Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.10.2015, Az. 1 BvR 455/14

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2015, 4247

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Mithaftung des getrennt lebenden Ehegatten unter Missachtung von § 1357 Abs 3 BGB verletzt Art 3 Abs 1 GG (Willkürverbot) sowie Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör gem Art 103 Abs 1 GG


Tenor

1. Das Urteil des [X.][X.] vom 27. Januar 2014 - 4 [X.]/13 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes und aus seinen grundrechtsgleichen Rechten aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Der Beschluss des [X.][X.] vom 3. Februar 2014 - 4 [X.]/13 - wird damit gegenstandslos. Die Sache wird an das [X.]/[X.] zurückverwiesen.

2. Das [X.] hat die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu erstatten.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein zivilgerichtliches Verfahren auf Zahlung ärztlichen Honorars.

2

1. Die vom Beschwerdeführer (Beklagter des Ausgangsverfahrens) auch örtlich getrennt lebende Ehefrau hatte für das gemeinsame minderjährige Kind bei einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt einen Behandlungsvertrag mit [X.] geschlossen. Dabei hatte sie in den entsprechenden Feldern des Behandlungsvertrages namentlich sich als Erziehungsberechtigte, den Namen des Kindes sowie ihre gemeinsame Anschrift benannt und als Kostenträger den Namen und die von ihrer Adresse verschiedene Anschrift des Beschwerdeführers angegeben. Nach Durchführung der [X.] stellte der vom behandelnden Arzt [X.] Anästhesist (Kläger des Ausgangsverfahrens) seine Kosten von 221,38 € in Rechnung. Auf die gegen beide Ehegatten erhobene Klage ordnete das Amtsgericht die Durchführung des vereinfachten Verfahrens nach § 495a ZPO an und wies mit Hinweisbeschluss darauf hin, die Klage sei "unter Berücksichtigung von §§ 1357, 1629 [X.]" begründet. Der Beschwerdeführer führte innerhalb der gesetzten Schriftsatzfrist nebst Literaturbeifügung unter anderem aus, angesichts der Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft gelange die Regelung zur Mithaftung über die sogenannte "Schlüsselgewalt" in § 1357 Abs. 1 [X.] gemäß § 1357 Abs. 3 [X.] nicht zur Anwendung. Es habe auch kein akuter Behandlungsbedarf vorgelegen. Hierzu hatte der Beschwerdeführer den behandelnden Arzt als Zeugen benannt. Für den Fall einer abweichenden Entscheidung beantragte er die Zulassung der Berufung.

3

Durch angegriffenes Urteil verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer als Gesamtschuldner mit seiner Ehefrau zur Zahlung. Die Mithaftung des Beschwerdeführers ergebe sich aus dem gemeinsamen Sorgerecht und aus § 1357 Abs. 1 [X.]. Die Kindesgesundheit gehöre zum Lebensbedarf der Familie. Daher begründeten [X.], die ein Ehegatte zugunsten eines Kindes abschließe, die Mithaftung des anderen Ehegatten. Für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 ZPO bestehe kein Anlass.

4

Der Beschwerdeführer legte gegen das Urteil Anhörungsrüge ein und begründete sie im Wesentlichen damit, dass sein - unstreitig gebliebener - Vortrag zur Trennung der Eheleute und zur nicht dringlichen Behandlung nicht berücksichtigt worden sei. Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge durch Beschluss zurück. Das rechtliche Gehör sei nicht verletzt, weil das Gericht zuvor auf seine Rechtsauffassung hingewiesen habe. Soweit das Urteil als rechtsfehlerhaft beanstandet werde, könne es nicht mit der Anhörungsrüge angegriffen werden.

5

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) durch die unterbliebene Berufungszulassung, die Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) durch Nichtberücksichtigung des § 1357 Abs. 3 [X.] wie auch des unstreitigen Vorbringens zur Trennung und eine darin gleichzeitig liegende Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).

6

Das Urteil sei vor allem angesichts dessen unrichtig, dass gemäß § 1357 Abs. 3 [X.] die Mitverpflichtungsbefugnis nach Abs. 1 der Vorschrift nicht gilt, im Behandlungsvertrag seine von der Ehefrau beziehungsweise dem Kind abweichende Anschrift angegeben war und daher auch dem Anästhesisten hätte bekannt sein müssen, dass die Ehegatten getrennt lebten und zudem die [X.] nicht akut notwendig gewesen sei, mithin keine Gefahr im Verzug bestanden habe. Die Klage hätte aus Rechtsgründen zwingend abgewiesen werden müssen.

7

3. Im Hauptsacheverfahren über die Verfassungsbeschwerde wurde die Akte des Ausgangsverfahrens beigezogen.

8

4. Zu der Verfassungsbeschwerde hatten der [X.] und der Kläger sowie die weitere Beklagte des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Äußerung. Die Verfassungsbeschwerde wurde ferner der Präsidentin des [X.]/[X.] zur [X.] zugeleitet. Es sind keine Stellungnahmen erfolgt.

II.

9

1. Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]; vgl. [X.] 90, 22 <25>). Der Beschwerdeführer ist in den geltend gemachten Rechten verletzt und die Grundrechtsverletzungen haben wegen der Unhaltbarkeit der angegriffenen Entscheidungen besonderes Gewicht. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen vor. Das [X.] hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.

2. a) Ein Richterspruch verstößt nach ständiger Rechtsprechung des [X.]s dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht objektiv willkürlich. [X.] unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (vgl. [X.] 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>).

b) Nach diesen Maßstäben verletzt das angegriffene Urteil den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung als Willkürverbot.

Die Rechtsauffassung des Amtsgerichts, den Umfang der Mitverpflichtung im Sinne von § 1357 Abs. 3 [X.] getrennt lebender Ehegatten auf die Vorschrift des § 1357 Abs. 1 [X.] zu stützen, ist unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar. Schon die offensichtlich einschlägige Norm des § 1357 Abs. 3 [X.] hat das Amtsgericht trotz ausdrücklichen Vortrags nicht berücksichtigt. Danach entfällt bei Getrenntleben im Sinne des Nichtbestehens der häuslichen Gemeinschaft die Berechtigung des Ehegatten zur wechselseitigen Verpflichtung für Rechtsgeschäfte, die ihrer Art nach einen Bezug zur familiären Konsumgemeinschaft haben (vgl. nur [X.], [X.], 74. Auflage 2015, § 1357, Rn. 9).

Soweit in älterer Rechtsprechung eine Mitverpflichtung über die Vorschriften der Geschäftsführung ohne Auftrag in Verbindung mit der Unterhaltspflicht für denkbar gehalten wurde, kommt es darauf schon deshalb nicht an, weil hierzu weder der Kläger vorgetragen noch das Amtsgericht sich verhalten hat. Eine Mitverpflichtung ergibt sich schließlich auch nicht über die - im angegriffenen Urteil nicht genannten - Vorschriften der hier gemeinsam ausgeübten Personensorge gemäß § 1626 Abs. 1 Satz 2, § 1629 [X.]. Eltern können danach von ihrem Recht der Vertretung des Kindes beim Abschluss eines [X.] Gebrauch machen, sie müssen es aber nicht. Selbst wenn man im vorliegenden Behandlungsvertrag eine Eigenverpflichtung der Eltern sehen wollte, so wäre diese nur von der mitverklagten Mutter eingegangen worden. Dass der Abschluss eines [X.] allein durch die Mutter aufgrund Gefahr im Verzug zum Wohl des Kindes notwendig war (§ 1629 Abs. 1 Satz 4 [X.]), hat der Kläger schon nicht substantiiert vorgetragen. Im Übrigen war dies unter [X.] seitens des Beschwerdeführers bestritten, und weder das Urteil noch der Anhörungsrügebeschluss verhalten sich dazu. Letztlich würde aber auch dies an der Rechtslage nichts ändern, denn die Vorschriften betreffen nur die Frage, wem in diesen Fällen die tatsächliche Entscheidung zur Behandlung zusteht. Sie enthalten keine Ermächtigung zur Mitverpflichtung des Ehegatten. Ebenso folgt aus § 1687 [X.] nur die Berechtigung eines Elternteils zur Entscheidung über Angelegenheiten des täglichen Lebens, nicht aber eine Mithaftung des getrennt lebenden Ehegatten.

Danach ist das Urteil schon wegen des offensichtlichen Gesetzesverstoßes objektiv willkürlich ergangen, ohne dass es auf die Motive des Amtsgerichts ankommt.

3. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist ebenfalls verletzt. Das Amtsgericht hat den Vortrag des Beschwerdeführers, mit dem dieser auf die hier einschlägige Vorschrift des § 1357 Abs. 3 [X.] hinwies, bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Dies wird nicht nur anhand der Urteilsgründe deutlich, sondern auch angesichts der Begründung des [X.], in dem das Gericht ausführt, es habe zuvor auf seine Rechtsauffassung hingewiesen. Das Gericht hat damit verkannt, dass der Inhalt des Vorbringens der Parteien nicht nur tatsächlich zur Kenntnis genommen, sondern auch erwogen werden muss. Der für eben solche Fälle geschaffene Rechtsbehelf der Anhörungsrüge hat hier nicht zu einer Abhilfe geführt, das Amtsgericht hat den Gehörsverstoß vielmehr perpetuiert.

4. Auf die geltend gemachte Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) kommt es nicht mehr an.

III.

1. Das Urteil des Amtsgerichts ist gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] aufzuheben; die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Der die Anhörungsrüge zurückweisende Beschluss des Amtsgerichts wird damit gegenstandslos.

2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

1 BvR 455/14

08.10.2015

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend AG Pankow-Weißensee, 27. Januar 2014, Az: 4 C 262/13, Urteil

Art 3 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 1357 Abs 1 BGB, § 1357 Abs 3 BGB, § 1629 Abs 1 S 4 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.10.2015, Az. 1 BvR 455/14 (REWIS RS 2015, 4247)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 4247

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2 BvR 1552/14

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