Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.10.2019, Az. 1 BvR 1710/18

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2019, 2961

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Versagung von PKH im sozialgerichtlichen Verfahren unter "Durchentscheiden" einer bislang ungeklärten Rechtsfrage (hier: Aufenthaltsrecht sorgeberechtigter Angehöriger eines minderjährigen, freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers gem § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG 2004) verletzt Rechtsuchenden in Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 12. Februar 2018 - [X.] AS 1451/17 - und der Beschluss des [X.] vom 3. Juli 2018 - L 7 [X.]/18 B - verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes).

2. Der Beschluss des [X.] wird aufgehoben und die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

3. Das [X.] hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

4. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren.

5. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die [X.]beschwerde betrifft die Ablehnung von Prozesskostenhilfe in einem auf die Bewilligung von Leistungen nach dem [X.] gerichteten Klageverfahren.

2

1. Die Beschwerdeführerin ist [X.] Staatsbürgerin. Sie reiste im Mai 2017 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und zwei gemeinsamen Kindern in das [X.] ein. Im Juli 2017 wurde das dritte gemeinsame Kind geboren. Der Lebensgefährte der Beschwerdeführerin und die gemeinsamen Kinder sind ebenfalls [X.] Staatsangehörige. Der Lebensgefährte der Beschwerdeführerin geht seit Juni 2017 einer (geringfügigen) Beschäftigung nach. Die Beschwerdeführerin betreut die gemeinsamen Kinder.

3

2. Die Familie beantragte am 27. Juli 2017 Leistungen nach dem [X.], die dem Lebensgefährten der Beschwerdeführerin und den gemeinsamen Kindern auch bewilligt wurden. Der Antrag der Beschwerdeführerin hingegen wurde unter Verweis auf § 7 Abs. 1 Satz 2 [X.] abgelehnt. Die Beschwerdeführerin erhob hiergegen am 6. Dezember 2017 Klage, die zwischenzeitlich mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 14. November 2018 abgewiesen wurde, und beantragte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

4

Mit angegriffenem Beschluss vom 12. Februar 2018 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab, da die Klage keine Aussicht auf Erfolg habe. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das [X.] mit angegriffenem Beschluss vom 3. Juli 2018 zurück.Zur Begründung verwies es darauf, dass sich weder aus der von der Beschwerdeführerin in Bezug genommenen Rechtsprechung des [X.] zu § 7 Abs. 1 Satz 3 [X.] noch aus § 11 Abs. 1 Satz 11 [X.]/[X.] in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 [X.] ein Aufenthaltsrecht der Beschwerdeführerin ableiten lasse.

5

1. Mit ihrer [X.]beschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG. Die Erfolgsaussichten der Klage der Beschwerdeführerin seien von der Frage abhängig, ob ihr ein Aufenthaltsrecht unabhängig von dem Zweck der Arbeitssuche zustehe. Dies sei eine schwierige, bisher noch nicht höchstrichterlich entschiedene Frage, welche auch in der Fachliteratur und fachgerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet werde.

6

2. Das [X.] hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Kammer hat die einschlägigen Akten des [X.] und des [X.]s beigezogen.

7

Die Kammer nimmt die [X.]beschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Das [X.] hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden; ausgehend davon ist die [X.]beschwerde offensichtlich begründet.

8

1. Das Grundgesetz gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von [X.] und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem [X.], der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet (vgl. [X.] 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357>; 117, 163 <187>). Es ist dabei verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. [X.] 81, 347 <357>).

9

Prozesskostenhilfe darf aber von [X.] wegen insbesondere dann nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt. Denn dadurch würde der [X.] im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. ausführlich [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 16. April 2019 - 1 BvR 2111/17 -, Rn. 22 m.w.N.).

2. Nach diesen Grundsätzen verletzen die angegriffenen Entscheidungen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Die angegriffenen Beschlüsse überspannen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung und verfehlen dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, weil sich die im Verfahren aufgeworfene Rechtsfrage, ob der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltsrecht zusteht, als ungeklärt und schwierig darstellt.

a) In der Rechtsprechung der [X.]e und der Literatur ist umstritten, ob § 11 Abs. 1 Satz 11 [X.]/[X.] in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 [X.] und Art. 18 Abs. 1 A[X.]V dem sorgeberechtigten Elternteil eines wegen der Begleitung des anderen Elternteils nach § 3 Abs. 1 Satz 1 [X.]/[X.] freizügigkeitsberechtigten minderjährigen [X.] ein Aufenthaltsrecht vermitteln kann (für ein Aufenthaltsrecht: [X.], Beschluss vom 30. November 2015 - L 19 AS 1713/15 [X.] -, juris, Rn. 15 und Beschluss vom 1. August 2017 - L 19 AS 1131/17 [X.] -, juris, Rn. 41 m.w.N. sowie Beschluss vom 30. Oktober 2018 - L 19 AS 1472/18 [X.] -, juris, Rn. 28 ff.; ebenso Dienelt, in[X.]/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 11 [X.]/[X.] Rn. 38, 39 und Oberhäuser, in: [X.], 2. Aufl. 2016, [X.]/[X.] § 11 Rn. 57 f.; ablehnend dagegen: [X.], Beschluss vom 22. Mai 2017 - L 31 AS 1000/17 [X.] -, juris, Rn. 5, [X.], Beschluss vom 27. Juli 2017 - L 21 AS 782/17 [X.] -, juris, Rn. 43 und wohl auch [X.], in: [X.], Freizügigkeitsgesetz/[X.] § 11 Rn. 38 ). Rechtsprechung des [X.] und Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hierzu ist nicht ersichtlich.

b) Die Frage nach der Anwendbarkeit von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 [X.] ist danach eine ungeklärte Rechtsfrage. Sie ist auch als "schwierig" im Sinne der Rechtsprechung des [X.]s einzustufen, da sich die vom [X.] [X.] aufgeworfene Frage der Reichweite des Diskriminierungsverbots des Art. 18 A[X.]V, insbesondere seine hier nur mittelbare Anwendung weder aus der hierzu vorliegenden Rechtsprechung noch aus den gesetzlichen Regelungen ohne Weiteres beantworten lässt. Hinzu kommt, dass die Frage nach dem Aufenthaltsrecht sorgeberechtigter Angehöriger eines minderjährigen, freizügigkeitsberechtigten [X.] auch die Wertungen der Art. 6 GG und Art. 8 [X.] berücksichtigen muss.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 [X.]. Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für das [X.]beschwerdeverfahren erledigt sich insoweit, als das [X.] zur Kostenerstattung verpflichtet wird (vgl. [X.] 105, 239 <252>). Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1710/18

04.10.2019

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Hessisches Landessozialgericht, 3. Juli 2018, Az: L 7 AS 274/18 B, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, Art 18 Abs 1 AEUV, § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG 2004, § 3 Abs 1 S 1 FreizügG/EU, § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2, § 114 Abs 1 S 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.10.2019, Az. 1 BvR 1710/18 (REWIS RS 2019, 2961)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 2961

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

1 BvR 1094/20

1 BvR 932/20

Zitiert

1 BvR 2111/17

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