Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.06.2019, Az. 1 StR 612/18

1. Strafsenat | REWIS RS 2019, 5995

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Gegenstand

(Anforderungen an die Begründung der Ermessensentscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung)


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 9. Mai 2018 im Ausspruch über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Jedoch trägt der Angeklagte die in der Revisionsinstanz im Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten und notwendigen Auslagen der Adhäsionsklägerin M.       .

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe aus einer anderweitigen Entscheidung wegen Vergewaltigung in fünf Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und dabei die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aufrechterhalten. Aufgrund der Zäsurwirkung des anderweitigen Urteils hat es den Angeklagten wegen einer weiteren Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Daneben hat das [X.] die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unter Bestimmung eines [X.] der verhängten Freiheitsstrafen sowie seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Schließlich hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

2

Nach den Feststellungen des [X.]s vergewaltigte der Angeklagte im Zeitraum von August/Anfang September 2014 bis 31. Oktober 2015 seine damalige Lebenspartnerin, die Nebenklägerin [X.]    , in fünf Fällen, dabei in drei Fällen unter Einsatz von Fesselungsmaterial. Bei diesen drei Taten ließ er sie für jeweils mehrere Stunden gefesselt. In der Nacht vom 10. auf den 11. September 2016 vergewaltigte er seine neue Lebenspartnerin, die Neben- und Adhäsionsklägerin M.       . Der Angeklagte, der eine dissoziale, narzisstische und psychopathische Persönlichkeitsstruktur aufweist sowie zudem alkohol- und betäubungsmittelabhängig ist, hat vor Begehung der hier gegenständlichen Taten keine Strafhaft verbüßen müssen.

II.

3

Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 2 StGB) hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar hat das [X.] die formellen und materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a, Nr. 4 StGB, insbesondere einen Hang des Angeklagten und seine fortbestehende Gefährlichkeit, rechtsfehlerfrei festgestellt. Indes lässt die knappe Begründung der Ermessensentscheidung nicht die revisionsrechtliche Überprüfung zu, ob das [X.] sein Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.

4

1. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Die Ermessensausübung unterliegt zwar nur eingeschränkter revisionsrechtlicher Überprüfung. Die Urteilsgründe müssen aber erkennen lassen, dass sich das Tatgericht seiner Entscheidungsbefugnis bewusst war; sie müssen auch nachvollziehbar darlegen, aus welchen Gründen es von ihr in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht hat. Die revisionsrechtliche Überprüfung erstreckt sich dann vor allem darauf, ob der Tatrichter bei der Ermessensausübung von einem zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Ansatz ausgegangen ist ([X.], Beschlüsse vom 4. August 2009 – 1 [X.] Rn. 22, [X.]R StGB § 66 Abs. 2 Ermessensausübung 1 und vom 11. September 2003 – 3 [X.] Rn. 6).

5

Beim Ausüben des Ermessens sind die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes zu beachten. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll das Tatgericht die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des [X.] zum Zeitpunkt der [X.] auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen, der sich daraus ergibt, dass Absatz 2 – im Gegensatz zu Absatz 1 – eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des [X.] nicht voraussetzt. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des [X.] im Rahmen dieser Ermessensentscheidung grundsätzlich zu berücksichtigen sind. Es besteht zwar keine Vermutung dahingehend, dass langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird. Je länger die verhängte Freiheitsstrafe und je geringer die bisherige Erfahrung des [X.] mit Verurteilung und Strafvollzug sind, desto mehr muss sich das Tatgericht aber mit diesen Umständen auseinandersetzen. Von vornherein offenlassen kann es dies jedenfalls nicht (st. Rspr.; [X.], Beschlüsse vom 4. August 2009 – 1 [X.] Rn. 24; vom 13. September 2011 – 5 [X.] Rn. 19; vom 25. Mai 2011 – 4 [X.] Rn. 6; vom 5. April 2011 – 3 StR 12/11 Rn. 10 und vom 11. September 2003 – 3 [X.] Rn. 7 f.; Urteil vom 19. Februar 2013 – 1 [X.] Rn. 34). Freilich muss eine günstige Prognoseentscheidung auf konkrete Anhaltspunkte und hinreichende Gründe gestützt werden; nur denkbare positive Veränderung und Wirkung künftiger Maßnahmen im Strafvollzug reichen nicht aus ([X.], Urteil vom 3. Februar 2011 – 3 [X.] Rn. 14 mwN).

6

2. Diesen Anforderungen an die Begründung einer Ermessensentscheidung wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das [X.] hat seine Entscheidung allein auf eine Bezugnahme auf seine Begründung der Anordnungsvoraussetzungen, der Vollstreckungsreihenfolge der beiden verhängten Maßregeln (§ 72 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 StGB), das strafrechtliche Vorleben des Angeklagten, seine Persönlichkeit und die Schwere der [X.] gestützt. Das [X.] hat [X.] gelassen, wie sich der Strafvollzug auf den 32-jährigen Angeklagten und seine Dissozialität auswirken könnte. Es hätte sich auch damit auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte in dieser Sache erstmals Strafhaft verbüßt.

7

3. Die Feststellungen sind von dem hier allein vorliegenden Erörterungsmangel nicht betroffen und können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO; vgl. [X.], Beschluss vom 12. Mai 2016 – 1 [X.] Rn. 5). Ergänzende Feststellungen der nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufenen Kammer, die den bisherigen nicht widersprechen, sind möglich.

Raum     

      

Jäger     

      

Hohoff

      

Leplow     

      

Pernice     

      

Meta

1 StR 612/18

27.06.2019

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Augsburg, 9. Mai 2018, Az: 209 Js 132747/16 - 7 KLs

§ 66 Abs 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.06.2019, Az. 1 StR 612/18 (REWIS RS 2019, 5995)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 5995

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