Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13.09.2020, Az. 2 BvR 2082/18

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2020, 2995

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Unzureichende gerichtliche Sachaufklärung hinsichtlich einer Schutzgewährung durch einen Drittstaat im Asylverfahren (§ 29 Abs 1 Nr 2 AsylG <juris: AsylVfG 1992>) verletzt Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 S 1 GG) - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Das Urteil des [X.]vom 10. August 2018 - 3 K 9660/17.F.A - verletzt die Rechte der Beschwerdeführer aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben und die Sache an das [X.]zurückverwiesen.

Das [X.]hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

1. Die Beschwerdeführer sind [X.]Staatsangehörige. Die 1989 geborene Beschwerdeführerin zu 1. ist die Mutter der minderjährigen Beschwerdeführer zu 2. bis 4.

2

Die Beschwerdeführerin zu 1. verließ [X.]im Dezember 2010 und hielt sich sodann etwa sechs Monate in Libyen, etwa drei Jahre in [X.]und etwa ein Jahr in [X.]auf. In [X.]wurde der Beschwerdeführer zu 2. geboren, in [X.]der Beschwerdeführer zu 3. Die Beschwerdeführer zu 1. bis 3. reisten im Oktober 2015 nach [X.]weiter; einen Monat später kam der Beschwerdeführer zu 4. zur Welt. Der Ehemann der Beschwerdeführerin zu 1. und Vater der Beschwerdeführer zu 2. bis 4. reiste im März 2016 nach [X.]ein.

3

Die Familie stellte im November 2016 beim [X.](Bundesamt) Asylanträge.

4

In der persönlichen Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 26. April 2017 gab die Beschwerdeführerin zu 1. an, nicht nach [X.]oder nach [X.]überstellt werden zu wollen; in beiden [X.]sei sie nicht hinreichend unterstützt worden. In [X.]verfüge sie über keinen Schutzstatus; dort sei ihr Asylantrag abgelehnt worden. In [X.]habe sie subsidiären Schutz für ein Jahr erhalten.

5

Mit Verfügung vom 14. Juli 2017 trennte das [X.]das Verfahren der Beschwerdeführer vom Verfahren des Ehemannes der Beschwerdeführerin zu 1. / [X.]der Beschwerdeführer zu 2. bis 4. unter Verweis darauf, dass die Beschwerdeführerin zu 1. in [X.]bereits subsidiären Schutz erhalten habe, ab.

6

In einem Vermerk vom 28. August 2017 hielt das [X.]fest, dass die Angabe der Beschwerdeführerin zu 1., dass sie in [X.]subsidiären Schutz erhalten habe, für den Erlass eines Drittstaatenbescheides allein nicht ausreiche. Deswegen sei zur Aufklärung des Sachverhalts eine Anfrage zum Ausgang des Verfahrens in [X.]an die Liaisonbeamtin zu richten. Auch solle nach Möglichkeit geklärt werden, ob die Kinder, das heißt die Beschwerdeführer zu 2. und 3., ebenfalls einen Schutzstatus erhalten hätten und ob dieser noch fortbestehe.

7

In einem weiteren Vermerk vom 12. Oktober 2017 heißt es, die Liaisonbeamtin habe sich mittlerweile in Absprache mit Referat [X.]aufgrund der hohen Anzahl von Anfragen "für unzuständig erklärt". Auch hätten sich keine weiteren Erkenntnisquellen ergeben. Nach derzeitigem Sachstand sei somit von einem Erstverfahren auszugehen.

8

2. Mit Bescheid vom 27. November 2017 lehnte das [X.]den Asylantrag der Beschwerdeführer ab und drohte ihnen die Abschiebung nach [X.]an. Sie hätten im Hinblick auf ihr Heimatland [X.]weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder die Feststellung von Abschiebungsverboten.

9

3. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer am 12. Dezember 2017 Klage beim [X.]am Main.

4. Im April 2018 wurde das vierte Kind der Beschwerdeführerin zu 1. - eine Tochter - geboren; der für sie gestellte Asylantrag blieb ebenfalls erfolglos. Die Beschwerdeführerin zu 1. und ihr Ehemann erhoben für ihre Tochter Klage.

5. Am 10. August 2018 fand sowohl im Verfahren der Beschwerdeführer als auch im Verfahren der Tochter die mündliche Verhandlung statt. Die Beschwerdeführerin zu 1. gab erneut an, in [X.]subsidiären Schutz erhalten zu haben. Die entsprechenden [X.]Unterlagen habe sie in [X.]abgegeben; sie müssten sich bei der Behördenakte befinden. Auf den Hinweis des Gerichts, dass die Behördenakte solche Unterlagen nicht enthalte, legte sie Dokumente in [X.]Sprache vor, unter anderem zwei "Titol[i] di Viaggio per Stranieri" für die Beschwerdeführer zu 2. und 3. Daraufhin wurde in der mündlichen Verhandlung die Frage erörtert, welche Bedeutung einer Gewährung subsidiären Schutzes in [X.]zukomme.

6. Mit Urteil vom 10. August 2018, bekanntgegeben am 17. August 2018, wies das Verwaltungsgericht die Klage als offensichtlich unbegründet ab. Der Bescheid des [X.]vom 27. November 2017 sei offensichtlich rechtmäßig und verletze die Beschwerdeführer nicht in ihren Rechten. Sie hätten offensichtlich weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). Abschiebungsverbote lägen gleichfalls nicht vor.

Die Abschiebungsandrohung beruhe auf § 34 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG. Das [X.]habe den Beschwerdeführern im angefochtenen Bescheid zutreffend die Abschiebung nach [X.]angedroht. Dass die Beschwerdeführerin zu 1. in [X.]bereits subsidiären Schutz erhalten habe mit der Folge, dass ihr die Abschiebung dorthin angedroht werden müsse, lasse sich nicht feststellen. Sie habe angegeben, in [X.]subsidiären Schutz für ein Jahr erhalten zu haben. Dies belege zur Überzeugung des Gerichts, dass ihr dort kein subsidiärer Schutz gewährt worden sei; in diesem Falle wäre ihr nämlich eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von fünf Jahren bewilligt worden ([X.]- Italien; [X.]- Stichwort: Asyl in der EU: Unterschiedliche Rechte für Flüchtlinge). Nichts anderes ergebe sich aus den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen; die Meldebescheinigung der [X.]sei eine Erlaubnis zur Durchführung des Asylbegehrens entsprechend der [X.]Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 AsylG.

7. Mit weiterem Urteil vom 10. August 2018 wies das Verwaltungsgericht auch die Klage der Tochter ab.

8. Eine von den Beschwerdeführern am 30. August 2018 erhobene Anhörungsrüge, mit welcher sie geltend machten, das Verwaltungsgericht habe in dem ihnen gegenüber ergangenen Urteil übersehen, dass das Urteil der Tochter/ [X.]von demselben Tag noch berufungsfähig und damit eine Entscheidung gemäß § 26 AsylG nach wie vor möglich sei, wies das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 4. September 2018 zurück.

II.

1. Die Beschwerdeführer haben am 17. September 2018 gegen das Urteil vom 10. August 2018 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie [X.]eine Verletzung ihres Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Das Urteil verstoße gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, weil sich das Verwaltungsgericht nicht mit den im Verfahren vorliegenden Anhaltspunkten für eine Schutzgewährung in [X.]auseinandergesetzt habe. Die Beschwerdeführerin zu 1. habe sowohl beim [X.]als auch im Klageverfahren angegeben, in [X.]subsidiären Schutz erhalten zu haben. In der mündlichen Verhandlung habe sie insbesondere zwei "Titol[i] di Viaggio per Stranieri" (= [X.]für Ausländer) für die Beschwerdeführer zu 2. und 3. sowie [X.]Krankenversicherungskarten für sich und die Kinder vorgelegt; das Urteil des [X.]verhalte sich zu diesen Umständen nicht.

Das [X.]habe mit Urteil vom 21. November 2017 (1 [X.]39.16; juris) festgestellt, dass, wenn in einem Asylverfahren zweifelhaft sei, ob dem Schutzsuchenden bereits in einem anderen [X.]internationaler Schutz gewährt worden sei, das Gericht diesen Sachverhalt aufklären müsse, soweit die Zulässigkeit eines erneuten Schutzantrags von dieser Frage abhänge; dies gelte auch dann, wenn ein an den anderen [X.]gerichtetes Aufnahmeersuchen nach den [X.]unbeantwortet geblieben sei. Ein [X.]verletze seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung, wenn sich ihm auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen hätte aufdrängen müssen (BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 [X.]2.15 -, juris, Rn. 2).

Das [X.]sei von der Ansicht, dass der Beschwerdeführerin zu 1. in [X.]bereits subsidiärer Schutz gewährt worden sei, nur abgerückt, weil die [X.]Liaisonbeamtin keine Zeit gehabt habe, seine Anfrage zu beantworten. Das Verwaltungsgericht hätte eine eigenständige Anfrage an die Liaisonbeamtin stellen können; diese hätte ergeben können, dass der Beschwerdeführerin zu 1. in [X.]bereits subsidiärer Schutz gewährt worden sei. Daran ändere es auch nichts, dass die Beschwerdeführerin zu 1. angegeben habe, dass ihr in [X.]nur eine einjährige Aufenthaltserlaubnis ausgehändigt worden sei. Soweit das Gericht darauf abstelle, dass der subsidiäre Schutzstatus in [X.]zu einem fünfjährigen Aufenthaltstitel führe, beruhe dies auf [X.]aus dem Jahr 2016. Die Beschwerdeführerin zu 1. habe sich jedoch bereits 2014 in [X.]aufgehalten; zu diesem Zeitpunkt habe der subsidiäre Schutzstatus nur einen dreijährigen Aufenthaltstitel zur Folge gehabt. Das Verwaltungsgericht habe sich mithin nicht einmal bemüht, die Daten für das relevante Jahr herauszusuchen. Die Frage, ob der Beschwerdeführerin zu 1. in [X.]bereits subsidiärer Schutz gewährt worden sei, sei für das Asylverfahren der Beschwerdeführer in [X.]auch entscheidungserheblich gewesen.

b) Das Urteil entspreche auch nicht den Anforderungen an eine Klageabweisung als offensichtlich unbegründet gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Darüber hinaus habe das Verwaltungsgericht übersehen, dass das Verfahren der Tochter der Beschwerdeführerin zu 1. / [X.]der Beschwerdeführer zu 2. bis 4. noch berufungsfähig und damit nicht rechtskräftig abgeschlossen sei. Damit habe für die Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Entscheidung noch die Möglichkeit bestanden, einen Schutzstatus nach § 26 AsylG zu erlangen.

2. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.]vorgelegen. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, das [X.]und das [X.]hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]zur Durchsetzung des Rechts der Beschwerdeführer auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.]bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

1. Das Urteil des [X.]vom 10. August 2018 verstößt gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG; das Gericht hätte die Frage, ob den Beschwerdeführern zu 1. bis 3. in [X.]bereits der subsidiäre Schutz zuerkannt worden ist, bei der gegebenen Sachlage weiter aufklären müssen.

a) Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen; sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potenziell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einer richterlichen Prüfung unterstellt werden kann; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. [X.]35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; stRspr).

Die Anwendung des einfachen Rechts und die dazu erforderliche Aufklärung des Sachverhalts sind zwar grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Diese unterliegen dabei jedoch einer Kontrolle, ob das Willkürverbot verletzt ist oder Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. [X.]18, 85 <92 f.>; stRspr). Der einfachrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) kann - bezogen auf Asylverfahren - besonders dann verfassungsrechtliches Gewicht zukommen, wenn hinreichend substantiierte Behauptungen von Schutzsuchenden oder andere ins Verfahren eingeflossene Erkenntnisse auf Umstände zielen, die, ihr Vorliegen unterstellt, für die Verwirklichung hochrangiger grundrechtlicher Gewährleistungen von ausschlaggebender Bedeutung sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse der [X.]des Zweiten Senats vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 -, Rn. 19 m.w.N., und vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, Rn. 13 ff. m.w.N.). In einer solchen Situation kann die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht (vgl. [X.]101, 275 <294 f.>; stRspr).

b) Diesen Vorgaben wird das Urteil des [X.]vom 10. August 2018, auf dessen Grundlage die Beschwerdeführer nach [X.]- und nicht nach [X.]- abgeschoben werden sollen, nicht gerecht. Das Verwaltungsgericht hat die Entscheidung des Bundesamts, die Asylanträge der Beschwerdeführer als Erstanträge zu behandeln und eine materielle Asylentscheidung im Hinblick auf das Heimatland der Beschwerdeführer [X.]zu treffen, als rechtmäßig bestätigt, ohne den entscheidungserheblichen Sachverhalt − die (Vor-) Frage, ob den Beschwerdeführern zu 1. bis 3. in [X.]bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) − hinreichend aufzuklären.

aa) Die [X.]Liaisonbeamtin hat sich auf die Anfrage des Bundesamts, ob der Beschwerdeführerin zu 1. in [X.]bereits der subsidiäre Schutz gewährt worden sei, lediglich "aufgrund der hohen Anzahl von Anfragen" für unzuständig erklärt. Weitere Erkenntnisquellen lagen dem [X.]nicht vor. Demgegenüber hat die Beschwerdeführerin zu 1. sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen Verfahren durchgehend angegeben, in [X.]bereits subsidiären Schutz erhalten zu haben; dies hat sie getan, obwohl sie nach eigenen Angaben gar nicht nach [X.]zurückkehren wollte und sich mit dieser Angabe folglich sogar schaden konnte. Die Beschwerdeführerin zu 1. hat im gerichtlichen Verfahren auch konkrete Anhaltspunkte dafür geliefert, dass ihr beziehungsweise ihren Kindern, den Beschwerdeführern zu 2. und 3., in [X.]bereits der subsidiäre Schutz zuerkannt worden ist. Sie hat dem Verwaltungsgericht - neben weiteren Dokumenten - mit den "[X.]per Stranieri", das heißt mit den Reiseausweisen für die Beschwerdeführer zu 2. und 3., Dokumente vorgelegt, die eine Schutzgewährung in [X.]jedenfalls hinreichend naheliegend erscheinen lassen: Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/[X.](Qualifikationsrichtlinie) bestimmt, dass die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und die keinen nationalen Pass erhalten können, Dokumente für Reisen außerhalb ihres Hoheitsgebiets ausstellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen; [X.]hat diese Richtlinienbestimmung in Art. 24 des Gesetzesdekrets 251/2007 in nationales Recht umgesetzt. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass die [X.]den Beschwerdeführern zu 2. und 3. nicht infolge einer Gewährung subsidiären Schutzes, sondern auf anderer aufenthaltsrechtlicher Grundlage erteilt worden sind; vor dem Hintergrund, dass die Beschwerdeführerin zu 1. widerspruchsfrei vorgetragen hat, in [X.]subsidiären Schutz erhalten zu haben, spricht jedoch einiges dafür, dass sowohl die Beschwerdeführerin zu 1. als auch die Beschwerdeführer zu 2. und 3. den subsidiären Schutzstatus erhalten haben und dieser die rechtliche Grundlage für die Ausstellung der [X.]war. Die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin zu 1. nur von der Gewährung des subsidiären Schutzstatus für ein Jahr gesprochen hat, reicht demgegenüber für sich genommen nicht aus, um eine Schutzgewährung durch [X.]mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen.

Diese im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestehende Erkenntnislage zu der Frage, ob den Beschwerdeführern zu 1. bis 3. in [X.]bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, ist auf der Grundlage des Beschwerdevortrags nachvollziehbar und für die Verwirklichung des Grundrechts der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 2 GG ausschlaggebend. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bestimmt, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der [X.]dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. § 35 AsylG regelt, dass das [X.]dem Ausländer in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 [X.]die Abschiebung in den Staat androht, in dem er vor Verfolgung sicher war (hier: Italien). § 29 und § 35 AsylG gewähren dem [X.]kein Wahlrecht in Bezug auf die Unzulässigkeitsentscheidung: Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, hat das [X.]den Asylantrag des Ausländers als unzulässig abzulehnen und diesem die Abschiebung in den Staat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, anzudrohen (so auch BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 [X.]7.13 -, juris, Rn. 30). Eine Abschiebung in den Herkunftsstaat ist im Falle einer bereits erfolgten Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat untersagt (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 29 Rn. 102; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 29 Rn. 6, April 2017).

Sollte sich herausstellen, dass der in [X.]gestellte Asylantrag der Beschwerdeführer zu 1. bis 3. wegen einer bereits in [X.]erfolgten Schutzgewährung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist, kann dies weiter zur Folge haben, dass auch der Asylantrag des Beschwerdeführers zu 4. als unzulässig abgelehnt wird (so z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. März 2018 - A 4 S 544/18 -, juris; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 22. November 2019 - 2 A 322/19 -, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Februar 2019 - 10 LA 218/18 -, juris); dementsprechend verletzt das angegriffene Urteil auch den Beschwerdeführer zu 4. in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

bb) Bei dieser Ausgangssituation hat das Verwaltungsgericht die aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) erwachsenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung verfehlt und seine richterliche Überzeugung auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage gebildet. Es hätte weitere Nachforschungen zur Frage der Schutzgewährung durch [X.]anstellen müssen, sei es durch eine eigene Anfrage bei den [X.]Behörden - gegebenenfalls unter Einbindung des [X.]-, sei es durch die Verpflichtung des [X.]zur Durchführung weiterer Ermittlungen. Dass ein solches Vorgehen zu keinem weiteren Erkenntnisgewinn geführt hätte, ist weder vom Verwaltungsgericht dargelegt noch sonst ersichtlich.

Das angegriffene Urteil beruht auch auf der Grundrechtsverletzung. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu einer für die Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gekommen wäre.

2. Ob die weiteren geltend gemachten Grundrechtsverstöße vorliegen, bedarf keiner Entscheidung.

IV.

Die Kammer hebt gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG das angegriffene Urteil auf und verweist die Sache an das [X.]am Main zurück.

Das [X.]hat den Beschwerdeführern gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. [X.]79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 2082/18

13.09.2020

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend VG Frankfurt, 10. August 2018, Az: 3 K 9660/17.F.A, Urteil

Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 1 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992, § 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992, § 35 AsylVfG 1992, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 86 Abs 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13.09.2020, Az. 2 BvR 2082/18 (REWIS RS 2020, 2995)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2995

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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