Bundesgerichtshof, Urteil vom 01.06.2021, Az. X ZR 8/20

10. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 5387

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Gegenstand

Ausgleichsanspruch des Pauschalreisenden wegen Flugannullierung: Anrechenbarkeit einer Entschädigungsleistung des Reiseveranstalters für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit


Leitsatz

Eine Entschädigungsleistung, die ein Fluggast nach Stornierung eines zu einer Pauschalreise gehörenden Flugs vom Reiseveranstalter für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit erhalten hat, stellt eine Schadensersatzleistung dar, die gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastrechteVO auf Ansprüche auf Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 FluggastrechteVO nach Maßgabe der Grundsätze über die Vorteilsausgleichung anrechenbar ist.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 24. Zivilkammer des [X.] vom 20. Dezember 2019 aufgehoben, soweit darin zum Nachteil der Beklagten entschieden wurde.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 9. Mai 2019 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin buchte bei einer [X.] für die Zeit vom 5. bis 12. Oktober 2016 eine Urlaubsreise, die von der Beklagten durchzuführende Flüge von [X.] auf die [X.] und zurück umfasste. Der Hinflug wurde annulliert.

2

Die [X.] kündigte die Reise. Die Klägerin nahm sie erfolgreich auf Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit in Höhe von 750 Euro in Anspruch.

3

Von der Beklagten hat die Klägerin eine Ausgleichszahlung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b [X.] für den annullierten Hinflug und den nicht angetretenen Rückflug in Höhe von insgesamt 1.200 Euro sowie Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangt.

4

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen.

5

Das [X.] hat die Beklagte wegen des [X.] zur Zahlung von 600 Euro nebst anteiligen Anwaltskosten verurteilt und die weitergehende Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

6

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Abweisung der Klage weiter. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

8

I. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei wegen der Annullierung des [X.] zur Leistung einer Ausgleichszahlung verpflichtet. Sie müsse sich Zahlungen der [X.] wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit nicht gemäß Art. 12 [X.] anrechnen lassen. Der Zweck der nach § 651f Abs. 2 BGB aF geschuldeten Entschädigung wegen Reisevereitelung und der Zweck der Ausgleichsleistung nach Art. 7 [X.] stimmten nicht überein. Die Ausgleichsleistung kompensiere nicht entgangene Urlaubszeit, sondern allein die Unannehmlichkeiten eines [X.]verlusts infolge der Flugannullierung.

9

II. Diese Beurteilung hält der revisionsrechtlichen Überprüfung im entscheidenden Punkt nicht stand.

1. Rechtsfehlerfrei und insoweit nicht angegriffen hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. c [X.] im Streitfall vorliegen.

2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts stellt die Entschädigungsleistung, die die Klägerin von der [X.] für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit erhalten hat, eine Schadensersatzleistung dar, die gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 [X.] auf Ansprüche auf Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 [X.] anrechenbar ist.

a) Der Senat hat - nach Erlass des angefochtenen Urteils - in einem Hinweisbeschluss gemäß § 552a und § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO dargelegt, dass Leistungen, die der Fluggast als Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit erhalten hat, auch auf der Grundlage des bis 30. Juni 2018 geltenden Rechts gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 [X.] auf einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 [X.] nach Maßgabe der Grundsätze über die Vorteilsausgleichung anzurechnen sind ([X.], Beschluss vom 31. März 2020 - [X.] Rn. 6 ff.). Dies entspricht der Rechtsfolge, die nach neuem Recht in Erwägungsgrund 36 und Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie ([X.]) 2015/2302 (nachfolgend: Pauschalreise-Richtlinie) sowie § 651p Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB ausdrücklich vorgesehen ist.

aa) Wie der Senat bereits in der früheren Entscheidung dargelegt hat, dient eine Entschädigungsleistung nach § 651f Abs. 2 BGB in der bis zum 30. Juni 2018 geltenden Fassung dem Ausgleich eines immateriellen Schadens, der auch von dem Ausgleichsanspruch nach Art. 7 [X.] abgedeckt ist.

Aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des § 651f Abs. 2 BGB aF ergibt sich die gesetzgeberische Wertung, dass bei Vereitelung der Reise von einer so schwerwiegenden Beeinträchtigung des vertraglich geschuldeten Leistungserfolgs auszugehen ist, dass eine Entschädigung dafür geboten ist, dass der Kunde seine Urlaubszeit nicht so verbringen konnte wie vom Veranstalter geschuldet.

Mit dem Ausgleichsanspruch nach der Fluggastrechteverordnung wird eine pauschalierte Entschädigung für die Unannehmlichkeiten gewährt, die einem Fluggast mit der Annullierung eines Flugs entstehen ([X.], Urteil vom 23. Oktober 2012 - [X.]/10 und [X.]/10, NJW 2013, 671 Rn. 74 - [X.]). Nicht erfasst sind hiervon individuelle Schäden, die der Fluggast über die allgemeinen Unannehmlichkeiten hinaus erlitten hat ([X.], Beschluss vom 28. Mai 2020 - [X.]/19, [X.], 190 Rn. 35 - [X.]).

Der Gerichtshof hat entschieden, dass das zuständige nationale Gericht die nach der Verordnung gewährte Ausgleichszahlung auf den weitergehenden Schadensersatzanspruch anrechnen lassen kann, aber nicht dazu verpflichtet ist und dass die Fluggastrechteverordnung dem nationalen Gericht keine Bedingungen für die Anrechnung vorgibt ([X.], Beschluss vom 28. Mai 2020 - [X.]/19, [X.], 190 Rn. 32 - [X.]; Urteil vom 29. Juli 2019 - [X.]/18, [X.], 280 Rn. 44 ff. - Rusu).

bb) Nach den im [X.] Recht maßgeblichen Grundsätzen der Vorteilsausgleichung sind dem Geschädigten in gewissem Umfang diejenigen Vorteile anzurechnen, die ihm in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zugeflossen sind. Es soll ein gerechter Ausgleich zwischen den bei einem Schadensfall widerstreitenden Interessen herbeigeführt werden. Der Geschädigte darf einerseits im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht bessergestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Andererseits sind nur diejenigen durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, also dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unangemessen entlastet ([X.], Urteil vom 30. September 2014 - [X.], NJW 2015, 553 Rn. 14; Urteil vom 28. Juni 2007 - [X.], [X.]Z 173, 83 Rn. 18).

cc) Nach diesen Grundsätzen ist die von einer [X.] geleistete Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit auf Ansprüche auf Ausgleichszahlungen nach der Fluggastrechteverordnung anzurechnen.

Der Anspruch auf Ausgleichszahlung und der Anspruch auf Schadensersatz wegen vertaner Urlaubszeit sind beide auf eine pauschale Entschädigung dafür gerichtet, dass der mit der geschuldeten Leistung angestrebte Zweck nicht erreicht wurde und der Reisende seine [X.] nicht wie geplant verbringen konnte.

dd) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung fehlt es an einer Identität der Schäden nicht deshalb, weil die Entschädigung nach § 651f Abs. 2 BGB aF auch und in erster Linie Unannehmlichkeiten abdeckt, die im [X.]raum nach dem geplanten Flug entstanden sind.

Wie die Revision zutreffend ausführt, dient auch die Ausgleichsleistung nach Art. 7 [X.] jedenfalls nicht allein dem Ausgleich von Unannehmlichkeiten während der [X.] des geplanten Flugs. Sie trägt vielmehr in erster Linie dem Umstand Rechnung, dass eine Flugannullierung und ein dadurch verursachter [X.]verlust typischerweise die Dispositionen für den [X.]raum nach der geplanten Ankunft beeinträchtigen.

ee) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung führt der Zweck der Reise nicht zu einer anderen Beurteilung.

Die Ausgleichsleistung nach Art. 7 [X.] entschädigt die Fluggäste dafür, dass sie über ihre [X.] nicht wie geplant verfügen konnten. Die Situation eines Pauschalreisenden unterscheidet sich insoweit nicht grundlegend von der Situation anderer Fluggäste. Pauschalreisende haben lediglich den Vorteil, dass sie eine Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit auch vom Reiseveranstalter verlangen können.

ff) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob die Annullierung nur zu einer vorübergehenden Beeinträchtigung der Reiseleistung führt oder der Fluggast von einem Antritt der Reise insgesamt absieht.

Diesbezügliche Unterschiede haben zwar in der Regel Einfluss auf die Höhe der nach § 651f Abs. 2 BGB aF geschuldeten Entschädigung. Ungeachtet dessen umfasst diese Entschädigung aber auch die Unannehmlichkeiten, die infolge der Stornierung des Flugs entstanden sind. Dass ein Fluggast deshalb im Einzelfall bessergestellt sein kann, wenn die Auswirkungen auf die Reise gering bleiben und die nach § 651f Abs. 2 BGB aF geschuldete Entschädigung deshalb hinter dem nach Art. 7 [X.] zu zahlenden Betrag zurückbleibt, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Solche Effekte sind eine immanente Folge der in Art. 7 [X.] vorgesehenen Pauschalierung. Diese kann auch in anderem Zusammenhang dazu führen, dass ein Fluggast bessergestellt ist, wenn er im Einzelfall nur geringe Unannehmlichkeiten erlitten hat.

gg) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung erfasst die Regelung in Art. 14 Abs. 5 der Pauschalreise-Richtlinie, auf die der Senat seine Rechtsprechung sowohl zum neuen als auch zum früheren Reiserecht maßgeblich stützt, sowohl einen Anspruch auf Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit als auch eine Ausgleichsleistung nach Art. 7 [X.].

Ein Anspruch auf Geldleistung als Ausgleich für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit ist ein Anspruch auf Schadensersatz im Sinne von Art. 14 Abs. 5 der Pauschalreise-Richtlinie. Dies ergibt sich aus Erwägungsgrund 34 der Richtlinie, wonach der Schadenersatz auch immaterielle Schäden umfassen sollte, wie beispielsweise entgangene Urlaubsfreuden infolge erheblicher Probleme bei der Erbringung der betreffenden Reiseleistungen.

Vor diesem Hintergrund kann eine Ausgleichsleistung nach Art. 7 [X.] nicht abweichend qualifiziert werden. Auch diese stellt einen pauschalierten Ausgleich für materielle und immaterielle Beeinträchtigungen und damit für Schäden im Sinne der Pauschalreise-Richtlinie dar.

b) Im Streitfall liegen die Voraussetzungen für eine Anrechnung danach vor.

aa) Ausweislich der von den Parteien nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts diente die Zahlung der [X.] der Abgeltung der gegen sie geltend gemachten [X.]. Geltend gemacht waren Ansprüche auf Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit nach § 651f Abs. 2 BGB aF, nicht hingegen Ansprüche auf Ersatz eines darüber hinausgehenden individuellen Schadens.

bb) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist eine Anrechnung im Streitfall nicht deshalb ausgeschlossen, weil die [X.] den Reisevertrag gekündigt hat.

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Kündigung durch die Stornierung des Flugs verursacht worden ist oder auf anderen Gründen beruht. Auch im zuletzt genannten Fall deckt die Entschädigung nach § 651f Abs. 2 BGB die Unannehmlichkeiten mit ab, die die Klägerin erlitten hat, weil sie den geplanten Flug nicht absolvieren konnte und deshalb in ihren zeitlichen Dispositionen beeinträchtigt worden ist.

III. [X.] ist zur Entscheidung reif (§ 562 Abs. 3 ZPO).

Wie oben dargelegt wurde, steht der Klägerin auf der Grundlage des vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nicht zu. Damit besteht auch kein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

Ergänzender Parteivortrag, der zu einer abweichenden Beurteilung führen könnte, ist nicht ersichtlich.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 und § 97 Abs. 1 ZPO.

[X.]     

      

Grabinski     

      

Hoffmann

      

Marx     

      

Rensen     

      

Meta

X ZR 8/20

01.06.2021

Bundesgerichtshof 10. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Frankfurt, 20. Dezember 2019, Az: 2-24 S 129/19, Urteil

Art 7 Abs 1 EGV 261/2004, Art 12 Abs 1 S 2 EGV 261/2004, Art 14 Abs 5 EURL 2015/2302, Erwägungsgrund 34 EURL 2015/2302, Erwägungsgrund 36 EURL 2015/2302, § 249 Abs 1 BGB, § 651f Abs 2 BGB vom 02.01.2002

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 01.06.2021, Az. X ZR 8/20 (REWIS RS 2021, 5387)

Papier­fundstellen: MDR 2021, 993-994 REWIS RS 2021, 5387

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X ZR 25/20

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