Bundessozialgericht, Urteil vom 24.06.2021, Az. B 7 AY 1/20 R

7. Senat | REWIS RS 2021, 4660

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Gegenstand

Asylbewerberleistungen - Analogleistungen - Blindenhilfe


Leitsatz

Zu den Leistungen, die Analogleistungsberechtigten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls gewährt werden können, gehört die Blindenhilfe.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] (Oder) vom 20. Dezember 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

[X.] ist ein Anspruch auf Blindenhilfe für den Kläger, der laufende Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz ([X.]) bezieht.

2

Der 1973 geborene Kläger ist [X.] Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Er, seine Ehefrau und ihre drei minderjährigen Kinder reisten im Januar 2011 ins [X.] ein und leben nach einer entsprechenden Zuweisung seit Mai 2012 ununterbrochen im Zuständigkeitsbereich des beklagten [X.]. Der Kläger verfügte zunächst über eine Duldung und erhielt später eine Aufenthaltsgestattung. Die Familienmitglieder bezogen zumindest seit Juni 2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 2 [X.] (sog Analogleistungen). Der Kläger ist ua wegen Blindheit schwerbehindert. Einen Grad der Behinderung von 100 sowie die [X.], [X.], [X.] und RF hat das [X.] [X.] anerkannt (Bescheid vom 23.12.2012). Den Antrag des [X.] auf Blindenhilfe entsprechend § 72 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]) lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 22.7.2016; Widerspruchsbescheid vom 29.9.2016).

3

Das Sozialgericht (SG) [X.] (Oder) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, über den Antrag vom [X.] unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden ([X.]). Zur Begründung hat es ausgeführt, zu Unrecht habe der Beklagte ohne jede Ausübung von Ermessen einen Anspruch des [X.] auf Grundlage von § 72 [X.] abgelehnt. Auch die Vorschriften der §§ 70 bis 74 [X.] fänden über § 23 Abs 1 Satz 3 [X.] im Anwendungsbereich des § 2 [X.] entsprechend Anwendung. Aus § 9 Abs 1 [X.] und § 23 Abs 2 [X.] folge nichts Abweichendes.

4

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 9 Abs 1 [X.] und § 23 Abs 2 [X.]. Leistungsberechtigte nach dem [X.] seien nach diesen Normen von Sozialhilfe ausgeschlossen. § 2 Abs 1 [X.] sehe zwar Abweichungen vor, enthalte jedoch keinen umfassenden Verweis in das [X.], verweise insbesondere nicht auf § 72 [X.].

5

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts [X.] (Oder) vom 20. Dezember 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Sprungrevision (§ 161 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <[X.]G>) des [X.]n ist im Sinne der Aufhebung des angegriffenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das [X.] begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 [X.]G). Der [X.] kann auf Grundlage der bisherigen Feststellungen des [X.] nicht abschließend entscheiden, ob der Kläger die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf [X.]hilfe erfüllt. Liegen diese Voraussetzungen jedoch vor, kommt für den Kläger als [X.] ein Anspruch auf [X.]hilfe in Betracht, über den der [X.] in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden hat.

9

Gegenstand des vom Kläger von Beginn an zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, § 56 [X.]G) geführten Verfahrens ist der Bescheid vom 22.7.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.9.2016. Die vom Kläger vorgenommene Beschränkung des Streitgegenstands auf Leistungen der [X.]hilfe als neben der Hilfe zum Lebensunterhalt zu erbringende Leistung ist - wie im unmittelbaren Anwendungsbereich des [X.]B XII - zulässig.

Der [X.] ist für den geltend gemachten Anspruch sachlich zuständig (§ 10 Satz 1 [X.] iVm § 1 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes über die Aufnahme von Spätaussiedlern und ausländischen Flüchtlingen im [X.] in der zuletzt geltenden Fassung vom 13.3.2012, [X.]; ab 1.4.2016 § 10 Satz 1 [X.] iVm § 3 Abs 1 des Gesetzes über die Aufnahme von Flüchtlingen, spätausgesiedelten und weiteren aus dem Ausland zugewanderten Personen im [X.] sowie zur Durchführung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 15.3.2016, [X.]); denn der Kläger lebt im [X.] außerhalb einer Aufnahmeeinrichtung. Die örtliche Zuständigkeit folgt aus der Zuweisung in das Kreisgebiet des [X.]n (§ 10a Abs 1 Satz 1 [X.]).

Als Grundlage für einen Anspruch des [X.] auf [X.]hilfe kommt nur § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] iVm § 19 Abs 3, § 23 Abs 1 Satz 3, § 72 Abs 1 Satz 1 [X.]B XII in Betracht. Dieser Anspruch ist - anders als es der [X.] wohl meint - nicht von der Stellung eines gesonderten Antrags abhängig. Es genügt vielmehr die Kenntnis des [X.]n von den Voraussetzungen für die Leistung im Sinne des § 18 Abs 1 [X.]B XII, der für [X.] unabhängig von der Einführung des § 6b [X.] (mit dem Gesetz zur Änderung des [X.] und des [X.]G vom 10.12.2014, [X.]) erst mit Wirkung vom [X.] zur Vermeidung einer Besserstellung gegenüber Leistungsberechtigten nach dem [X.]B XII entsprechend gilt. Ob der [X.] die Kenntnis von der Bedarfslage, die Ansprüche auf [X.]geld auslösen kann, erst mit Antragstellung im September 2015 oder bereits zuvor (zugleich mit Kenntnis von der [X.] nach § 2 [X.]) erlangt hat, kann im derzeitigen Stand des Verfahrens offenbleiben. Der [X.] kann schon nicht abschließend beurteilen, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs überhaupt bestehen.

Der Kläger hat jedenfalls seit Antragstellung im September 2015 dem Grunde nach Anspruch auf [X.]. Nach § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] (in der Fassung des [X.]) ist abweichend von §§ 3 bis 7 [X.] das [X.]B XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im [X.] aufhalten und ihre Aufenthaltsdauer nicht selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben. Diese Voraussetzungen liegen auf Grundlage der bindenden Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.]G) zumindest seit Antragstellung vor. Da die (begünstigende) Änderung des § 2 Abs 1 [X.] zum [X.] ohne Übergangsregelung in [X.] getreten ist, sind auch Zeiten des Aufenthalts vor dem [X.] mit in die neu geschaffene Wartefrist einzubeziehen (vgl auch § 9 Abs 4 [X.] iVm § 48 Abs 1 Satz 2 [X.] Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - <[X.]B X>). Ob die nach der Rechtslage bis zum [X.] erforderlichen Vorbezugszeiten (vgl § 2 Abs 1 [X.] in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] vom 19.8.2007 <[X.] 1970>) erfüllt waren, kann damit (im jetzigen Stand des Verfahrens) offenbleiben. Schließlich sind durch die Änderungen des § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] mit dem [X.] vom [X.] ([X.] 1939) mit Wirkung vom 6.8.2016 (Anwendbarkeit der §§ 5, 5a, 5b [X.] auf [X.]) und mit dem [X.] zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom [X.] ([X.] 1294) mit Wirkung vom [X.] (Verlängerung der Wartefrist auf 18 Monate; dazu auch die Übergangsregelung in § 15 [X.]) keine für die Anspruchsberechtigung des [X.] wesentlichen Änderungen erfolgt.

[X.] umfassen auch Leistungen der [X.]hilfe. § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] erklärt das [X.]B XII grundsätzlich für entsprechend anwendbar. Eine Einschränkung, dass die Gewährung von [X.]hilfe (als "Hilfe in anderen Lebenslagen" im Sinne des [X.] des [X.]B XII) von vornherein ausscheidet, ergibt sich nicht (ebenso Cantzler, [X.], 2019, § 2 RdNr 48, 54; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]B XII, 12. Aufl 2020, § 2 RdNr 6; [X.] in [X.], [X.], 2. Aufl 2020, § 2 RdNr 68; [X.] in [X.], GK-[X.], § 2 Rd[X.]10, Stand August 2020; [X.]/[X.] in jurisPK-[X.]B XII, § 2 [X.] Rd[X.]07, Stand Juli 2021; einschränkend für Leistungen nach dem [X.] Kapitel nur [X.] in [X.]/[X.]/ [X.], [X.]B XII, 19. Aufl 2015, § 2 [X.] Rd[X.]9).

Entgegen der Auffassung des [X.]n lässt sich schon dem Wortlaut keine Einschränkung dahin entnehmen, dass nur solche im [X.]B XII vorgesehenen Leistungen erbracht werden dürfen, die mit denjenigen der §§ 3, 4, 6 und 7 [X.] vergleichbar sind. Bei der Formulierung, wonach die Leistungserbringung abweichend von §§ 3 bis 7 [X.] bzw §§ 3, 4, 6 und 7 [X.] erfolgt, handelt es sich lediglich um eine Aufzählung, welche Normen des [X.] bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von [X.] nicht anzuwenden sind. Dass § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] - wie der [X.] meint - ausschließlich zu einer abweichenden Leistungshöhe führt, lässt sich dem Wortlaut der Norm gerade nicht entnehmen. Geregelt wird dem Wortlaut nach nur das Verhältnis von § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] zu den übrigen leistungsrechtlichen Vorschriften des [X.].

Dem Sinn und Zweck von § 2 [X.] entspricht das Verständnis, wonach die entsprechende Anwendung im Grundsatz alle Vorschriften des [X.]B XII erfasst, die Leistungsansprüche von Leistungsberechtigten regeln sowie die damit korrespondierenden Leistungsausschlüsse und Leistungseinschränkungen. [X.] werden gewährt, weil aus Sicht des Gesetzgebers bei zunehmender Aufenthaltsdauer nicht mehr auf einen mit einem kürzeren Aufenthalt regelmäßig verbundenen geringeren Bedarf abgestellt werden kann. Nach einem bestimmten Zeitablauf (in der zum 1.11.1993 in [X.] getretenen Fassung des [X.] war eine Wartefrist von lediglich zwölf Monaten vorgesehen) sollen insbesondere auch Bedürfnisse anerkannt werden, die auf eine stärkere Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse im Inland und bessere [X.] Integration gerichtet sind (vgl zur Begründung der ursprünglichen Gesetzesfassung BT-Drucks 12/5008 [X.] zu § 1a). § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] (in den seit dem [X.] geltenden Fassungen) legt den Zeitpunkt fest, ab dem aus Sicht des Gesetzgebers eine Bedarfssituation vorliegt, die mit der anderer Leistungsberechtigter vergleichbar ist, weshalb Leistungen entsprechend dem [X.]B XII zu gewähren sind (vgl BT-Drucks 18/2592 S 19). Eine wesentliche Einschränkung erfährt die [X.] nach § 2 Abs 1 [X.] dabei durch die entsprechende Anwendbarkeit von § 23 Abs 1 [X.]B XII (ebenso [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]B XII, 7. Aufl 2020, § 2 [X.] RdNr 49; [X.] in [X.], GK-[X.], § 2 Rd[X.]45, Stand August 2020; [X.] in Oestreicher/[X.], [X.]B II/[X.]B XII, § 2 [X.] RdNr 48b, Stand September 2020; [X.]/[X.] in jurisPK-[X.]B XII, 3. Aufl 2020, § 2 [X.] Rd[X.]84, Stand Juli 2021; vgl zum Verhältnis von § 2 [X.] zu § 120 Bundessozialhilfegesetz <[X.]> bereits BT-Drucks 12/5008 [X.]; zur Bedeutung von § 23 Abs 2 [X.]B XII später). Eine vollständige Gleichstellung mit Inländern erfolgt nur für Ausländer mit verfestigtem Aufenthaltsstatus unter den Voraussetzungen des § 23 Abs 1 Satz 4 [X.]B XII, die Leistungsberechtigte nach dem [X.] nicht erfüllen. In den übrigen Fällen erhalten Leistungsberechtigte nach § 2 [X.] wie sonstige Ausländer - von Leistungen nach dem Vierten Kapitel des [X.]B XII abgesehen - Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege als gebundene Leistung (§ 23 Abs 1 Satz 1 [X.]B XII). Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist (§ 23 Abs 1 Satz 3 [X.]B XII). Hierzu gehören auch Ansprüche nach dem [X.] Kapitel, die der Kläger vorliegend geltend macht.

Gesichtspunkte, die dafür sprechen, das Leistungsniveau nach § 2 Abs 1 [X.] gegenüber den sonstigen Ausländern ohne verfestigten Aufenthaltsstatus von vornherein noch weiter einzuschränken, sind nicht erkennbar, auch wenn es sich bei § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] nur um eine sogenannte Analogieverweisung (vgl [X.], Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 3. Aufl 2008, Rd[X.]32) handelt und so zum Ausdruck gebracht wird, dass der [X.], auf den verwiesen wird, nicht in jeder Hinsicht "passt" (vgl B[X.] vom [X.] - [X.] 4-2700 § 2 [X.] Rd[X.]5). Die Gesetzesentwicklung zeigt, dass der Gesetzgeber bei den existenzsichernden Leistungen der Sozialhilfe einerseits und dem [X.] andererseits Abweichungen im Leistungsrecht gleichwohl ausdrücklich regelt. Insbesondere die mit dem [X.] vom [X.] ([X.] 1290) mit Wirkung vom [X.] eingefügte Regelung des § 2 Abs 2 Satz 2 [X.], mit der Rückausnahmen zu den Regelungen in § 22 [X.]B XII (Leistungsausschluss bei Ausbildung) normiert worden sind, macht das deutlich. Für § 72 [X.]B XII (oder die Leistungen nach dem [X.] Kapitel insgesamt) ist eine Regelung, die dessen entsprechende Anwendbarkeit einschränkt, gerade nicht getroffen worden.

Auch dem Sinn und Zweck des § 72 [X.]B XII entspricht es, Leistungsberechtigten nach § 2 Abs 1 [X.] im Einzelfall unter Ausübung von Ermessen [X.]hilfe zu gewähren. Die [X.]hilfe - wie auch das [X.]geld nach den [X.] - verfolgt das Ziel, laufende blindheitsspezifische, auch immaterielle Bedürfnisse des [X.] zu erfüllen. Dies soll ihm ermöglichen, sich trotz Blindheit mit seiner zunehmend visualisierten Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen (vgl zum Landesblindengeld B[X.] vom 11.12.2007 - [X.]/9b [X.] - [X.] 4-3500 § 90 [X.] Rd[X.]8 und zuletzt B[X.] vom [X.] - [X.] SB 1/18 R - B[X.]E 129, 211 = [X.] 4-3250 § 152 [X.], Rd[X.]3 mwN; zu § 67 Abs 1 [X.] bereits [X.] <[X.]> vom 4.11.1976 - [X.] 7.76 - [X.]E 51, 281, 283 f). Zwar wird [X.]hilfe nach § 72 Abs 1 [X.]B XII pauschal und unabhängig vom konkreten Bedarf im Einzelfall gewährt. Das allein führt aber nicht dazu, dass ihm (ausschließlich) ein immaterieller Versorgungscharakter zukommt, wie der [X.] meint. Worin die Mehraufwendungen wegen Blindheit im Einzelnen bestehen können, lässt sich weder typisierend noch für den Einzelfall festlegen. "Blindheitsbedingte Mehraufwendungen" sind insoweit keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung; es kommt für die Gewährung von [X.]hilfe nicht einmal darauf an, ob wegen der äußeren Lebensumstände die bestimmungsgemäße Verwendung im Einzelfall möglich ist (so bereits [X.] vom 4.11.1976 - [X.] 7.76 - [X.]E 51, 281, 284 am Beispiel des Strafgefangenen). Es ist aber nichts ersichtlich dafür, dass [X.] blindheitsbedingte Mehraufwendungen regelmäßig nicht haben. Im Übrigen ist die Gewährung von Leistungen für behinderungsbedingte Mehraufwendungen bei Blindheit auch für Grundleistungsberechtigte nach § 3 [X.] auf Grundlage von § 6 Abs 1 Satz 1 [X.] vorgesehen ([X.] in [X.], [X.], 2. Aufl 2020, § 6 Rd[X.]8), wenn auch nicht pauschaliert (vgl zuletzt B[X.] vom 25.10.2018 - [X.] [X.] - [X.] 4-3520 § 6 [X.] zum Mehrbedarf wegen Alleinerziehung im Anwendungsbereich des § 6 [X.]).

Dass § 72 [X.]B XII im Anwendungsbereich des § 2 [X.] unanwendbar ist, folgt auch nicht aus § 9 Abs 1 [X.] und § 23 Abs 2 [X.]B XII. Nach diesen Normen erhalten Leistungsberechtigte nach dem [X.] zwar keine Leistungen der Sozialhilfe, nach § 9 Abs 1 [X.] auch keine Leistungen nach vergleichbaren Landesgesetzen. Hieraus ergibt sich im Hinblick auf [X.] aber nur, dass diese nicht als Sozialhilfe vom Sozialhilfeträger zu gewähren sind, sondern als Asylbewerberleistungen von dem hierfür zuständigen Leistungsträger (B[X.] vom 13.11.2008 - [X.] AS 24/07 R - B[X.]E 102, 60 = [X.] 4-4200 § 7 [X.]0, Rd[X.]8; BT-Drucks 12/5008 [X.] zu § 1a). Eine Aussage über Art und Umfang der [X.] ist § 9 Abs 1 [X.] und § 23 Abs 2 [X.]B XII nicht zu entnehmen. Es trifft zu, dass wegen § 9 Abs 1 [X.] Leistungsberechtigte nach dem [X.] wegen der Vergleichbarkeit mit Sozialhilfe kein [X.]geld nach Landesrecht erhalten können (B[X.] vom 6.10.2011 - [X.] S[X.]/10 R - B[X.]E 109, 154 = [X.] 4-3250 § 145 [X.], RdNr 69; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt vom 18.9.2013 - L 7 [X.] 1/10 - [X.] 2014, 484, 486 f; Oberverwaltungsgericht [X.] vom 17.6.2011 - 12 A 1011/10 - juris Rd[X.]7, 32 ff). Hieraus folgt allerdings nicht, dass Gleiches für die Gewährung von [X.]hilfe auf bundesgesetzlicher Grundlage für [X.] zu gelten habe. Eine Vorschrift über die Gewährung von [X.], die ins Landesrecht verweist, existiert gerade nicht.

Soweit der [X.] meint, die fehlende Anwendbarkeit des § 72 [X.]B XII ergebe sich daraus, dass dieser - im Gegensatz zu anderen Normen des [X.]B XII - nicht in der Aufzählung des § 9 Abs 5 [X.] enthalten ist, ist auch dem nicht zu folgen. Wollte man aus § 9 Abs 5 [X.] den Umkehrschluss ziehen, dass alle dort nicht genannten Vorschriften bei der Analogleistungsgewährung unanwendbar sind, liefen [X.] ins Leere. § 9 Abs 5 [X.] ordnet die entsprechende Geltung einzelner Verfahrensbestimmungen an, nicht jedoch irgendeiner Vorschrift, die eine Leistung vorsieht.

Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung von [X.]hilfe vorliegen, kann der [X.] nicht abschließend beurteilen. Nach § 72 Abs 1 Satz 1 [X.]B XII wird blinden Menschen [X.]hilfe gewährt, soweit sie keine gleichartigen Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten. Der Kläger ist blind. Die entsprechende Statusentscheidung des Versorgungsamts auf Grundlage von § 3 Abs 1 [X.] (SchwbAwV), der mit dem Verweis auf § 72 Abs 5 [X.]B XII ein inhaltsgleicher Blindheitsbegriff zugrunde liegt, ist für den Anspruch auf [X.]hilfe bindend ([X.] in jurisPK-[X.]B XII, 3. Aufl 2020, § 72 Rd[X.]8, Stand Januar 2021; zum landesrechtlichen Pflegegeldverfahren bereits [X.] vom 27.2.1992 - 5 C 48.88 - [X.]E 90, 65). Ein Bezug anderweitiger Leistungen ist nicht festgestellt. Nach § 19 Abs 3 [X.]B XII ist aber zusätzlich erforderlich, dass den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen (§ 82 Abs 1 Satz 1 [X.]B XII) und Vermögen (§ 90 Abs 1 [X.]B XII) nicht zuzumuten (§ 87 Abs 1, § 90 Abs 2 und 3 [X.]B XII) ist. Das [X.] hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob beim Kläger oder seiner Ehefrau Einkommen oder Vermögen in ggf bedarfsdeckender Höhe vorhanden ist und wird dies noch nachzuholen haben.

Sollten die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, steht die Gewährung von [X.]hilfe in entsprechender Anwendung des § 23 Abs 1 Satz 3 [X.]B XII im Ermessen des [X.]n. Maßgeblich sind alle Umstände des Einzelfalls, die sich ggf auch aus den Besonderheiten des ausländerrechtlichen Status eines Leistungsberechtigten nach § 1 Abs 1 [X.] ergeben. Ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null liegt auf Grundlage der bisherigen Feststellungen des [X.] allerdings nicht vor. Aus dem dargestellten Sinn und Zweck der Verweisung in das [X.]B XII in § 2 Abs 1 [X.] einerseits und dem Zweck der [X.]hilfe andererseits folgt, dass allein der nicht abschließend gesicherte Status des Asylbewerbers oder des nur Geduldeten nicht ausschließlich die Entscheidung rechtmäßig macht, einen Anspruch auf [X.]hilfe abzulehnen. Welche weiteren Aspekte bei der Ermessensentscheidung eine Rolle spielen können, ist vorliegend nicht zu entscheiden.

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 7 AY 1/20 R

24.06.2021

Bundessozialgericht 7. Senat

Urteil

Sachgebiet: AY

vorgehend SG Frankfurt (Oder), 20. Dezember 2019, Az: S 34 AY 15/16, Urteil

§ 2 Abs 1 S 1 AsylbLG vom 10.12.2014, § 9 Abs 1 AsylbLG, § 23 Abs 1 S 1 SGB 12, § 23 Abs 1 S 2 SGB 12, § 23 Abs 1 S 3 SGB 12, § 23 Abs 2 SGB 12, § 72 Abs 1 S 1 SGB 12

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 24.06.2021, Az. B 7 AY 1/20 R (REWIS RS 2021, 4660)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4660

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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