Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 26.12.2022, Az. 1 BvR 2333/22

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2022, 8162

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Übertragung der Alleinsorge auf Vater bei getrenntlebenden Eltern - Verletzung des Elternrechts der Mutter weder dargelegt noch ersichtlich


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft Entscheidungen über das Sorgerecht für ein rund drei Monate altes Kind sowie über die Herausgabe des Kindes.

2

Die Beschwerdeführerin und ihr mittlerweile von ihr getrennt lebender Ehemann sind die Eltern einer im Juni 2015 geborenen Tochter sowie eines Ende September 2022 geborenen [X.]. Weite Teile des Sorgerechts für die Tochter sind beiden Eltern vorläufig entzogen worden. Das Familiengericht stützte diese Entscheidung darauf, dass beide Eltern mit der Trennungssituation massiv überfordert seien und sich nur bedingt auf die Tochter fokussieren könnten. Diese sei nicht nur in therapeutischer Behandlung, sondern habe ernstzunehmende suizidale Neigungen. Die Tochter lebt seit Ende April 2022 in einer Bereitschaftspflegefamilie. Beide Eltern haben getrennt voneinander Umgangskontakte mit ihr.

3

Im hier zugrunde liegenden Ausgangsverfahren hat das Familiengericht das Sorgerecht, mit Ausnahme des Umgangsbestimmungsrechts, für den [X.] vorläufig auf den Vater übertragen, der mit dem Kind in einer [X.] lebt. Die Beschwerdeführerin hatte dort zeitweilig täglich Kontakt mit dem [X.]; aktuell besteht wohl an mehreren Tagen der Woche Kontakt. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, wendet sich die Beschwerdeführerin vor allem gegen die vorläufige Übertragung des Sorgerechts für ihren [X.] auf dessen Vater. Sie macht unter anderem die Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG geltend. Von den Fachgerichten sei vor allem die besondere Bedeutung einer noch stillenden Mutter für einen Säugling nicht hinreichend berücksichtigt worden.

4

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die dafür nach § 93a Abs. 2 [X.]G erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Auf Grundlage der Verfassungsbeschwerde und der mit ihr vorgelegten Unterlagen ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Entscheidungen in Grundrechten, insbesondere in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, verletzt sein könnte.

5

1. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die familiengerichtlichen Entscheidungen richtet, ist sie bereits deshalb unzulässig, weil es insoweit am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Die erstinstanzlichen Beschlüsse sind durch die nachfolgenden vollumfänglichen Sachentscheidungen des [X.] prozessual überholt. Ein dennoch fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis ist weder dargelegt noch ersichtlich (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 15. November 2022 - 1 BvR 1667/22 -, Rn. 12 m.w.N.).

6

2. Die Beschwerdeführerin bleibt auch insoweit erfolgslos, als sie sich gegen die Beschlüsse des [X.] wendet. Eine durch diese bewirkte Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist bei Anwendung des hier geltenden zurückgenommenen verfassungsgerichtlichen [X.] weder in substantiierter Weise dargelegt noch sonst ersichtlich. Die Beschwerdeführerin hat bereits versäumt, ein in dem ihre Tochter betreffenden Sorgerechtsverfahren eingeholtes Sachverständigengutachten vorzulegen. Auf dieses Gutachten hat sich das [X.] in seinem im Verfahren 4 UF 1160/22 ergangenen Beschluss im Zusammenhang mit der Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin bezogen. Darauf kommt es hier jedoch nicht an, weil die Beschwerdeführerin unabhängig davon nicht hinreichend begründet hat (vgl. § 23 Abs. 1, § 92 [X.]G), dass sie in ihrem Elternrecht verletzt sein könnte.

7

a) Sind - wie vorliegend - fachgerichtliche Entscheidungen über den Ausschluss eines Elternteils von der gemeinsamen Sorge auf ihre Vereinbarkeit mit dem Elternrecht zu überprüfen, sind Prüfungsmaßstab und Prüfungsintensität des [X.] im Verhältnis zur Konstellation des Art. 6 Abs. 3 GG zurückgenommen. Die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen dazu, ob die Voraussetzungen des § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB erfüllt sind, sowie die von ihnen im Einzelnen vorgenommene Abwägung werden vom [X.] nicht kontrolliert. Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. [X.]E 18, 85 <92 f.>; 72, 122 <138>; [X.]K 16, 355 <359>; stRspr).

8

Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Elternrechts wie auch aus der Verpflichtung des Staates, über dessen Ausübung im Interesse des Kindeswohls zu wachen, ergeben sich allerdings Folgerungen für das Prozessrecht und seine Handhabung in Sorgerechtsverfahren (vgl. [X.]E 55, 171 <182>; [X.]K 15, 509 <514>). Das Verfahren muss grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung dem Gebot effektiven Grundrechtsschutzes entsprechen. Die Gerichte müssen daher ihr Verfahren so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können (vgl. [X.]E 55, 171 <182>; [X.]K 17, 407 <412>). Eine dem Elternrecht genügende Entscheidung kann nur aufgrund der Abwägung aller Umstände des Einzelfalls getroffen werden (vgl. [X.]K 15, 509 <514> m.w.N.), bei der allerdings auch zu berücksichtigen ist, dass die Abwägung nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (vgl. [X.]K 15, 509 <514> m.w.N.).

9

Hinsichtlich der Ermittlung der Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung in Eilverfahren bleiben die praktisch verfügbaren [X.] angesichts der spezifischen Eilbedürftigkeit dieser Verfahren allerdings regelmäßig hinter den im Hauptsacheverfahren bestehenden Möglichkeiten zurück. Den Gerichten ist es in kindesschutzrechtlichen Eilverfahren insbesondere regelmäßig nicht möglich, noch vor der Eilentscheidung ein Sachverständigengutachten einzuholen. Dies steht einer Entscheidung über das Sorgerecht jedoch nicht entgegen (so selbst für einen Entzug des Sorgerechts: [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18 -, Rn. 18 m.w.N.).

Nichts anderes gilt für fachgerichtliche Entscheidungen über Herausgabeverlangen (vgl. § 1632 BGB), wenn es um eine Herausgabe im Zusammenhang mit Sorgerechtsentscheidungen geht, durch die die bisherige gemeinsame elterliche Sorge auf einen Elternteil übertragen wurde.

b) Daran gemessen verletzen die angegriffenen Entscheidungen die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Das [X.] hat auf einer hinreichend zuverlässigen Grundlage die Voraussetzungen für eine vorläufige Übertragung des Sorgerechts auf den Vater festgestellt.

aa) Mit den Berichten des [X.] und der [X.] sowie den Erkenntnissen aus der persönlichen Anhörung der genannten fachlich Beteiligten und der Eltern stand dem [X.] eine ausreichend tragfähige tatsächliche Grundlage für die zu treffenden Sorge- und Herausgabeentscheidungen zur Verfügung. Es dürfte bereits fachrechtlich nicht gehalten gewesen sein, sich einen persönlichen Eindruck von dem [X.] zu verschaffen, weil die Voraussetzungen von § 159 Abs. 2 FamFG nicht vorlagen. Denn es handelte sich nicht um ein Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB. Verfassungsrechtlich gebot Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG jedenfalls nicht, sich einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen.

bb) Es ist nicht ersichtlich, dass das [X.] § 1671 BGB in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzender Weise ausgelegt und angewendet hätte. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich davon ausgegangen, dass den hochgradig zerstrittenen Eltern, die sich nur noch mit massiven gegenseitigen Vorwürfen begegnen und denen jegliches gegenseitige Vertrauen verloren gegangen ist, eine gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge nicht möglich ist. Die Beschwerdeführerin war vor der Geburt des [X.]es bis Ende Oktober 2022 verschwunden und hat die Geburt des [X.]es verheimlicht. Die Eltern können sich nicht einmal auf einen Vornamen für den [X.] einigen und nutzen unterschiedliche Vornamen.

Das Jugendamt hatte aufgrund der Erfahrungen mit der Schwester des Säuglings Anhaltspunkte für eine eingeschränkte psychische Stabilität der Beschwerdeführerin und hielt jedenfalls ambulante Hilfen für zwingend geboten. Die Beschwerdeführerin hat im August und September 2022 über ihre Bevollmächtigte deutlich gemacht, bezüglich des Ungeborenen in keiner Weise mit dem Jugendamt kooperieren zu wollen. Der Vater akzeptierte hingegen alle Hilfsmaßnahmen und war kooperativ. Vor diesem Hintergrund bestehen gegen eine Übertragung des Sorgerechts auf den Vater keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies gilt auch für die Folgenabwägung des [X.]; insoweit ist nachvollziehbar, jedenfalls dann einen erneuten [X.] des Kindes zu vermeiden, wenn es - soweit im einstweiligen [X.] bereits erkennbar - im laufenden Hauptsacheverfahren keine deutlichen Anhaltspunkte dafür gibt, dass dort nahezu sicher der Beschwerdeführerin das Sorgerecht zu übertragen wäre. Die Gerichte sind insoweit auch den klaren fachlichen Empfehlungen von [X.] und Jugendamt gefolgt.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]G abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2333/22

26.12.2022

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG München, 8. Dezember 2022, Az: 4 UF 1160/22, Beschluss

Art 6 Abs 2 S 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 1671 Abs 1 S 2 Nr 2 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 26.12.2022, Az. 1 BvR 2333/22 (REWIS RS 2022, 8162)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8162


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 1 BvR 2333/22

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 2333/22, 26.12.2022.


Az. 4 UF 1160/22

OLG München, 4 UF 1160/22, 08.12.2022.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvR 1076/23 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Elternrechts (Art 6 Abs 2 S 1 GG) durch fachgerichtliche Übertragung …


1 BvR 836/20 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Zu den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an fachgerichtliche Entscheidungen über die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts als …


1 BvR 2318/19 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Zur Begründungsobliegenheit kindschaftsrechtlicher letztinstanzlicher Entscheidungen - hier: Verletzung des Elternrechts des Vaters …


1 BvR 1525/20 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Teilweise Entziehung der elterlichen Sorge, um dem betroffenen Kind den Besuch einer Förderschule zu …


1 BvR 1037/23 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Elternrechts durch Entzug des Sorgerechts für mehrere Kinder des Beschwerdeführers - …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

4 UF 1160/22

1 BvR 1667/22

1 BvR 383/18

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.