Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.07.2010, Az. 3 StR 76/10

3. Strafsenat | REWIS RS 2010, 4647

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Gegenstand

Strafverfahren: Umfang der Beweiskraft des Protokollvermerks zum Selbstleseverfahren


Leitsatz

Zum Umfang der Beweiskraft des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO .

Tenor

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 5. November 2009 werden verworfen.

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten [X.] wegen Betruges in drei Fällen unter Einbeziehung weiterer Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen; den Angeklagten [X.] hat es wegen Betruges in vier Fällen und wegen versuchten Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die dagegen gerichteten Revisionen der Angeklagten bleiben ohne Erfolg, da die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.

2

[X.] Erörterung bedarf nur die von beiden Angeklagten erhobene Verfahrensbeanstandung, das [X.] habe dem Urteil unter Verstoß gegen § 261 [X.] Feststellungen zugrunde gelegt, die wegen fehlerhafter Durchführung des [X.] nach § 249 Abs. 2 [X.] nicht Gegenstand der Hauptverhandlung geworden seien. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

3

Im Verlauf der Hauptverhandlung hat der Strafkammervorsitzende bezüglich mehrerer Urkunden das [X.] angeordnet. Betreffend ein Urteil des [X.]s Nürnberg-Fürth hat er am darauf folgenden Hauptverhandlungstermin zu Protokoll die Feststellung getroffen, dass das [X.] beendet ist, die Mitglieder der Kammer "von dem Urteil" Kenntnis genommen haben und die übrigen Prozessbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Betreffend eine Reihe von Urkunden zu Geldbewegungen sowie zu Haftabwesenheitszeiten des Angeklagten [X.] hat der Vorsitzende zu Protokoll festgestellt, dass die Kammer "von den Urkunden", für die in der letzten Hauptverhandlung das [X.] angeordnet worden ist, Kenntnis genommen hat und die übrigen Prozessbeteiligten Gelegenheit hierzu hatten. Hinsichtlich mehrerer amtsgerichtlicher Urteile hat er zu Protokoll festgestellt, dass das [X.] beendet ist und die Kammer "von den Urteilen" Kenntnis genommen hat und die übrigen Prozessbeteiligten Gelegenheit hatten, hiervon Kenntnis zu nehmen.

4

Die Revision beanstandet, es sei nicht festgestellt worden, dass die [X.] und [X.] "vom Wortlaut" der Urkunden Kenntnis genommen hätten. Kenntnis von einer Urkunde sei mit der Kenntnis von deren Wortlaut nicht gleichzusetzen. Das Protokoll beweise, dass der Wortlaut von den [X.]n nicht zur Kenntnis genommen worden sei.

5

Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Wortlaut des [X.] nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des [X.] ohne Belang. Im Einzelnen:

6

Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 [X.] darf von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen Schriftstücks - neben anderen Voraussetzungen - dann abgesehen werden, wenn die [X.] und [X.] vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Die "Feststellungen über die Kenntnisnahme" sind nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Durch einen entsprechenden Protokollvermerk kann indes nicht bewiesen (§ 274 Abs. 1 Satz 1 [X.]) werden, dass die [X.] und [X.] tatsächlich von Wortlaut Kenntnis genommen haben. Dies folgt schon daraus, dass in der Sitzungsniederschrift nur solche Vorgänge beweiskräftig beurkundet werden können, die sich während der laufenden Hauptverhandlung im Sitzungssaal (oder ggf. einem auswärtigen Verhandlungsort) zugetragen haben (vgl. [X.], [X.], 53. Aufl., § 273 Rn. 19), denn nur diese können der Vorsitzende und der [X.] der Geschäftsstelle durch ihre Unterschrift unter das Protokoll (§ 271 Abs. 1 Satz 1 [X.]) aus eigener Wahrnehmung bestätigen.

7

Das [X.] hat [X.] des [X.] - die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt durch die [X.] und [X.] - aber gerade aus der Hauptverhandlung [X.]. Damit ist es dem [X.]n der Geschäftsstelle von vornherein nicht möglich zu bestätigen, dass die [X.] und [X.] tatsächlich vom Wortlaut eines Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Nichts anderes gilt aber auch für den Vorsitzenden. So ist schon gesetzlich nicht bestimmt, dass er bei der Kenntnisnahme durch die beisitzenden [X.] und die [X.] präsent ist; aber selbst wenn er - ausnahmsweise - anwesend sein sollte, unterliegt es nicht seiner Wahrnehmung, ob diese den Wortlaut tatsächlich vollständig zur Kenntnis genommen und mit der Aufmerksamkeit studiert haben, die erforderlich ist, damit sie ihrer Aufgabe der Urteilsfindung verantwortungsvoll gerecht werden können. Der Vorsitzende muss sich daher letztlich auf die Zusicherung der beisitzenden [X.] und der [X.] verlassen, dass sie das Schriftstück vollständig gelesen haben, und kann Entsprechendes nur für seine eigene Person aus eigenem Wissen verbindlich bestätigen.

8

Durch die Einführung des [X.] hat der Gesetzgeber diese potentiellen Einbußen der Qualität des [X.] in Kauf genommen. Dies ist von den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zu akzeptieren. Im Übrigen besteht aber auch bei dem [X.] nach § 249 Abs. 1 [X.] keine Gewähr dafür, dass die zur Urteilsfindung berufenen [X.] der Verlesung - insbesondere bei der aufeinander folgenden Verlesung einer Vielzahl von Schriftstücken - immer mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen.

9

Hieraus ergibt sich, dass durch den Protokollvermerk nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] die tatsächliche Kenntnisnahme vom Wortlaut eines Schriftstücks durch die [X.] und [X.] im Wege des [X.] nicht nachgewiesen werden kann. Er beweist daher nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat ([X.], 6. Aufl., § 249 Rn. 39). Aus seiner Formulierung kann daher kein - im Sinne des § 274 Abs. 1 Satz 1 [X.] beweiskräftig belegter - Schluss auf die (nicht) ordnungsgemäße Durchführung des [X.] gezogen werden.

Nach Auffassung des Senats kommt der Protokollierung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] vielmehr eine andere Funktion zu. Da der [X.] beim [X.] außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 [X.] der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die [X.] nach § 261 [X.] eröffnet. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Verwertung offenkundiger, insbes. [X.], außerhalb der Hauptverhandlung gewonnener Tatsachen, die Inbegriff der Hauptverhandlung grundsätzlich nur werden, wenn sie durch entsprechenden Hinweis in diese eingeführt worden sind ([X.], aaO, § 244 Rn. 3 mwN; zur strittigen Frage der diesbezüglichen Protokollierungspflicht vgl. [X.], aaO, § 273 Rn. 7 mwN).

Durch die hier vom Vorsitzenden zu Protokoll erklärten Feststellungen, die im Übrigen ohnehin als Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Schriftstücke durch [X.] und [X.] auszulegen sein dürften (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, bei [X.], [X.], 225, 227 Nr. 9; [X.], Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 [X.], [X.], 226), sind die Schriftstücke in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden und damit verwertbar.

Keiner Entscheidung bedarf, wie wegen der fehlenden Beweiskraft des [X.] nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] für seine inhaltliche Richtigkeit eine Rüge zu behandeln wäre, entgegen der protokollierten Feststellung hätten die [X.] oder [X.] tatsächlich gar nicht vom Wortlaut der fraglichen Schriftstücke Kenntnis genommen; denn eine solche Rüge ist hier nicht erhoben.

VRi[X.] [X.] ist wegen Urlaubs
an der Unterschriftsleistung gehindert.

        

Pfister     

        

Ri[X.] von [X.] ist wegen Urlaubs
an der Unterschriftsleistung gehindert.

Pfister

                          

Pfister

        

     Hubert     

        

Schäfer     

        

Meta

3 StR 76/10

20.07.2010

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Wuppertal, 5. November 2009, Az: 26 KLs 721 Js 168/09 - 30/09, Urteil

§ 249 Abs 2 S 3 StPO, § 274 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.07.2010, Az. 3 StR 76/10 (REWIS RS 2010, 4647)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 4647

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