Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.06.2016, Az. 5 StR 138/16

5. Strafsenat | REWIS RS 2016, 9502

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[X.]:[X.]:[X.]:2016:220616B5STR138.16.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF
BESCHLUSS

5
StR 138/16

vom
22. Juni 2016
in der Strafsache
gegen

wegen
Totschlags

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Der 5. Strafsenat des [X.] hat am 22. Juni 2016
beschlossen:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 6. November 2015 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurge-richtskammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Frei-heitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Seine hiergegen gerichtete, auf die [X.] materiellen Rechts gestützte Revision hat Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen des [X.] waren der Angeklagte und das spätere Tatopfer I.

in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht. Beide stammten aus [X.] und teilten sich mit weiteren Landsleuten eine Wohnung. Am Abend des 12. Januar 2015 erschien I.

im Zimmer des Angeklagten
und forderte ihn auf, mit ihm zu kommen. I.

hatte zuvor mit einem Mitbewohner und dessen Freund das Abendessen zubereitet und sich beiden gegenüber mit der Äußerung verabschiedet, kurz noch Zigaretten einkaufen zu gehen.
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Ohne genau zu wissen, was I.

von ihm wollte, folgte ihm der Ange-klagte aus der Wohnung in einen Hinterhof des Gebäudekomplexes. Dort trat I.

unvermittelt an ihn heran und schlug ihm dreimal ins Gesicht, sodass der Angeklagte kurzzeitig zu Boden ging. Es entwickelte sich ein Handgemenge, bei dem es I.

gelang, den Kopf des Angeklagten unter seinen Arm in einen wobei I.

den Angeklagten mit seinen Knien attackierte.
Der von dem Angriff völlig überraschte Angeklagte bekam Luftnot. Er er-tastete ein bei I.

im Hosenbund steckendes Küchenmesser mit einer Klin-genlänge von 15 cm und ergriff es. Damit stach er ihm aus der andauernden ungsvorsatz in die Hals-
und [X.]. Nachdem I.

die Umklammerung aufgrund der Stiche, von denen zwei tödlich wirkten, gelöst hatte, konnte sich der Ange-klagte befreien. Er versetzte ihm abermals mit bedingtem Tötungsvorsatz noch einen weiteren Stich, der den Kopf traf und nicht todesursächlich war.
Infolge der gegen die Hals-
und [X.] gerichteten Stiche, die bis in die Brusthöhle reichten und insbesondere zu einer Verletzung der Aorta mit einem massiven Blutverlust führten, sackte I.

zusammen. Der [X.] ließ das tödlich getroffene Opfer am [X.] zurück und entsorgte das [X.] in einem nahgelegenen Bach. Anschließend kehrte er in die Unterkunft zurück, wo er mit seinem Mitbewohner und dessen Freund zu Abend aß, ohne
sich etwas anmerken zu lassen.
2. Die Schwurgerichtskammer hat hinsichtlich der Messerstiche eine ob-jektive Notwehrlage angenommen, ohne zwischen der Serie der ersten vier [X.] gegen die Hals-
und [X.] und dem nachfolgend gegen den Kopf geführten Stich zu unterscheiden. Jedoch fehle es an der Erforderlichkeit 3
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der [X.]. Der Angeklagte habe die Möglichkeit gehabt, in weniger sensible Körperteile des Opfers wie etwa dessen Bein zu stechen und den Angriff auch schon durch einen einzigen Stich endgültig zu beenden (UA S.
6, 22).
II.
Der Schuldspruch hat keinen Bestand, da das [X.] bei seiner Prüfung der Notwehr den anzulegenden rechtlichen Maßstab nicht rechtsfehler-frei auf die Feststellungen angewendet hat.
1. Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteile vom 21. März 1996

5 StR 432/95, [X.]St 42, 97, 100; vom 19. Dezember 2013

4 StR 347/13, [X.], 147, 148, und vom 1. Ju-li
2014

5 [X.], [X.]R StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 22 mwN). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung ex ante der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der [X.] beurteilt werden ([X.], Urteile vom 27. September 2012

4 StR 197/12,
[X.], 139, 140, und vom 8.
Juni 2016

5 [X.] mwN;
Beschluss vom 21. August
2013

1 StR 449/13, NJW 2014, 1121, 1122). [X.] kann auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz einer Waffe durch Notwehr gerechtfertigt sein. Der Angegriffene muss auf [X.] gefährliche Verteidigungsmittel nur dann zurückgreifen, wenn deren Ab-wehrwirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Die mildere Einsatzform muss im konkreten Fall eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags 7
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und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zu-gemutet werden kann (vgl. [X.], Urteile vom 13. März 2003

3 [X.], [X.], 615, 616, und vom 27. September 2012

4 StR 197/12, [X.]R StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 20; Beschluss vom 21. März 2001

1 StR 48/01, [X.]R StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 15). Dies ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen im Einzelnen darzulegen. Angesichts der schweren Kalkulierbarkeit des
Fehlschlagrisikos dürfen an die regelmäßig in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine [X.] gefährliche [X.] keine überhöhten Anforderungen ge-stellt werden. Können keine sicheren Feststellungen zu Einzelheiten des [X.] getroffen werden, darf sich das nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken ([X.], Urteil vom 27. September 2012

4 StR 197/12, aaO; [X.] vom 15. November
1994

3 StR 393/94, NJW 1995, 973).
2. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet nach diesen Grundsätzen die Annahme der Schwurgerichtskammer, die Messerstiche, die r-setzte, in der er Luftnot verspürte und mit den Knien gestoßen wurde, seien nicht erforderlich gewesen. Hierzu hat der [X.] in seiner Zu-schrift unter anderem ausgeführt:

dass das Tatopfer den Griff um den Hals des Angeklagten ge-lockert hätte. Eine Verletzung am
Bein hätte grundsätzlich einer weiteren Umklammerung des Angeklagten mit dem rechten Arm nicht entgegengestanden. Da die Beine des Geschädigten zudem in Bewegung waren, erscheint es eher fernliegend, dass der Angeklagte darauf vertrauen konnte, den Angreifer in einer Weise in ein Bein zu stechen, die diesen zur Lockerung des Griffs veranlasst hätte.
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Weiter ist unklar, ob dem Angeklagten in seiner Position ein koordinierter Stich in die Extremitäten überhaupt möglich ge-wesen wäre und er dies in der Hektik und Dynamik des affektiv aufgeladenen Geschehens erkannt hat. Eine erfolgverspre-chende Verteidigung mit einem Messer setzt dagegen typi-scherweise die Ausnutzung des Überraschungsmoments und den sofortigen Einsatz gegen zentrale Körperregionen des [X.] voraus. Anderenfalls muss zumindest ein mit dem Messer ungeübter Angreifer damit rechnen, dass zurückhaltend geführte Stiche den Angreifer in Ermangelung ausreichender (Sofort-)Wirkung unbeeindruckt lassen. Der ultimative Charak-ter des lebensgefährlichen
Waffeneinsatzes verpflichtet den Verteidiger nicht dazu, mit seiner Zurückhaltung entgegen den allgemeinen Prinzipien des [X.] bis zur Selbstge-fährdung zu gehen (vgl. [X.] in [X.] Kommentar, 2. Aufl., § 32 Rn. 167 mwN, 168).
Rechtlich gleichermaßen fragwürdig erscheint die Annahme des [X.], der Angeklagte habe auch dadurch die Grenze der erforderlichen Verteidigung überschritten, dass er nicht nur einmal, sondern mehrfach auf Hals und Oberkörper eingestochen habe. Die damit implizierte
These, der [X.] hätte zunächst die Wirkung eines ersten lebensgefährlichen Stiches abwarten müssen, bevor er mit dem Messer weiter ge-gen den Angreifer vorging, teilt die [X.] nicht. Unter Berücksichtigung der situativen Hektik und seiner durch akute Atemnot gekennzeichneten Lage durfte der Angeklagte durchaus mehrfach auf seinen aggressiven Kontrahenten in Oberkörper-
und Halsbereich einstechen, und zwar so lange, bis dieser den Griff um den Hals lockerte. Gerade in zugespitz-ten Situationen ist eine schnelle Wiederholung der [X.] vielfach erforderlich. Bei [X.] nach Eintritt schwerer Verletzungen noch mehrere Se-kunden voll aktionsfähig bleibt, in denen er dem Verteidiger seinerseits gravierende Verletzungen zufügen kann. Um dieses naheliegende und nicht hinnehmbare Risiko auszuschalten und eine insgesamt ausreichende Effektivität der Verteidigung si-cherzustellen, muss man dem in unmittelbarer Bedrängnis [X.] Verteidiger jedenfalls bei Angriffen gegen den Hals regelmäßig gestatten, ohne zwischenzeitliches Innehalten meh-

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Dem folgt der Senat.
3. Der fünfte Stich des Angeklagten gegen den Kopf seines Opfers war hingegen nach den allerdings knappen Feststellungen zum äußeren Tatge-schehen, die das [X.] im Wesentlichen auf eine unwiderlegte Einlas-sung des Angeklagten gestützt hat, nicht mehr durch Notwehr gerechtfertigt. Insoweit
ist schon nicht ersichtlich, dass noch eine Notwehrlage vorgelegen s-e-reits tödlich getroffenen Kontrahenten nicht mehr aus.
4. Über die Sache ist daher neu zu verhandeln und zu entscheiden.

[X.]König

Berger

Bellay

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Meta

5 StR 138/16

22.06.2016

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.06.2016, Az. 5 StR 138/16 (REWIS RS 2016, 9502)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9502

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4 StR 347/13

5 StR 134/14

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5 StR 564/15

1 StR 449/13

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