Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 23.05.2012, Az. 1 BvR 359/09

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2012, 6135

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Verletzung der Rechtsschutzgarantie durch überlanges Zivilverfahren - Unzureichende gerichtliche Verfahrensförderung im Hinblick auf die Erstellung eines Sachverständigengutachtens - Wegfalls des Rechtsschutzbedürfnisses für Verfassungsbeschwerde nach Beendigung des Ausgangsverfahrens


Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verfahrensdauer eines Zivilprozesses.

2

1. Der Beschwerdeführer erhob im Juli 2003 vor dem [X.] eine Schadensersatzklage gegen einen Architekten (im Folgenden: [X.]r) wegen behaupteter fehlerhafter Planung und Überwachung eines gewerblichen Bauvorhabens.

3

Nachdem mehrfach mündlich verhandelt und ein Sachverständigengutachten eingeholt worden war, wurde im April 2005 ein weiterer Sachverständiger mit einem Gutachten zu den im Wege der Hilfsaufrechnung geltend gemachten Vergütungsansprüchen des [X.]n beauftragt. Nachfolgend versäumte es der [X.], dem Sachverständigen notwendige Unterlagen innerhalb der vom Gericht formlos gesetzten Fristen zu übermitteln und einen weiteren Kostenvorschuss zu zahlen. Nach weiteren Verzögerungen bei der Fertigstellung des Gutachtens wurde dieses im August 2007 erstattet. Im September 2010 wurde der Rechtsstreit dann nach weiteren Ergänzungsgutachten durch Vergleich beendet.

4

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) wegen überlanger Verfahrensdauer.

5

3. Das [X.] hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Die Akten des [X.] waren beigezogen.

6

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.] liegen nicht vor.

7

Die Dauer des Verfahrens vor dem [X.] ist zwar mit dem Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz unvereinbar (1.). Das mit der Verfassungsbeschwerde verfolgte Ziel des Beschwerdeführers, eine Entscheidung in dem fachgerichtlichen Klageverfahren zu beschleunigen, hat sich jedoch erledigt, nachdem der Rechtsstreit beendet worden ist. Damit ist für das [X.] auch das Rechtsschutzbedürfnis entfallen (2.).

8

1. Die Dauer des zivilgerichtlichen Verfahrens von über sieben Jahren genügt nicht den Anforderungen von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

9

a) Für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten gewährleistet Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip einen wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinne (vgl. [X.] 82, 126 <155>; 93, 99 <107>). Die Fachgerichte müssen Gerichtsverfahren in angemessener [X.] zu einem Abschluss bringen (vgl. [X.] 55, 349 <369>; 60, 253 <269>; 93, 1 <13>). Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls zu bestimmen (vgl. [X.] 55, 349 <369>); weder das [X.] noch der [X.] machen in ihrer Rechtsprechung insofern allgemein gültige [X.]vorgaben (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 2. Dezember 2011 - 1 BvR 314/11-, juris, Rn. 6 m.w.N.; EGMR, Urteil der [X.] vom 27. Juni 2000 - 30979/96 - [X.]/[X.], [X.]. 43).

Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sind insbesondere die Natur des Verfahrens und die Schwierigkeit der Sachmaterie, die Bedeutung der Sache und die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Parteien zu berücksichtigen sowie das ihnen zuzurechnende Verhalten, vor allem Verfahrensverzögerungen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, juris, Rn. 11; Beschluss der [X.] des [X.] vom 2. Dezember 2011 - 1 BvR 314/11 -, juris, Rn. 7 m.w.N.).

Im Hinblick auf Verzögerungen durch die Tätigkeit von Sachverständigen müssen die Gerichte die gutachterliche Tätigkeit zeitnah überwachen und gegebenenfalls gemäß § 411 Abs. 1 und 2 ZPO Bearbeitungsfristen setzen und Ordnungsgelder androhen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, juris, Rn. 16; Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. September 2007 - 1 BvR 775/07 -, juris, Rn. 11; Beschluss der [X.] des [X.] vom 2. September 2009 - 1 BvR 3171/08 -, juris, Rn. 35; Beschluss der [X.] des [X.] vom 23. Juni 2010 - 1 BvR 324/10 -, juris, Rn. 10).

b) Gemessen an diesen Voraussetzungen ist die Dauer des Verfahrens vor dem [X.] mit dem Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz unvereinbar.

aa) Zwar ist zu berücksichtigen, dass der Rechtsstreit - wie regelmäßig bei [X.] - in tatsächlicher Hinsicht komplex und in der Verfahrensführung aufwändig war. Es mussten mehrere Sachverständigengutachten nebst Ergänzungsgutachten eingeholt werden. Das Gericht hat trotz dieser Schwierigkeiten durch [X.], Stellungnahmefristen und Fortsetzungstermine zunächst eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Verfahrensförderung erzielt.

bb) Nach Aktenlage ergeben sich aber Verzögerungen im weiteren Prozessverlauf, die mit den Schwierigkeiten der Rechtssache nicht erklärt werden können und die auch nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen sind.

Unter anderem wurde das zweite Gutachten erst mehr als zwei Jahre nach dem Beweisbeschluss vorgelegt. Grund dafür war zum einen, dass der [X.] die notwendigen Unterlagen anfangs nicht zur Verfügung stellte und den weiteren Kostenvorschuss verspätet überwies. Mangels Fristsetzung durch Beschluss gemäß § 356 ZPO blieben diese [X.] jedoch beweisrechtlich ohne Folgen. Zum anderen verzögerte sich die Erstellung des Gutachtens selbst, ohne dass das Gericht die prozessualen Möglichkeiten des § 411 Abs. 1 und 2 ZPO genutzt und dem Sachverständigen Bearbeitungsfristen gesetzt oder unter Nachfristsetzung die Festsetzung eines Ordnungsgelds angedroht hätte. Insofern hat das [X.] das Verfahren nicht in ausreichendem Maße betrieben und gefördert. Insbesondere verdichtete sich mit zunehmender Dauer des Verfahrens auch die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. September 2007 - 1 BvR 775/05 -, juris, Rn. 12 m.w.N.).

2. Nach Abschluss des streitgegenständlichen Rechtsstreits fehlt dem Beschwerdeführer für das [X.] das Rechtsschutzbedürfnis.

a) Nach Beendigung der geltend gemachten Grundrechtsverletzung besteht ein Rechtsschutzbedürfnis nur unter besonderen Umständen fort, etwa dann, wenn die beeinträchtigenden Wirkungen andauern, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist (vgl. [X.] 91, 125 <133>; [X.]K 2, 33 <35> m.w.N.) oder wenn der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt (vgl. [X.] 104, 220 <233>).

b) Anhaltspunkte für eine Fortdauer des [X.] in diesem Sinne hat der Beschwerdeführer weder schlüssig vorgetragen noch sind solche ersichtlich. Die vage Möglichkeit, erneut einen Rechtsstreit vor dem betreffenden [X.] führen zu müssen, reicht nicht aus.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 359/09

23.05.2012

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93a Abs 2 Buchst b BVerfGG, § 356 ZPO, § 404a Abs 1 ZPO, § 411 Abs 1 ZPO, § 411 Abs 2 S 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 23.05.2012, Az. 1 BvR 359/09 (REWIS RS 2012, 6135)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6135

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