Bundesgerichtshof, Urteil vom 28.01.2022, Az. V ZR 99/21

5. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 2251

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Gegenstand

Verletzung einer nachbarschützenden Norm des öffentlichen Rechts: Ausschluss eines quasinegatorischen Beseitigungs- oder Unterlassungsanspruchs bei öffentlich-rechtlich bestandskräftig genehmigter Grundstücksnutzung; Ansprüche wegen Beeinträchtigung des Grundstücks durch Immissionen; Zulässigkeit der Abweisung eines Hauptantrags durch Teilurteil und Zurückstellung der Entscheidung über den Hilfsantrag


Leitsatz

1a. Ein quasinegatorischer Beseitigungs- oder Unterlassungsanspruch, der auf die Verletzung einer nachbarschützenden Norm des öffentlichen Rechts als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB gestützt wird, ist ausgeschlossen, wenn und soweit die Grundstücksnutzung öffentlich-rechtlich bestandskräftig genehmigt wurde, die Genehmigung nach wie vor wirksam ist und die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit der nachbarschützenden Norm, auf die sich der Kläger stützt, Teil des vorgeschriebenen Prüfprogramms im (vereinfachten) Genehmigungsverfahren war (Bestätigung von Senat, Urteil vom 21. Januar 2022 - V ZR 76/20, MDR 2022, 758).

1b. Die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung hat keinen Einfluss auf das Bestehen von Ansprüchen aus § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 906 BGB (Bestätigung von Senat, Urteil vom 26. Februar 1993 - V ZR 74/92, BGHZ 122, 1, 7 f.).

2. Es ist grundsätzlich zulässig, einen Hauptantrag durch Teilurteil abzuweisen und die Entscheidung über den Hilfsantrag zurückzustellen. Weiter erforderlich ist aber, dass auch im Übrigen die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen ein Teilurteil ergehen kann; insbesondere muss die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen ausgeschlossen sein (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 20. März 2014 - X ZB 18/13, WM 2014, 1409 Rn. 14; teilweise Aufgabe von Senat, Urteil vom 12. Mai 1995 - V ZR 34/94, NJW 1995, 2361).

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des [X.] - 5. Zivilsenat - vom 4. Mai 2021 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin ist Eigentümerin eines in [X.] gelegenen Grundstücks, auf dem sie ein Hotel betreibt. Auf dem angrenzenden Grundstück der Beklagten befindet sich ein Lebensmittelmarkt. Unmittelbar an der Grenzmauer, zu der ausgerichtet sich auf dem klägerischen Grundstück Gästezimmer mit Balkonen und eine Gartenterrasse für Gäste befinden, errichtete die Beklagte zwei für den Betrieb des Marktes erforderliche [X.]. Diese sind mit einer Umhausung aus Stahlgittern versehen und oben durch einen offenen Stahlgitterrost überdeckt. Die Errichtung der Anlagen nebst Umhausung wurde im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren durch bestandskräftigen Bescheid vom 5. September 2018 genehmigt.

2

Die Klägerin verlangt mit ihrer Klage im Hauptantrag, der Beklagten zu untersagen, in einem Abstand von weniger als drei Metern zu ihrem Grundstück [X.] zu betreiben. Hilfsweise beantragt sie, dass der Beklagten untersagt wird, auf deren Grundstück technische Anlagen in einer Weise zu betreiben, dass bestimmte Immissionsrichtwerte überschritten werden. Äußerst hilfsweise verlangt sie, die Beklagte zu verpflichten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die technischen Anlagen so zu betreiben, dass von diesen keine nach dem Stand der Technik vermeidbare, schädliche Umwelteinwirkung auf ihr Grundstück dringt.

3

Das [X.] hat den Hauptantrag durch Teilurteil abgewiesen. Das [X.] hat die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer von dem [X.] zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt.

Entscheidungsgründe

I.

4

Das Berufungsgericht meint, die Entscheidung durch Teilurteil sei zulässig gewesen. Bei einer eventuellen Klagehäufung, wie sie hier vorliege, bestehe die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen nicht, wenn der Hauptantrag abgewiesen werde. In der Sache bleibe der Antrag ohne Erfolg, denn die Klägerin habe keinen Anspruch aus § 1004, § 823 Abs. 2 BGB gegen die Beklagte, die Errichtung der [X.] mit Umhausung in dem [X.] von drei Metern zu ihrer Grenze hin zu unterlassen, da sie nicht in ihren, sich aus Art. 6 [X.] (im Folgenden BayBO) ergebenden Rechten auf Einhaltung der Abstandsvorschriften verletzt sei. Zwar stehe die bestandskräftige Baugenehmigung der Geltendmachung des Anspruchs nicht entgegen. Art 6 BayBO sei aber nicht verletzt, da es sich bei den [X.] mit Umhausung weder um Gebäude noch um gebäudegleiche Anlagen im Sinne der Vorschrift handele. Auf die Geräuschimmissionen komme es nicht an, denn die Abstandsvorschriften hätten nicht den Zweck, anlagenbezogenen Immissionsschutz zu gewährleisten.

II.

5

Dies hält revisionsrechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand.

6

1. Im Ergebnis ohne Erfolg macht die Revision geltend, das Berufungsurteil sei bereits deswegen aufzuheben, weil der Erlass eines Teilurteils durch das [X.] unzulässig gewesen sei. Die noch ausstehende Entscheidung über die Hilfsanträge hinderte den Erlass eines Teilurteils nicht.

7

a) Nicht zutreffend ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, bei einer eventuellen Klagehäufung sei ein Teilurteil, mit dem der Hauptantrag abgewiesen werde, ohne Weiteres zulässig, weil angesichts der Bedingung, unter der der Hilfsantrag stehe, keine Gefahr widersprechender Entscheidungen bestehe.

8

aa) Richtig ist zwar, dass es grundsätzlich zulässig ist, einen Hauptantrag durch Teilurteil abzuweisen und die Entscheidung über den Hilfsantrag zurückzustellen (vgl. Senat, Urteil vom 12. Mai 1995 - [X.], NJW 1995, 2361; [X.], Urteil vom 8. Mai 2014 - [X.], NJW-RR 2014, 979 Rn. 12; Urteil vom 14. Oktober 1985 - [X.], NJW-RR 1986, 579; Urteil vom 1. April 1971 - [X.], [X.]Z 56, 79, 80; [X.], ZPO, 23. Aufl., § 301 Rn. 33; MüKoZPO/Musielak, 6. Aufl., § 301 Rn. 21; [X.]/Feskorn, ZPO, 34. Aufl., § 301 Rn. 8). Damit ist aber nur gemeint, dass die prozessuale Abhängigkeit von Haupt- und Hilfsantrag dem Erlass eines Teilurteils nicht entgegensteht. Der [X.] hat der Auffassung widersprochen, es handle sich bei Haupt- und Hilfsantrag um ein „einheitliches Ganzes“, das nicht zerrissen werden könne; von den Vertretern dieser Auffassung wurde insbesondere die Gefahr gesehen, dass sich widersprüchliche Entscheidungen ergeben könnten, wenn das erstinstanzliche Gericht, das den Hauptantrag abgewiesen hat, im weiteren Prozessverlauf (möglicherweise rechtskräftig) über den Hilfsantrag entscheidet und später das Berufungs- oder Revisionsgericht dem Hauptantrag stattgibt (vgl. [X.], Urteil vom 1. April 1971 - [X.], [X.]Z 56, 79, 81).

9

bb) Weiter erforderlich für die Abweisung eines [X.] durch Teilurteil ist aber, dass auch im Übrigen die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen ein Teilurteil ergehen kann; insbesondere muss die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen ausgeschlossen sein (vgl. [X.], Beschluss vom 20. März 2014 - [X.], [X.], 1409 Rn. 14). Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist ein Teilurteil unzulässig, wenn die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen - auch infolge abweichender Beurteilung durch das Rechtsmittelgericht - besteht. Eine solche Gefahr ist namentlich dann gegeben, wenn in einem Teilurteil eine Frage entschieden wird, die sich dem Gericht im weiteren Verfahren über andere Ansprüche oder Anspruchsteile noch einmal stellt oder stellen kann. Das gilt auch insoweit, als es um die Möglichkeit einer unterschiedlichen Beurteilung von bloßen [X.] geht, die weder in Rechtskraft erwachsen noch das Gericht nach § 318 ZPO für das weitere Verfahren binden (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Urteil vom 11. Mai 2011 - [X.], [X.]Z 189, 356 Rn. 13 mwN). Auch bei einer Entscheidung über den Hauptantrag darf derjenigen über den Hilfsantrag sachlich nicht vorgegriffen werden (vgl. [X.], Urteil vom 1. April 1971 - [X.], [X.]Z 56, 79, 81; siehe auch [X.][X.], ZPO, 13. Aufl., § 301 Rn. 15). Kommt es für beide Anträge auf eine gemeinsame rechtliche Vorfrage an, kann es etwa dadurch zu einander widersprechender Entscheidungen kommen, dass diese Frage in Bezug auf den Hilfsantrag anders beantwortet wird als zuvor bei der Beurteilung des [X.]; in diesem Fall ist ein Teilurteil unzulässig. Soweit sich aus der Entscheidung des Senats vom 12. Mai 1995 ([X.], NJW 1995, 2361) etwas anderes ergibt, wird hieran nicht festgehalten.

b) Der Rechtsfehler des Berufungsgerichts hat sich aber nicht ausgewirkt, da eine Gefahr von sich widersprechenden Entscheidungen hier nicht bestand.

aa) Auszugehen ist davon, dass der Haupt- und die Hilfsanträge unterschiedliche Streitgegenstände betreffen.

(1) Mit dem Hauptantrag verfolgt die Klägerin einen [X.] Anspruch aus § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 2 i.V.m Art. 6 der BayBO wegen Verletzung der danach einzuhaltenden Abstandsflächen, mit den [X.] Unterlassungsansprüche aus § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 906 BGB wegen einer Beeinträchtigung ihres Grundstücks durch Immissionen. Die Ansprüche führen zu unterschiedlichen Rechtsfolgen. Während der auf die Verletzung öffentlich-rechtlicher Abstandsvorschriften gestützte quasinegatorische Unterlassungsanspruch auf die Beseitigung der unter Verletzung dieser Vorschriften erbauten Anlage gerichtet ist, zielt der Anspruch aus § 1004 Abs. 1 i.V.m § 906 BGB auf die Unterlassung bestimmter Immissionen; dabei bleibt es grundsätzlich dem Anspruchsgegner überlassen, wie er dieses Ziel erreicht (vgl. Senat, Urteil vom 21. Oktober 2005 - [X.], NJW-RR 2006, 235 Rn. 19; Urteil vom 12. Dezember 2003 - [X.], [X.], 1035, 1037 mwN). Anders ist es lediglich, wenn die unzulässigen Einwirkungen nur durch eine bestimmte Maßnahme abgewendet werden können (vgl. Senat, Urteil vom 20. September 2019 - [X.], [X.]Z 223, 155 Rn. 6).

Aufgrund der unterschiedlichen Rechtsfolgen der Ansprüche handelt es sich um mehrere Streitgegenstände, denn nach der in der Rechtsprechung des [X.]s anerkannten prozessrechtlichen Auffassung vom Streitgegenstand im Zivilprozess ist Gegenstand des Rechtsstreits der als Rechtsschutzbegehren oder Rechtsfolgenbehauptung aufgefasste eigenständige prozessuale Anspruch, der bestimmt wird durch den Klageantrag (Rechtsfolge) und den Lebenssachverhalt (Anspruchs- oder Klagegrund), aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet (vgl. [X.], Urteil vom 17. Dezember 2020 - [X.], [X.], 76 Rn. 26 mwN). Etwas anderes folgt nicht daraus, dass es der Klägerin im Ergebnis um die Abwehr des von den [X.] ausgehenden Lärms geht. Auch wenn Ansprüche wirtschaftlich auf das Gleiche gerichtet sind, können die verschiedenen materiell-rechtlichen Ansprüche unterschiedliche Streitgegenstände aufweisen; dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Ansprüche - wie hier - sowohl in ihren materiell-rechtlichen Voraussetzungen als auch in ihren Folgen verschieden sind ([X.], Urteil vom 17. Dezember 2020 - [X.], aaO; Beschluss vom 3. März 2016 - [X.], [X.]Z 209, 168 Rn. 28).

(2) Die Einwände der Revision gegen diese Auslegung der Klageanträge, die auch noch das Revisionsgericht vornehmen kann (vgl. Senat, Urteil vom 26. Februar 2016 - [X.], NJW 2016, 2181 Rn. 18 mwN), sind unbegründet. Richtig ist zwar, dass die Klägerin in der Klageschrift, die nur den Hauptantrag enthält, ausgeführt hat, sie könne auch deswegen die Unterlassung des Betriebs der [X.] verlangen, weil diese die Immissionsrichtwerte der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm ([X.]) nicht einhielten. Mit der Erweiterung der Klage um die Hilfsanträge und deren Begründung hat die Klägerin aber deutlich gemacht, dass sie jedenfalls nunmehr mit dem Hauptantrag nur noch den [X.] Anspruch und mit den [X.] getrennt davon Ansprüche aus § 1004 Abs. 1 BGB i.V.m. § 906 BGB verfolgt.

bb) (1) Bei einer Mehrheit von Streitgegenständen besteht eine Gefahr einander widersprechender Entscheidungen, wenn zwischen ihnen eine materiell-rechtliche Verzahnung besteht oder wenn die Ansprüche prozessual in ein Abhängigkeitsverhältnis gestellt sind (vgl. Senat, Urteil vom 30. November 2012 - [X.], [X.], 1009 Rn. 9; Urteil vom 28. November 2003 - [X.], [X.]Z 157, 133, 142 f.; [X.], Urteil vom 11. Mai 2011 - [X.], [X.]Z 189, 356 Rn. 14). Eine prozessuale Abhängigkeit in diesem Sinne ist jedoch nicht schon dann gegeben, wenn die Ansprüche in ein Eventualverhältnis gestellt werden; vielmehr ist eine Abhängigkeit gemeint, die (auch) zu einer inhaltlichen Verknüpfung der haupt- und hilfsweise geltend gemachten Ansprüche führt (vgl. Senat, Urteil vom 28. November 2003 - [X.], [X.]Z 157, 133, 143).

(2) So verhält es sich hier nicht. Wie dargelegt (vgl. oben Rn. 12-14) und anders als die Revision meint, ist ein möglicher Anspruch der Klägerin aus § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 906 BGB wegen unzulässiger Immissionen nicht Gegenstand sowohl des Haupt- als auch der Hilfsanträge, sondern allein der Hilfsanträge. Eine Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen folgt auch nicht aus einer materiell-rechtlichen Verzahnung der prozessualen Ansprüche, insbesondere werfen sie nicht dieselben Vorfragen auf. Zwar kann für beide Ansprüche relevant werden, welche Lärmimmissionen von den [X.] ausgehen und ob diese die Grenzwerte der [X.] überschreiten; in Bezug auf den Hauptantrag zeigt sich das daran, dass die Revision zugelassen worden ist, damit geklärt werden kann, ob die Kühlanlagen wegen des von ihnen ausgehenden Lärms unter Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO zu subsumieren sind. Die Aspekte, unter denen der von den Kühlanlagen ausgehende Lärm Bedeutung erlangen kann, sind aber so unterschiedlich, dass Widersprüche nicht entstehen können. Falls für die Definition von „Anlagen, von denen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen“ (vgl. Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO) darauf maßgeblich sein sollte, ob die Anlagen Lärm verursachen, käme es nur auf allgemeine Erfahrungswerte an. Denn durch nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Rechts wird ein abstrakter Gefährdungstatbestand normiert, der den Schutz des Nachbarn vorverlagert; es wird nicht an einen konkreten [X.] angeknüpft (vgl. Senat, Urteil vom 21. Januar 2022 - [X.]/20, juris Rn. 7; Urteil vom 27. November 2020 - [X.], [X.], 321 Rn. 17 mwN). Demgegenüber ist für einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 906 BGB die konkrete Beeinträchtigung des Grundstücks des Anspruchstellers maßgeblich, hier also, ob der Lärm, den die von der Beklagten betriebenen [X.] verursachen, das Grundstück der Klägerin nicht nur unwesentlich beeinträchtigt.

2. Im Ergebnis zu Recht ist das Berufungsgericht der Auffassung, der Hauptantrag sei unbegründet. Der mit dem Hauptantrag geltend gemachte Anspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 6 Abs. 1 BayBO besteht nicht.

a) Zwar kann die Verletzung nachbarschützender Vorschriften des öffentlichen Baurechts (quasinegatorische) [X.] und Unterlassungsansprüche des Nachbarn gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 2 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB begründen, ohne dass es einer darüberhinausgehenden Beeinträchtigung des Nachbarn bedarf (vgl. Senat, Urteil vom 21. Januar 2022 - [X.]/20, juris Rn. 7; Urteil vom 27. November 2020 - [X.], [X.], 321 Rn. 16 f.). Die bauordnungsrechtlichen Vorschriften über die Abstandsflächen haben auch nachbarschützenden Charakter (vgl. Senat, Urteil vom 29. April 2011 - [X.], [X.], 244 Rn. 18 mwN).

b) Anders, als das Berufungsgericht meint, ist aber der wegen eines Verstoßes gegen die in Art. 6 BayBO geregelten Vorschriften zu Abstandsflächen geltend gemachte quasinegatorische Anspruch hier bereits deswegen ausgeschlossen, weil die Errichtung der [X.] mit Umhausung von einer bestandskräftigen Baugenehmigung gedeckt ist, deren Legalisierungswirkung die Einhaltung der Abstandsflächen umfasst. Deswegen stellt sich auch die Frage nicht, die das Berufungsgericht zur Zulassung der Revision veranlasst hat, nämlich, ob der von [X.] mit Umhausung ausgehende Lärm in den Anwendungsbereich des Art. 6 BayBO fällt.

aa) Wie der Senat jüngst ausgeführt hat, ist ein quasinegatorischer Unterlassungsanspruch, der auf die Verletzung einer nachbarschützenden Norm des öffentlichen Rechts als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB gestützt wird, ausgeschlossen, wenn und soweit die Grundstücksnutzung öffentlich-rechtlich bestandskräftig genehmigt wurde, die Genehmigung nach wie vor wirksam ist und die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit der nachbarschützenden Norm, auf die sich der Kläger stützt, Teil des vorgeschriebenen Prüfprogramms im (vereinfachten) Genehmigungsverfahren war. Denn der [X.] der Baugenehmigung entfaltet insoweit auch für die Zivilgerichte eine Legalisierungswirkung, die vom Nachbarn hinzunehmen und für die Zivilgerichte bindend ist (vgl. näher Senat, Urteil vom 21. Januar 2022 - [X.]/20, juris Rn. 13 ff.; vgl. auch [X.], Urteil vom 16. März 2021 - [X.], NVwZ-RR 2021, 640 Rn. 12, 14). Entsprechendes gilt für den [X.] Beseitigungsanspruch, der auf die Verletzung einer nachbarschützenden Norm des öffentlichen Rechts als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB gestützt wird.

bb) Für die von der Beklagten errichteten [X.] nebst Umhausung besteht eine bestandskräftige Baugenehmigung vom 5. September 2018, die im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren ergangen ist. Weil im Rahmen dieses Verfahrens die Einhaltung der Abstandsflächen zu prüfen war, erstreckt sich die Legalisierungswirkung der Genehmigung hierauf.

Nach der für die [X.] in der seit dem 1. September 2018 geltenden Fassung, ist - anders als nach § 59 der [X.] in der bis zum 31. August 2018 geltenden Fassung oder zum Beispiel in Bauordnungen anderer Länder wie in [X.] (§ 65 Abs. 1 [X.]) oder [X.] (§ 63 [X.]) - gemäß Art. 59 Abs. 1 Nr. 1b BayBO zu prüfen, ob das Bauvorhaben mit den Vorschriften zu den Abstandsflächen gemäß Art. 6 BayBO übereinstimmt. Mangels Übergangsvorschrift für das Inkrafttreten der Neuregelung galt nach den Grundsätzen des intertemporalen Verfahrensrechts für die am 1. September 2018 noch nicht entschiedenen Anträge die Neuregelung des Art. 59 Abs. 1 Nr. 1b BayBO (vgl. [X.] [X.]/[X.] [1.4.2021], Art. 84 BayBO Rn. 2; [X.] in Busse/[X.], BayBO [September 2021], Art. 84 Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 9. August 2007 - 1 C 47/06, NVwZ 2007, 1435 Rn. 29). Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass hier im Hinblick auf die Abstandsflächen vor dem 1. September 2018 ein Verfahrensabschnitt abgeschlossen gewesen wäre und insoweit noch das alte Recht hätte Anwendung finden müssen (vgl. insoweit Kallerhoff/[X.] in [X.]/[X.], [X.], 9. Aufl., § 96 Rn. 1).

cc) Die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung hat allerdings keinen Einfluss auf das Bestehen von Ansprüchen aus § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 906 BGB (vgl. Senat, Urteil vom 20. April 1990 - [X.], [X.]Z 111, 158, 163). Dies beruht darauf, dass die Baugenehmigung gemäß Art. 68 Abs. 5 BayBO unbeschadet privater Rechter Dritter ergeht und deshalb keine privatrechtsgestaltende [X.] haben kann (vgl. Senat, Urteil vom 21. Januar 2022 - [X.]/20, juris Rn. 12; Urteil vom 26. Februar 1993 - [X.], [X.]Z 122, 1, 7 f.). Das Bestehen von Ansprüchen aus § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 906 BGB wird daher im Rahmen der Hilfsanträge umfassend zu prüfen sein.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Stresemann    

        

Brückner    

        

Göbel 

        

Haberkamp    

        

[X.]    

        

Meta

V ZR 99/21

28.01.2022

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Bamberg, 4. Mai 2021, Az: 5 U 176/20

§ 823 Abs 2 BGB, § 906 BGB, § 1004 Abs 1 S 2 BGB, § 301 ZPO, Art 6 Abs 1 BauO BY, Art 68 Abs 5 BauO BY

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 28.01.2022, Az. V ZR 99/21 (REWIS RS 2022, 2251)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2251 MDR 2022, 889-890 REWIS RS 2022, 2251

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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