum öffentlich-rechtlich geschützt wäre, käme diesem Schutzaspekt keine drittschützende Funktion zu (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 - 9 ZB 18.912 - juris Rn. 8). Die befürchteten Lichtimmissionen gingen - wenn überhaupt - von der öffentlichen Straßenbeleuchtung aus, worauf schon der Beigeladene zu Recht hingewiesen hat. Der Zusammenhang zum Bauvorhaben ist damit rein mittelbar.

1.2.3 Zum genannten Aspekt der Verschattung des Kellerraumes bleibt das Vorbringen ebenfalls erfolglos. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Abstandsflächen, welche die Belichtung des Nachbarn sicherstellen sollen, eingehalten sind und deswegen eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme diesbezüglich regelmäßig ausscheidet (BayVGH, B.v. 24.11.2021 - 2 CS 21.2600 - juris Rn. 8 m.w.N.). Dies gilt auch nach der Verkürzung der Abstandsflächen durch Art. 6 Abs. 5 BayBO n.F. (BayVGH a.a.O.).

Darüber hinaus befindet sich der Kellerraum aktuell 8 m von der östlichen Außenmauer des durch den Beigeladenen geplanten Anbaus entfernt. Der Anbau hat lediglich eine Höhe von 3,60 m und ist mit einem Flachdach genehmigt. Eine substantielle Verschattung, welche trotz Einhaltung der Abstandsflächen ausnahmsweise eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme bewirken könnte, ist abwegig. Im Übrigen ist ein Kellerraum per se einer größeren Verschattung ausgesetzt, weshalb üblicherweise erwartet werden kann, dass dort kein Hauptaufenthaltsraum eingerichtet wird.

1.2.4 Das Bauplanungsrecht vermittelt keinen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken; die Möglichkeit der Einsichtnahme ist grundsätzlich nicht städtebaulich relevant (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 - 4 B 72.89 - NVwZ 1989, 1060 = juris Rn. 7). In bebauten innerörtlichen Bereichen (wie hier) gehört es zur Normalität, dass von benachbarten Grundstücken bzw. Gebäuden aus Einsicht in andere Grundstücke und Gebäude genommen werden kann. Auch über das Gebot der Rücksichtnahme wird in bebauten Ortslagen daher kein genereller Schutz des Nachbarn vor jeglichen (weiteren) Einsichtsmöglichkeiten vermittelt, allenfalls in besonderen, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls geprägten Ausnahmefällen kann sich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme etwas anderes ergeben (BayVGH, B.v. B.v. 5.4.2019 - 15 ZB 18.1525 - BeckRS 2019, 7160 Rn. 12 ff.). Dem Nachbarn ist es insbesondere dann, wenn die Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO eingehalten sind, grundsätzlich zuzumuten, seine Räumlichkeiten, in die potenziell vom Bauherren aus eingesehen werden könnte, durch in Innerortslagen typische Sichtschutzeinrichtungen, wie z.B. Vorhänge, Jalousien o.ä., vor ungewollter Einsichtnahme zu schützen (BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 15 ZB 19.1221 - juris Rn. 19 m.w.N. = BayVBl 2020, 273). Jedenfalls wäre notwendig, dass der Nachbar darlegt, inwiefern durch die Realisierung neue, vorher nicht vorhandene Einsichtsmöglichkeiten für besonders geschützte Bereiche geschaffen werden, die über das normale, in Innerortslagen zu erwartende Maß weit hinausgehen (BayVGH, B.v. 6.4.2018 - 15 ZB 17.36 - juris Rn. 26).

Vorliegend ist hierfür nichts ersichtlich. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Abstandsflächen unbestritten eingehalten sind und der tatsächliche Abstand zwischen dem Anbau des Beigeladenen und dem Gebäude der Kläger 8 m beträgt. Neue Einsichtsmöglichkeiten werden seitens des Beigeladenen nur durch die Schaffung zweier Schlafzimmerfenster und eines Badfensters in seinem Anbau geschaffen. Alle übrigen Einsichtsmöglichkeiten bestanden auch schon vorher. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das von den Klägern befürchtete „Entlanggehen an der Grundstücksgrenze“ im Sinne eines neuen „Verkehrswegs“.

Vom Schlafzimmer des Beigeladenen bzw. von seinem neuen Badezimmer mag man aus einem anderen Winkel auf das Gebäude der Kläger sehen. Letztlich blickt der Beigeladene ausweislich der Aussagen der Klägerseite in der mündlichen Verhandlung auf ein „Treppenhaus“ mit anschließenden Fluren. Diese Bereiche genießen keinen besonderen Schutz mangels Bestimmung zum dauerhaften Aufenthalt. Dass man eventuell bei geöffneten Türen in weitere Bereiche (wie Schlafzimmer) blicken kann, können die Kläger durch zumutbare und einfachste Mittel (geschlossene Türen) verhindern. Die Hauptaufenthaltsbereiche der Kläger sind ebenso wie die sensiblen Blickbeziehungen im Übrigen offensichtlich nach Süden hin situiert und können vom Anbau des Beigeladenen nicht eingesehen werden.

Insofern bleibt die Klage gegen den Vorbescheid ohne Erfolg.

2. Auch die Klage gegen die Baugenehmigung bleibt ohne Erfolg, da auch insofern keine drittschützenden Belange verletzt wurden. Im Hinblick auf diese sind folgende Erwägungen in Ergänzung zu obigen (1.) Ausführungen relevant.

2.1 Der Vorbescheid entwickelt grundsätzlich eine Bindungswirkung für die nachfolgende Baugenehmigung. Geringfügige „Tekturen“ zwischen Erteilung des Vorbescheids und der Erteilung der Baugenehmigung lassen die Bindungswirkung nicht entfallen (BayVGH, B.v. 4.8.2011 - 2 CS 11.997 - juris Rn. 7 ff.). Die Bindungswirkung muss im Falle eines nicht bestandskräftigen (weil etwa durch Klage angefochtenen) Vorbescheids im Wege einer konstitutiven Regelung - also eines Zweitbescheids - in der Baugenehmigung übernommen werden (BVerwG, U.v. 17.3.1989 - 4 C 14/85 - juris Rn. 8 ff. = NVwZ 1989, 863; BayVGH, B.v. 23.5.2017 - 1 CS 17.693 - juris Rn 5). Die Genehmigungsbehörde hat die Feststellungen des Vorbescheids nochmals inhaltlich zu prüfen und mit Regelungswirkung festzustellen, wobei immer noch eine Bindungswirkung (nur) der Behörde an das Ergebnis des angefochtenen Vorbescheids besteht (BVerwG a.a.O.). Eine rein redaktionelle Übernahme im Sinne einer „wiederholenden Verfügung“ ohne Feststellungswirkung reicht nicht.

Für das Gericht ist ersichtlich, dass das Landratsamt vorliegend gerade keinen Zweitbescheid, sondern eine wiederholende Verfügung getroffen hat, denn ausweislich Hinweis 7 des Genehmigungsbescheids vom 10. August 2021 wurden die Befreiungen „schon im Vorbescheid erteilt“. Im Übrigen wurden sie auch gegenüber dem Vorbescheid nicht nochmals tenoriert. Im Hinblick auf die Begründung Ziffer 2 wird klar, dass die Befreiungen auch nicht nochmal geprüft worden sind.

Dennoch ist dieser Aspekt für die Kläger irrelevant, da es auf diese Frage nur ankommen könnte, wenn der Vorbescheid rechtswidrig wäre. Ist der Vorbescheid - wie hier - rechtmäßig und nicht auf Klage der Nachbarn hin aufzuheben, hätte auch eine Regelung als Zweitbescheid in der Baugenehmigung keine Auswirkungen auf das Ergebnis der Klage gegen die Baugenehmigung gehabt.

Gleiches gilt auch für die Tatsache, dass die Lage des Anbaus scheinbar gegenüber dem Vorbescheidsverfahren geringfügig nach Süden verlagert wurde. Eine relevante, die Bindungswirkung durchbrechende „Tektur“, die die bauplanungs- oder bauordnungsrechtlichen Fragen erneut aufwirft, kann das Gericht hierin nicht erkennen.

2.2 Soweit im Übrigen ausführlich im Rahmen der Schriftsätze zu Fragen des gemeindlichen Einvernehmens der Standortgemeinde bzw. dessen Ersetzung vorgetragen wurde, bleibt hier nur auszuführen, dass höchstrichterlich geklärt ist, dass Fragen des gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 BauGB dem klagenden Bürger keinen Drittschutz vermitteln (BVerwG, B.v. 7.5.1997 - 4 B 73/97 - juris Rn. 6 = NVwZ 1997, 991).

2.3 Ein Verstoß gegen die Abstandsflächen des Art. 6 BayBO ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch ein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, da es sich um einen Wohnanbau mit Stellplätzen in einem reinen Wohngebiet handelt.

2.4 Schließlich ist auch kein Verstoß gegen den Gebietsprägungserhaltungsanspruch ersichtlich.

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind die in den §§ 2 bis 14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Aus den Ausführungen im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Mai 2002 (4 B 86.01 - NVwZ 2002, 1384 f.) zu § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist teilweise der Schluss gezogen worden, das Bauplanungsrecht beinhalte neben dem Gebietserhaltungsanspruch, dem Abwehranspruch wegen Verletzung einer (sonstigen) drittschützenden Festsetzung des Bebauungsplans und dem Abwehranspruch wegen Verletzung des Rücksichtnahmegebots auch einen hiervon unabhängigen „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“, wonach ein Vorhaben, das im konkreten Baugebiet hinsichtlich der Nutzungsart an sich entweder allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist, gleichwohl als gebietsunverträglich vom Nachbarn im (auch faktischen) Plangebiet abgewehrt werden können soll, wenn es der allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebietstyps widerspreche, wenn es also - bezogen auf den Gebietscharakter des Baugebietes, in dem es verwirklicht werden soll - aufgrund seiner typischen Nutzungsweise störend wirke und deswegen gebietsunverträglich sei (BayVGH, B.v. 4.11.2009 - 9 CS 09.2422 - juris = juris Rn. 11 ff.; VG Neustadt a.d.W., U.v. 26.3.2019 - 5 K 1482/18.NW - Rn. 39, unter Verweis u.a. auf die Rechtsprechung des rheinland-pfälzischen OVG; Decker, JA 2007, 55 ff.; Stühler, BauR 2011, 1576/1579 f.; Kremer, jurisPR-ÖffBauR 8/2019 Anm. 5). Von anderer Seite wird demgegenüber die rechtliche Existenz eines eigenständigen bauplanungsrechtlichen „Gebietsprägungserhaltungsanspruchs“ angezweifelt und die vom Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2002 entwickelten Grundsätze als Maßgaben für die Anwendung des (nachbarschützenden) Rücksichtnahmegebots - etwa im Anwendungsbereich von § 31 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB (vgl. z.B. VG Ansbach B.v. 4.5.2015 - AN 9 S 15.00693 - juris Rn. 98) - verstanden (vgl. OVG Schleswig-Holst., B.v. 08.1.2018 - 1 MB 23/17 - juris Rn. 6 f.; Hofmann, BauR 2010, 1859 ff.; ebenso zweifelnd, i.E. offenlassend BayVGH, B.v. 9.10.2012 - 2 ZB 11.2653 - juris Rn. 7 ff.; B.v. 3.2.2014 - 9 CS 13.1916 - juris Rn. 13; B.v. 8.1.2019 - 9 CS 17.2482 - BayVBl 2019, 349 - juris Rn. 16).

Unabhängig von dieser Streitfrage kann ein „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO (i. V. mit § 34 Abs. 2 BauGB) - sei es als eigenständiger Anspruch, sei es als Bestandteil des Rücksichtnahmegebots (mit dann zu fordernder „fühlbarer“ Beeinträchtigung des Nachbarn) - von vornherein nur einschlägig sein, wenn das den Vorgaben gemäß §§ 2 bis 14 BauNVO (hier i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB) an sich entsprechende Bauvorhaben bei typisierender Betrachtung gleichwohl als gebietsunverträglich zu bewerten ist, weil es der allgemeinen Zweckbestimmung des Baugebiets widerspricht. Für ein vom Kläger behauptetes (nachbar-) rechtswidriges Umschlagen von Quantität in Qualität in diesem Sinne müsste das Bauvorhaben die Art der baulichen Nutzung derart erfassen oder berühren, dass bei typisierender Betrachtung im Ergebnis ein Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets angenommen werden müsste (vgl. BVerwG, U.v. 16.03.1995 - 4 C 3.94 - NVwZ 1995, 899 = juris Rn. 17). Da es sich bei § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO um eine Ausnahmevorschrift zur Art der baulichen Nutzung handelt, ist ein solcher Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets aber nur unter strengen Voraussetzungen anzunehmen. Der Widerspruch der hinzukommenden baulichen Anlage oder deren Nutzung muss sich daher bei objektiver Betrachtungsweise offensichtlich aufdrängen; dass das Neubauvorhaben oder die neue Nutzung nicht in jeder Hinsicht mit der vorhandenen Bebauung im Einklang steht, genügt dafür nicht (BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 15 ZB 19.1221 - juris Rn. 10; Kremer, jurisPR-ÖffBauR 8/2019 Anm. 5; am Beispiel eines Asylbewerberheims vgl. auch OVG Rh-Pf, B.v. 08.12.2016 - 8 A 10680/16 - juris Rn. 11 f.).

Es ist vorliegend nicht ersichtlich, wie die von den Klägern gerügten Aspekte der GRZ-Zunahme, der Lage des Anbaus innerhalb der immer noch vorhandenen Kettenhausstruktur oder die „Verzahnung mit den umliegenden FFH-Gebieten usw.“ ein Umschlagen von Quantität in Qualität bewirken könnten. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass diese Aspekte auch tatsächlich als Rüge des Maßes der baulichen Nutzung aufgefasst werden müssen. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist allerdings eine Norm der Art der baulichen Nutzung. Es ist nicht erkennbar, dass die durch den Anbau hinzutretenden neuen Maße eine derartige Quantität besäßen, dass sie die Eigenart des Baugebiets im Sinne der Art der baulichen Nutzung beeinflussen könnten. Der hier planerisch festgesetzte Gebietscharakter als reines Wohngebiet wird durch den geplanten Anbau schlichtweg nicht negativ tangiert.

Insofern bleibt auch die Klage gegen die Baugenehmigung ohne Erfolg.

Nach alledem sind die Klagen abzuweisen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO. Da sich der Beigeladene mangels Stellung eines Sachantrags auf Klageabweisung selber keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es auch nicht der Billigkeit gemäß § 162 Abs. 3 VwGO ihm einen Kostenerstattungsanspruch zuzusprechen. Die Regelung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Datenquelle d. amtl. Textes: Bayern.Recht

Meta

AN 3 K 21.00664

11.05.2022

VG Ansbach

Urteil

Sachgebiet: K

Zitier­vorschlag: VG Ansbach, Urteil vom 11.05.2022, Az. AN 3 K 21.00664 (REWIS RS 2022, 2586)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2586

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