Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.08.2010, Az. V ZB 211/10

5. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 3986

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Gegenstand

Ausländerrecht: Anordnung der Sicherungshaft bei Zurückschiebung ohne Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft


Tenor

Die Vollziehung der durch Beschluss des [X.] vom 1. Juli 2010 angeordneten und mit Beschluss der 29. Zivilkammer des [X.] vom 21. Juli 2010 aufrechterhaltenen [X.] wird einstweilen ausgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, der Staatsangehöriger von [X.] ist und bereits in den Jahren 2004 und 2009 abgeschoben worden war, reiste nach eigenen Angaben am 6. Mai 2010 erneut in das [X.] ein und wurde am 17. Juni 2010 vorläufig festgenommen.

2

Eine am 1. Juli 2010 beabsichtigte Rückführung des Betroffenen scheiterte, weil er im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich in Untersuchungshaft genommen worden war. Das Strafverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Die Zustimmung zu einer Zurückschiebung des Betroffenen ist von der Staatsanwaltschaft bislang nicht erteilt worden.

3

Mit Beschluss vom 18. Juni 2010 hat das Amtsgericht auf Antrag der Beteiligten zu 2 gegenüber dem Betroffenen die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 16. Juli 2010 und die sofortige Wirksamkeit seiner Entscheidung angeordnet. Mit Beschluss vom 1. Juli 2010 hat es die Haft bis längstens vier Wochen nach Ende der Untersuchungshaft verlängert.

4

Die gegen die Haftanordnungen des Amtsgerichts gerichteten Beschwerden sind von dem [X.] zurückgewiesen worden. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der zugleich die vorläufige Aussetzung des [X.] beantragt worden ist.

II.

5

Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei aufgrund unerlaubter Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Da er nicht glaubhaft gemacht habe, dass er sich der Zurückschiebung nicht entziehen werde, sei die Haft anzuordnen gewesen. Gründe, die gegen die Möglichkeit der Zurückschiebung binnen drei Monaten sprächen, lägen nicht vor. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass sich das gegen den Betroffenen geführte Strafverfahren länger hinauszögern werde. Die Staatsanwaltschaft werde dann gegebenenfalls einer Abschiebung zustimmen.

III.

6

1. Der Aussetzungsantrag ist in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Mai 2010 - [X.] 121/10, juris, Rn. 5; Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - [X.] 14/10, [X.] 2010, 97, Rn. 3; Senat, Beschluss vom 30. März 2010 - [X.] 79/10, [X.] 2010, 158, Rn. 3).

7

2. Er ist auch begründet.

8

a) Das Rechtsbeschwerdegericht hat über die beantragte einstweilige Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die drohenden Nachteile für den Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Die Aussetzung der Vollziehung einer Freiheitsentziehung, die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist (Senat, Beschluss vom 7. Mai 2010 - [X.] 121/10, juris Rn. 7; Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - [X.] 14/10, [X.] 2010, 97, Rn. 5; Senat, Beschluss vom 30. März 2010 - [X.] 79/10, [X.] 2010, 158 Rn. 5). So liegt es hier. Die Rechtsbeschwerde bietet jedenfalls insoweit hinreichende Aussicht auf Erfolg, als sie sich gegen die Verlängerung der [X.] richtet, die ausweislich des [X.] der [X.] vom 2. August 2010 seit diesem Tag gegen den Betroffenen vollstreckt wird.

9

b) Die Entscheidung des [X.] begegnet angesichts der fehlenden Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu einer Rückschiebung des Betroffenen gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] erheblichen rechtlichen Bedenken.

aa) Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus; dass das Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft zu einem späteren Zeitpunkt hergestellt werden könnte, ist unerheblich (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010, [X.] 93/10 - juris Rn. 8 für die Abschiebung).

bb) Die Beteiligte zu 2 betreibt hier zwar nicht die Abschiebung (§ 58 [X.]) oder die Ausweisung (§§ 53 ff. [X.]), sondern die - in § 72 Abs. 4 [X.] nicht angeführte - Zurückschiebung des Betroffenen nach § 57 [X.]. Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses begründen aber ernsthafte Zweifel an der Annahme, eine Zurückweisung des Betroffenen könne deshalb auch ohne Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft erfolgen.

Der Wortlaut des § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] lässt ebenso wenig einen zweifelsfreien Rückschluss darauf zu, dass die Norm in der Aufzählung aufenthaltsbeendender Maßnahmen abschließend ist (so aber wohl [X.], Ausländerrecht, 59. Aktualisierung zu § 72 [X.] Rn. 17 und 62. Aktualisierung zu § 57 Rn. 4; [X.] in GK-[X.], Stand September 2007, § 72 Rn. 34), wie die Gesetzesbegründung zu § 64 Abs. 3 [X.], bei der es sich um die inhaltsgleiche Vorgängerregelung von § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] handelt (vgl. Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drucks. 11/6321 [vom 27. Januar 1990], S. 78 f.).

Vielmehr dürfte ein allein an dem Wortlaut orientiertes Verständnis der Norm deren Sinn und Zweck nicht gerecht werden. § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] soll verhindern, dass die Strafverfolgung durch ausländerrechtliche Maßnahmen erschwert oder vereitelt wird ([X.], [X.], 291; [X.] in GK-[X.], Stand September 2007, § 72 Rn. 29 f.; [X.], Ausländerrecht, 59. Aktualisierung zu § 72 Rn. 14). Aus diesem Grund hängen die Ausweisung und die Abschiebung von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft ab. Allein ihr obliegt die Abwägung, ob das Strafverfolgungsinteresse das Interesse an der Abschiebung des Ausländers überwiegt.

Ein überwiegendes Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegenüber einem sich illegal im [X.] aufhaltenden Ausländer kann aber nicht nur im Falle der Abschiebung und Ausweisung, sondern ebenso bei einer Zurückschiebung bestehen (vgl. [X.], [X.], 291). Vor diesem Hintergrund überzeugt auch die Annahme, die Vorschrift des § 72 Abs. 4 [X.] lasse die Absicht des Gesetzgebers erkennen, unerlaubte Einreisen vorrangig mit dem Mittel der Zurückschiebung zu bekämpfen und in Fällen, in denen die Zurückweisung möglich ist, den staatlichen Strafanspruch zurücktreten lassen (so [X.], Ausländerrecht, 62. Aktualisierung zu § 57 [X.] Rn. 4), nicht ohne Weiteres.

c) Bei dieser Sachlage überwiegen die Nachteile, die für den Betroffenen mit der fortgesetzten Vollziehung der Haft verbunden wären, das staatliche Interesse an deren Aufrechterhaltung.

[X.]                      Schmidt-Räntsch

                       Stresemann                       Czub

Meta

V ZB 211/10

18.08.2010

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Hamburg, 21. Juli 2010, Az: 329 T 66/10 + 329 T 67/10

§ 57 AufenthG, § 72 Abs 4 S 1 AufenthG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.08.2010, Az. V ZB 211/10 (REWIS RS 2010, 3986)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3986

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