Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 11.01.2012, Az. 2 B 78/11

2. Senat | REWIS RS 2012, 10257

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Gegenstand

Disziplinarklage; Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts durch das Tatsachengericht; Schuldfähigkeit des Beamten


Gründe

1

Die Beschwerde des [X.]n hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 41 [X.] und § 69 [X.] an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf einem vom [X.]n geltend gemachten Verfahrensmangel.

2

1. Der [X.] steht als Polizeihauptmeister im Dienst des [X.]. [X.] wurde er wegen Diebstahls rechtskräftig verurteilt. Er hatte während seines [X.] in den Diensträumen aus einem [X.] Gebührenmarken im Wert von 250 € entnommen und durch Umtausch in Bargeld unberechtigt seinem Vermögen zugeführt. Gegenstand der [X.] ist außerdem der Vorwurf, der [X.] habe seine Wirtschaftsführung ungeordnet vorgenommen. Er habe seine Zahlungsverpflichtungen gegenüber zwei Gläubigern nicht eingehalten, so dass diese mit Abtretungserklärungen des [X.]n an die Dienstbehörde herangetreten seien. Ferner habe ein Gericht in zwei Fällen wegen nicht erfüllter Verpflichtungen des [X.]n einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss in Bezug auf dessen Dienstbezüge erlassen. Das Verwaltungsgericht hat den [X.]n aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen.

3

2. Die Verfahrensrüge des Verstoßes gegen die aus § 41 [X.] und § 58 Abs. 1 [X.] folgende Pflicht zur Erhebung der erforderlichen Beweise ist begründet.

4

Nach § 41 [X.] und § 58 Abs. 1 [X.] obliegt den [X.] die Pflicht, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. Urteile vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 [X.] 15.84 - BVerwGE 71, 38 <41> = [X.] 303 § 414 ZPO Nr. 1 S. 2 und vom 6. Oktober 1987 - BVerwG 9 [X.] 12.87 - [X.] 310 § 98 VwGO Nr. 31 S. 1).

5

Bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Schuldfähigkeit des Beamten bei Begehung der Tat erheblich gemindert war, so darf das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Bemessungsentscheidung diesen Aspekt nicht offen lassen oder zu Gunsten des Betroffenen unterstellen und sogleich auf die Einsehbarkeit der betreffenden Pflicht abstellen. Vielmehr muss es die Frage einer Minderung der Schuldfähigkeit des Beamten aufklären. Hat der Beamte zum Tatzeitpunkt an einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB gelitten oder kann eine solche Störung nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" nicht ausgeschlossen werden und ist die Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten erheblich, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere des Dienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. Bei einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit kann die [X.] regelmäßig nicht mehr ausgesprochen werden (Urteil vom 25. März 2010 - BVerwG 2 [X.] 83.08 - BVerwGE 136, 173 = [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 11 jeweils Rn. 29 ff.; Beschluss vom 20. Oktober 2011 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 9).

6

Hierzu muss geklärt werden, ob der Beamte im Tatzeitraum an einer Krankheit gelitten hat, die seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, vermindert hat. Hierzu bedarf es in der Regel besonderer medizinischer Sachkunde. Erst wenn die Erkrankung und ihr Umfang feststehen oder nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" nicht ausgeschlossen werden können, kann beurteilt werden, ob die Voraussetzung für eine erheblich geminderte Schuldfähigkeit vorliegen. Denn von den Auswirkungen der krankhaften seelischen Störung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in Bezug auf das Verhalten des Beamten hängt im Disziplinarrecht die Beurteilung der Erheblichkeit einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB ab. Die Frage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung "erheblich" war, ist eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte in eigener Verantwortung zu beantworten haben. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise (stRspr, vgl. zum Ganzen: Urteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 [X.] 59.07 - [X.] 235.1 § 70 [X.] Nr. 3).

7

Aufgrund des Vorbringens des [X.]n auch im Berufungsverfahren bestand hinreichender Anlass, der entscheidungserheblichen Frage der Verminderung der Schuldfähigkeit des [X.]n zum Tatzeitpunkt (24./25. August 2005) nachzugehen. Zudem ist die Bedingung eingetreten, unter der der Antrag in der Berufungsverhandlung auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache stand, dass sich der [X.] zumindest seit Ende 2003 in einem Zustand von depressiven Phasen befand und zum Zeitpunkt der Tat zumindest vermindert schuldfähig war. Der Antrag war davon abhängig, dass der Hauptantrag des [X.]n auf Ausspruch einer milderen Disziplinarmaßnahme als der [X.] erfolglos bleibt. Das Oberverwaltungsgericht hat aber auf die die Entfernung des [X.]n aus dem Beamtenverhältnis erkannt.

8

Bei der ihm obliegenden Prüfung, ob greifbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Schuldfähigkeit des Beamten zum Zeitpunkt der Tat gemindert war, hat das Oberverwaltungsgericht das Attest der behandelnden Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie/Psychoanalyse vom 10. Juli 2006 verfahrensfehlerhaft bewertet. Aus diesem Attest ergeben sich greifbare Anhaltspunkte für eine für die Bemessungsentscheidung unter Umständen erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des [X.]n zum Tatzeitpunkt. Das [X.] hat dem Attest insoweit jedoch jede Bedeutung abgesprochen, weil es davon ausgegangen ist, ihm liege offensichtlich eine fehlerhafte Beurteilung der zeitlichen Abläufe zugrunde. Angesichts der Bedeutung dieses Attests für die entscheidungserhebliche Frage der Verminderung der Schuldfähigkeit des [X.]n war das Berufungsgericht aber verpflichtet, den nach seiner Ansicht wesentlichen Umstand der zeitlichen Reihenfolge von "Auszug der Ehefrau" und der Tat durch eine Nachfrage bei der Ärztin zu klären. Denn nur auf diese Weise ließ sich die Aussagekraft des vom [X.]n vorgelegten Attests klären. Die Beschwerde hat ausreichend aufgezeigt, dass nach dem Akteninhalt die Ärztin im Attest auf den Zeitpunkt der erstmaligen Trennung der Eheleute für die Ursächlichkeit des depressiven Syndroms abgestellt haben muss. Damit ist aber noch nicht ausgeschlossen, dass der [X.] im Tatzeitpunkt erneut oder weiterhin an einer depressiven Störung litt, die Auswirkungen auf seine Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB hatte, wie ihm dies attestiert worden ist.

9

Aus diesem Grund ist auch die im Berufungsurteil zum Ausdruck kommende Ansicht des [X.], es sei Sache des [X.]n gewesen, eine weitere Stellungnahme der behandelnden Ärztin vorzulegen, mit der Verpflichtung zur Amtsaufklärung nicht zu vereinbaren. Bei Zweifeln über die Richtigkeit der dem Attest zugrunde liegenden Annahme über den zeitlichen Ablauf musste das Gericht selbst tätig werden. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass der [X.] durch die Vorlage des Attests auf den Vorhalt im Urteil des [X.] reagiert hat, seine Behauptung hinsichtlich einer zum Tatzeitpunkt bestehenden "psychiatrischen Ausnahmesituation" sei "ins Blaue hinein" aufgestellt worden. Es ist nicht zulässig, prozessual notwendige und dem Gericht nach § 41 [X.] und § 58 Abs. 1 [X.] selbst obliegende Aufklärungsmaßnahmen dem angeschuldigten Beamten aufzubürden.

Für das weitere Verfahren weist der Senat zum Vorwurf der ungeordneten Wirtschaftsführung darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des [X.] ein Dienstvergehen außerdienstlich ist, wenn das pflichtwidrige Verhalten nicht in das Amt und in die damit verbundene dienstliche Tätigkeit eingebunden war. Bei einem außerdienstlich begangenen Dienstvergehen ist die [X.] gesondert zu begründen (Urteil vom 19. August 2010 - BVerwG 2 [X.] 13.10 - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 12 Rn. 9 ff.). Insofern ist bereits sehr zweifelhaft, ob die Überschuldung angesichts der durch die Erkrankung der Tochter ausgelösten finanziellen Belastungen der Familie des [X.]n überhaupt die Schwelle zur [X.] überschritten hat.

Die Prüfung entlastender Gesichtspunkte ist auch bei sog. [X.] nicht darauf beschränkt, ob die Voraussetzungen eines sog. anerkannten Milderungsgrundes vorliegen. Diese in der Rechtsprechung des Disziplinarsenats des [X.] entwickelten Milderungsgründe dürfen nicht als abschließender Kanon der allein beachtlichen Entlastungsgründe angesehen werden. Vielmehr ist das Gewicht aller entlastenden Gesichtspunkte, etwa die hier insbesondere in Betracht kommende außergewöhnlich schwierige Lebenssituation aufgrund einer wirtschaftlichen Notlage während des Tatzeitraums, der Schwere des Dienstvergehens gegenüberzustellen (Urteile vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 [X.] 12.04 - BVerwGE 124, 252 <260 f.> = [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 1 S. 7 f. und vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 [X.] 9.06 - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 3 Rn. 23).

Meta

2 B 78/11

11.01.2012

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 3. März 2011, Az: 80 D 2.09, Urteil

§ 41 DiszG BE, § 58 BDG, § 20 StGB, § 21 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 11.01.2012, Az. 2 B 78/11 (REWIS RS 2012, 10257)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 10257

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Referenzen
Wird zitiert von

AN 13b D 17.1237

16a D 14.1992

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