Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.05.2011, Az. 4 StR 164/11

4. Strafsenat | REWIS RS 2011, 6311

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 164/11

vom
25. Mai
2011
in der Strafsache
gegen

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.

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Der 4. Strafsenat
des [X.] hat nach Anhörung des Generalbundes-anwalts und des Beschwerdeführers am 25. Mai 2011 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 30. September 2010 im Ausspruch über die Anordnung der Sicherungsverwahrung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer [X.] und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Land-gerichts zurückverwiesen.
2.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 46 Fällen und wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen, davon in vier Fällen jeweils in Tateinheit mit sexuel-lem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsfor-mel ersichtlichen Teilerfolg hinsichtlich des [X.]; im Übrigen 1
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ist sie, wie der [X.] in seiner Antragsschrift vom 5. April 2011 zutreffend dargelegt hat, unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2
StPO.
I.
1. Nach den Feststellungen der [X.] kam es im Zeitraum zwi-schen Januar 2002 und September 2009 in insgesamt 52 Fällen in der Woh-nung des Angeklagten, in der seiner Schwester und im Führerhaus des vom Angeklagten gefahrenen Lastkraftwagens zu sexuellen Handlungen unter-schiedlicher Intensität zum Nachteil seiner beiden Nichten sowie zum Nachteil von zwei weiteren Mädchen und zwei Jungen aus seinem Bekannten-
und Freundeskreis, die im Tatzeitraum zwischen vier und elf Jahre alt waren. Der im
Jahr 2002 wegen vergleichbarer Taten zu einer Bewährungsstrafe verurteil-te, im damaligen wie im vorliegenden Fall umfassend geständige Angeklagte berührte die Mädchen jeweils oberhalb und unterhalb der Kleidung im Schei-denbereich mit der Hand und dem Mund, wobei eines der Mädchen zusätzlich seinen erigierten Penis anfassen musste. Gegenüber den Jungen kam es zu Manipulationen an deren entblößten [X.], die er in einigen Fällen auch in seinen Mund nahm.
2. Gegen den Angeklagten sei, so das [X.], Sicherungsverwah-rung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 StGB a.F.
an-zuordnen. Er habe über einen Zeitraum von über zehn Jahren hinweg ein-schlägige Taten nach einem im [X.] immer gleichen Muster begangen und dabei das bei den Geschädigten und deren Eltern gewonnene Vertrauen zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse ausgenutzt. Bei der Beurteilung des konkreten [X.]

das vom Sachverständigen für vergleichbare Fälle mit 50 % angegebene statistische Rückfallrisiko habe keine ausschlaggeben-de Bedeutung gehabt

seien die Zugehörigkeit der Tatopfer zum Familien-
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und Freundeskreis des Angeklagten und die Tatsache zu berücksichtigen, dass sich der Angeklagte auch durch eine einschlägige Bewährungsstrafe von der Begehung neuer
Taten nicht habe abhalten lassen. Therapiemöglichkeiten mit dem Ziel der Verhaltensänderung habe er nicht wahrgenommen, so dass ein Rückfall in das vorhandene eingeschliffene Verhaltensmuster zu erwarten sei. Im Rahmen des nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F.
eingeräumten Ermes-sens sei der Wille des Gesetzgebers zu berücksichtigen, unter Beachtung des [X.] der Maßregel einen angemessenen Schutz der Allge-meinheit vor gefährlichen Intensivtätern zu gewährleisten. Dass dem Ange-klagten für den Fall einer Therapie nach Einschätzung des Sachverständigen eine günstige Prognose gestellt werden könne, sei unbeachtlich, da für die Gefährlichkeitsprognose der Zeitpunkt der Aburteilung maßgebend sei.
II.
Diese Ausführungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
1. Die auf § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB a.F.
gestützte Anordnung der Un-terbringung in der Sicherungsverwahrung, deren formelle Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des [X.]. Die Urteilsgründe müssen nachvollziehbar erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen von der Ermessensbefugnis Gebrauch gemacht wurde (Senatsbeschluss vom 4. Januar 1994

4 StR 718/93, [X.]R StGB §
66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 5 m.w.N.). Dabei müssen erkennbar auch diejeni-gen Umstände erwogen werden, die gegen die Anordnung der Maßregel sprechen können. Das gilt vor allem für den gesetzgeberischen Zweck der Vorschrift, wonach das Tatgericht die Möglichkeit haben soll, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des [X.] zum Zeitpunkt der [X.] auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet 5
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werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zu Warnung dienen lässt. Damit soll dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung
getragen werden, der sich daraus ergibt, dass § 66 Abs. 2 StGB a.F.
eine frühere Verur-teilung und eine frühere Strafverbüßung nicht voraussetzt. Die Wirkungen ei-nes langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensal-ters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichti-ge Kriterien, die nach der Rechtsprechung des [X.] im Rah-men der Ermessensentscheidung regelmäßig zu berücksichtigen sind (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschluss vom 4. August 2009

1 StR 300/09,
NStZ 2010, 270, 271 f. m.w.N.). Die gilt für § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F.
entspre-chend ([X.], Beschluss vom 5. April 2011

3 StR 12/11).
2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das [X.] hat die schon allein mit dem
Vollzug der verhängten langjäh-rigen Freiheitsstrafe verbundenen Auswirkungen auf den jetzt 45 Jahre alten Angeklagten bei der Ausübung seines Ermessens rechtsfehlerhaft unerörtert gelassen. Die Erwägung, dass der Angeklagte in der Vergangenheit die Gele-genheit zur therapeutischen Aufarbeitung seiner Problematik ungenutzt gelas-sen hat, ein Umstand, den die [X.] als Beleg für seine fortbestehende Gefährlichkeit anführt, der indes nach dem Gesamtzusammenhang der Ur-teilsgründe auch die Ermessensausübung
beeinflusst haben kann, erweist sich in diesem Zusammenhang als nicht tragfähig. Die [X.] hat sich damit nicht nur den Blick auf mögliche, mit dem fortschreitenden Lebensalter einhergehende Verhaltensänderungen beim Angeklagten verstellt, sondern auch darauf, dass sich nunmehr durch den erstmaligen Vollzug einer längeren Freiheitsstrafe die Möglichkeit einer langfristigen Therapie bietet. Gerade im Hinblick auf den erwähnten Ausnahmecharakter der §§ 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB a.F.
wäre dies vor dem Hintergrund der vom Sachverständigen ge-stellten positiven Therapieprognose als ein wesentlicher, im vorliegenden Fall 6
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gegen die Anordnung der Maßregel sprechender Gesichtspunkt eingehend zu erörtern gewesen. Diese Erörterung wird die zu neuer Entscheidung berufene [X.] mit sachverständiger Hilfe nachzuholen haben.
[X.]
Für die erneute Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Fol-gendes hin:
1. § 66 StGB ist vom [X.] mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 [X.] 2365/09 u.a.) für mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art.
104 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt worden. Daher ist § 66 StGB bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur nach Maßgabe der vom [X.] erlassenen Weitergel-tungsanordnung anzuwenden. Die weitere Anwendung des § 66 StGB in der Übergangszeit hat nach Maßgabe der Nummer [X.] 1. in Verbindung mit [X.] 1. b) des Tenors des angeführten Urteils zu erfolgen; für diesen Fall fordert das [X.] gemäß C. [X.] 2. a) der Gründe (Rn.
172) eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt-
oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist.
2. Nach diesem Maßstab wird die neu zur Entscheidung berufene [X.]
die Voraussetzungen des § 66 StGB zu prüfen und

soweit es eine Anordnung nach § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB erwägt

auch das dem Tatrichter dort eingeräumte Ermessen auszuüben haben. Angesichts des eschätzten und damit der 7
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mittleren Risikokategorie zuzuordnenden [X.] bei vier von zwölf möglichen Punkten in der Risikoeinstufung nach dem sog. Static 99

Verfah-ren (vgl. dazu [X.], Beschluss
vom 30. März 2010

3 [X.], [X.], 484) wird
dies einer besonders sorgfältigen Begründung bedürfen.
[X.]Mutzbauer

Bender Quentin

Meta

4 StR 164/11

25.05.2011

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.05.2011, Az. 4 StR 164/11 (REWIS RS 2011, 6311)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6311

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3 StR 12/11

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