Bundesfinanzhof, Beschluss vom 19.05.2020, Az. VIII B 114/19

8. Senat | REWIS RS 2020, 3477

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Gegenstand

Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung bei Nichterscheinen eines ordnungsgemäß geladenen Beteiligten in der mündlichen Verhandlung


Leitsatz

NV: Die Ladung zur mündlichen Verhandlung beinhaltet nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekanntgegebene Tatsachen bzw. Rechtsfragen in der Regel eine ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs. Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung nur aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war.

Tenor

Auf die Beschwerde des Beigeladenen wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom [X.] - 8 K 8198/15 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet.

2

Der vom Beigeladenen und Beschwerdeführer (Beigeladener) gerügte Verfahrensfehler in Gestalt einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor. Die Vorentscheidung des Finanzgerichts ([X.]) wird aufgehoben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

3

1. Das [X.] hat eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es der Klage der Klägerin --ohne vorherigen Hinweis an den ordnungsgemäß geladenen und nicht zur mündlichen Verhandlung erschienenen Beigeladenen und ohne die Sache zu vertagen-- auf Grundlage eines nicht zuvor in das in das Verfahren eingeführten rechtlichen Gesichtspunkts stattgegeben hat.

4

a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet den Beteiligten das Recht, sich vor der Entscheidung des Gerichts zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage ausreichend äußern zu können. Das Gericht verletzt daher das Recht auf Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), wenn die Verfahrensbeteiligten von einer Entscheidung überrascht werden, weil das Urteil auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gegründet ist, zu denen sie sich nicht geäußert haben und zu denen sich zu äußern sie nach dem vorherigen Verlauf des Verfahrens auch keine Veranlassung hatten. Art. 103 Abs. 1 GG schützt daher die Beteiligten davor, von neuen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten überfahren zu werden, die dem Rechtsstreit eine Wendung geben, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. statt vieler Kammerbeschluss des [X.] vom 08.07.1993 - 2 BvR 218/92, [X.] 1993, 595; Urteil des [X.] --BFH-- vom 21.01.1998 - III R 31/97, [X.] 1998, 732, unter [X.], m.w.N.).

5

b) Dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör wird auch nicht stets bereits dadurch entsprochen, dass ein Beteiligter unter Hinweis auf die Folgen seines (unentschuldigten) Ausbleibens (vgl. § 91 Abs. 2 [X.]O) ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen wird. Zwar genügt es grundsätzlich für die Gewährung rechtlichen Gehörs, den Verfahrensbeteiligten ausreichend Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Es obliegt dann der Verantwortung der Verfahrensbeteiligten, die Gelegenheit zur Verwirklichung ihres rechtlichen Gehörs auch wahrzunehmen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird damit durch die prozessuale Mitverantwortung der Beteiligten begrenzt. Deshalb kommt das [X.] seiner Verpflichtung, den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren, in der Regel bereits dadurch nach, dass es eine mündliche Verhandlung anberaumt, die Beteiligten ordnungsgemäß lädt und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt durchführt ([X.] vom 04.12.2017 - X B 91/17, [X.] 2018, 342, Rz 23, 24, m.w.N.).

6

c) Die Ladung zur mündlichen Verhandlung beinhaltet jedoch nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekanntgegebene Tatsachen bzw. Rechtsfragen in der Regel eine ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs. Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung nur aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war (vgl. [X.] in [X.] 2018, 342, Rz 25).

7

d) Nach diesen Vorgaben hat das [X.] nach dem Verfahrensablauf des Streitfalls den Anspruch des Beigeladenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es ohne Vertagung der Klage stattgegeben hat.

8

aa) Die Klägerin hatte ihren ursprünglich gegen den gesonderten und einheitlichen Feststellungsbescheid selbst erhobenen Einspruch zurückgenommen. Sie war danach ausweislich des Rubrums der Einspruchsentscheidung vom 02.06.2015 zum Einspruchsverfahren des Beigeladenen notwendig hinzugezogen worden. Gegen den dem Beigeladenen gegenüber ergangenen gesonderten und einheitlichen Feststellungsbescheid in Gestalt der durch die Einspruchsentscheidung vom 02.06.2015 geänderten Feststellungen richtete sich die von der Klägerin erhobene Klage (s. zum Klagerecht des Hinzugezogenen gegen eine gesonderte und einheitliche Feststellung [X.] vom 07.02.2007 - IV B 210/04, [X.] 2007, 869, unter [X.]b).

9

bb) Die Klägerin kündigte im Rahmen ihrer Klagebegründung vom 24.08.2015 den Antrag an, die Einspruchsentscheidung sei wegen eines Verstoßes des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --[X.]--) gegen das [X.] gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung ([X.]) aufzuheben, hilfsweise begehrte sie eine geänderte Feststellung des für den Beigeladenen festgestellten Veräußerungsgewinns, eine Herabsetzung des dem Beigeladenen zugewiesenen laufenden Gewinns und einen zusätzlichen Betriebsausgabenabzug in Höhe von 152.280,05 €. [X.] hilfsweise beantragte die Klägerin den Abzug weiterer Betriebsausgaben für die Abschreibung des Praxiswerts in Höhe von 33.840 €. Der Beigeladene wurde durch Beschluss des [X.] vom 04.09.2017, in dem die schriftsätzlich vorgetragenen Anträge der Klägerin samt Begründung und die Gegenäußerung des [X.] inhaltlich wiedergegeben waren, gemäß § 60 Abs. 3 [X.]O zum Verfahren notwendig beigeladen.

cc) Der zuständige Berichterstatter beim [X.] erteilte der Klägerin mit Schreiben vom [X.] den schriftlichen Hinweis, er halte die Klage für unbegründet, soweit im Hauptantrag das Fehlen eines [X.]es gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 [X.] geltend gemacht werde. Er führte weiter aus, dass der Ermittlung der laufenden Einkünfte der Klägerin und des festgestellten Aufgabe-/Veräußerungsgewinns des Beigeladenen in der Einspruchsentscheidung durch das [X.] inhaltlich zu folgen sein dürfte, forderte die Klägerin zur Stellungnahme auf und setzte dieser gemäß § 79b Abs. 2 [X.]O eine Ausschlussfrist zur Vorlage von Nachweisen über bestimmte Zahlungen an den Beigeladenen. Im Vorfeld der Ladung zur auf den [X.] terminierten mündlichen Verhandlung übersandte der Berichterstatter dem Beigeladenen nach einer in den [X.]-Akten befindlichen Verfügung vom 29.04.2019 das Hinweisschreiben an die Klägerin und das [X.]. In einem Schreiben vom 17.05.2019 nahm die Klägerin hierzu Stellung und brachte nochmals Argumente gegen die Auffassung des Berichterstatters vor, dass das [X.] einen ausreichenden [X.] erteilt habe.

dd) In der mündlichen Verhandlung vom [X.], zu der der ordnungsgemäß geladene Beigeladene nicht erschienen war, erteilte der Vorsitzende den Hinweis, es sei im Streitfall nicht entscheidungserheblich, ob der [X.] des [X.] deutlich genug erteilt worden sei, weil es im Zeitpunkt der Verböserung an einem noch anhängigen Einspruchsverfahren des Beigeladenen gefehlt habe; die Einspruchsentscheidung sei fehlerhaft und aus diesem Grund isoliert aufzuheben. Daraufhin beantragte die Klägerin nur noch, die Einspruchsentscheidung vom 02.06.2015 aufzuheben. Das [X.] gab der Klage statt. Es stützte sich in den Entscheidungsgründen ausschließlich auf den Gesichtspunkt, dass das [X.] über einen Einspruch entschieden habe, obwohl zu diesem Zeitpunkt kein "zulässiges Einspruchsverfahren" des Beigeladenen mehr anhängig gewesen sei. Dem Beigeladenen habe schon bei Einspruchseinlegung die gemäß § 350 [X.] erforderliche Einspruchsbefugnis gefehlt, weil er die Erhöhung des für ihn festgestellten Veräußerungsgewinns um 75.000 € begehrt habe. Zudem sei der Veräußerungsgewinn des Beigeladenen nach Erhebung des Einspruchs durch einen geänderten Feststellungsbescheid vom [X.] durch das [X.] um 75.000 € erhöht worden.

ee) Das [X.] hat angesichts des geschilderten [X.] den Anspruch des Beigeladenen auf rechtliches Gehör im Streitfall verletzt. Es war zur Vertagung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, da es die Entscheidung auf tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte gestützt hat, zu denen dem Beigeladenen zuvor kein rechtliches Gehör gewährt worden war. Bei dem die Vorentscheidung des [X.] allein tragenden rechtlichen Gesichtspunkt, das [X.] habe über ein nicht mehr anhängiges Einspruchsverfahren des Beigeladenen entschieden, handelt es sich um eine Rechtsfrage, die bis zur mündlichen Verhandlung nicht in das Verfahren eingeführt worden war. Der Beigeladene musste und konnte den an ihn weitergeleiteten Hinweis des Berichterstatters vom [X.] an die Klägerin und das [X.] im Lichte der konkreten Verfahrenslage interpretieren und verstehen (vgl. dazu [X.] vom 19.01.2018 - X B 60/17, [X.] 2018, 530, Rz 18). Aus diesem war für ihn im Vorfeld der mündlichen Verhandlung nur erkennbar, dass das [X.] von einem ausreichenden [X.] des [X.] ausgehen und den zuvor angekündigten Hauptantrag der Klägerin für unbegründet halten könnte. Nur der Streit der Beteiligten zum Vorliegen eines [X.]es des [X.] war im Hinblick auf das Begehren der Klägerin, die Einspruchsentscheidung vom 02.06.2015 isoliert aufzuheben, in das Verfahren eingeführt worden. Dass der Beigeladene trotz ordnungsgemäßer Ladung und Belehrung darüber, dass das [X.] bei seinem Fernbleiben auch ohne ihn verhandeln und entscheiden könne, nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen war, stellt keine Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten dar und steht der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen, da das [X.] die Klagestattgabe ausschließlich auf einen neuen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat.

e) Der Senat hält es für sachdienlich, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

2. Da die Nichtzulassungsbeschwerde des Beigeladenen aus den dargelegten Gründen Erfolg hat, ist es nicht notwendig, auf die weiteren geltend gemachten Verfahrensfehler und Zulassungsgründe einzugehen.

3. [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VIII B 114/19

19.05.2020

Bundesfinanzhof 8. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 21. Mai 2019, Az: 8 K 8198/15, Urteil

§ 96 Abs 2 FGO, § 91 Abs 2 FGO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 19.05.2020, Az. VIII B 114/19 (REWIS RS 2020, 3477)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3477

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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