Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.06.2011, Az. 4 StR 643/10

4. Strafsenat | REWIS RS 2011, 6004

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Gegenstand

Strafverfahren: Rechtsfolgen der unterbliebenen Belehrung eines ausländischen Festgenommenen über sein Recht auf unverzügliche Benachrichtigung seiner konsularischen Vertretung


Tenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 5. April 2002 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

1

Das [X.] hat den Angeklagten am 5. April 2002 wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.

2

Im Rahmen seiner Revision hat der Angeklagte mit der Verfahrensrüge geltend gemacht, dass er vor seiner polizeilichen Vernehmung nicht gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] belehrt worden sei.

3

Nach einer ersten Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 [X.] als unbegründet durch Beschluss des [X.] des [X.] vom 29. Januar 2003 – 5 [X.] – und der Aufhebung dieses Beschlusses sowie Zurückverweisung der Sache durch das [X.] mit [X.] vom 19. September 2006 (2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499) wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) hat der 5. Strafsenat des [X.] die Revision mit Beschluss vom 25. September 2007 (veröffentlicht in [X.], 48) erneut verworfen, allerdings mit der Maßgabe, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.

4

Auf die gegen diese Entscheidung wiederum erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat das [X.] mit [X.] vom 8. Juli 2010 (2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207) auch die zweite Revisionsentscheidung wegen eines Verstoßes gegen das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Strafsenat des [X.] zurückverwiesen.

5

Danach hat nunmehr der [X.] über die Revision des Angeklagten zu entscheiden.

II.

6

Diese Entscheidung kann im [X.] ergehen. Nach Aufhebung auch des zweiten die Revision des Angeklagten verwerfenden Beschlusses des [X.] ist das Verfahren erneut in den Stand zurückversetzt worden, den es vor der ersten Revisionsentscheidung vom 29. Januar 2003 hatte. Die allein noch inmitten stehende Rechtsfrage nach den Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] ist durch die Vorgaben nunmehr zweier bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen klar umgrenzt; der [X.] und der Verteidiger des Angeklagten haben zu ihr nochmals ausführlich schriftlich Stellung genommen.

7

Die Rechtsfrage ist nach Auffassung des [X.]s auch zweifelsfrei zu beantworten. Die Durchführung der Hauptverhandlung lässt keine neuen Erkenntnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art erwarten, die das gefundene Ergebnis in Zweifel ziehen könnten (vgl. [X.], Beschluss vom 12. Oktober 2000 – 5 [X.], [X.]R [X.] § 349 Abs. 2 Verwerfung 6; zur Bedeutung der Revisionshauptverhandlung vgl. [X.] JZ 2011, 78, 80).

III.

8

Die Revision erzielt lediglich wegen einer während des Revisionsverfahrens eingetretenen Verfahrensverzögerung einen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 [X.].

9

1. Die vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen sowie die Sachrüge dringen nicht durch. Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] geltend gemacht wird.

a) Der [X.] sieht mit [X.]ick auf die Bindungswirkung der Entscheidungen des [X.]s (§ 31 Abs. 1, § 93c Abs. 1 Satz 2 [X.]G) davon ab, die [X.] gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 [X.] als unzulässig zu verwerfen, obwohl die Revision verschweigt, dass der Angeklagte sich am 20. [X.]vember 2001 – nach Konsultation seines Verteidigers – erneut zur Sache eingelassen und die Richtigkeit seiner früheren Angaben bestätigt hat (Gerichtsakten [X.]. 619-621). Diesem Umstand kommt, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt, entscheidungserhebliche Bedeutung für die Frage nach einem Verwertungsverbot zu.

b) Die [X.] ist unbegründet. Allerdings liegt eine Gesetzesverletzung darin, dass der Angeklagte, der [X.] Staatsangehöriger ist, nach seiner Festnahme nicht durch die Polizeibeamten gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] über seine Rechte belehrt worden ist (vgl. jetzt auch § 114b Abs. 2 Satz 3 [X.]).

aa) Das [X.], dem die [X.] und die [X.] beigetreten sind, steht in der [X.] Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes, das [X.] Behörden und Gerichte wie anderes Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben ([X.], Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch [X.], Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 [X.], [X.], 567, zur Parallele bei der [X.]). Nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes haben [X.] Gerichte dabei auch die Judikate der für [X.] zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen ([X.], Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch [X.], Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a., Rn. 89 ff.). Sie haben – ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung – normative Leitfunktion ([X.], Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502).

[X.]) Nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] obliegt die Belehrungspflicht den zuständigen Behörden des [X.] und damit auch den festnehmenden Polizeibeamten, sofern sie Kenntnis von der ausländischen Staatsangehörigkeit erlangen oder Anhaltspunkte für eine solche bestehen ([X.], Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, unter Bezugnahme auf [X.], [X.], [X.], [X.], [X.] 2004, p. 12, [X.] 88: „[X.] an [X.] as soon as it is realized that the person is a foreign national, or once there are grounds to think that the person is probably a foreign national“).

c) Der Geltendmachung des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] steht nicht entgegen, dass der Angeklagte keinen spezifisch auf die Verletzung des Art. 36 [X.] abstellenden Widerspruch erhoben, sondern der Verwertung seiner Angaben in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. [X.]vember 2001 durch zeugenschaftliche Vernehmung der Verhörspersonen mit [X.]ick auf die nicht durchgreifende Beanstandung eines Verstoßes gegen §§ 136, 137 [X.] widersprochen hat. Der 1. Strafsenat hat allerdings mit Beschluss vom 11. September 2007 (1 [X.], [X.], 38) die von der Rechtsprechung des [X.] entwickelte „Widerspruchslösung“ auch auf den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] angewandt und generell verlangt, dass die den Prüfungsumfang für das Tatgericht begrenzende Begründung des Widerspruchs erkennen lässt, dass die Angriffsrichtung des Widerspruchs gerade auf eine Verletzung von Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] abzielt.

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem jener Entscheidung zugrunde liegenden jedoch dadurch, dass hier eine Belehrung auch zu einem späteren [X.]punkt nicht erfolgt ist. Nach den maßgeblich zu beachtenden Grundsätzen des [X.] im [X.]-Urteil muss eine umfassende Überprüfung und Neubewertung von Schuld- und Strafausspruch unter Berücksichtigung des Konventionsverstoßes möglich sein ([X.], [X.], [X.], [X.], [X.] 2001, p. 466, [X.] 128 [nichtamtliche [X.] Übersetzung in [X.], 287]: „review and reconsideration of the conviction and sentence by taking account of the violation of the rights set forth in that Convention”). Diese Überprüfung darf nicht unter Berufung auf das Fehlen nach nationalem Prozessrecht erforderlicher Einwände ausgeschlossen werden ([X.], „[X.]“, aaO, [X.] 90, zur [X.] „procedural default rule“), weshalb nach dem [X.] ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 2 [X.] jedenfalls dann vorliegt, wenn die Belehrung über die Rechte nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] – wie hier – solange nicht erfolgte, wie die Einwände nach nationalem Prozessrecht hätten erhoben werden müssen ([X.], „[X.]“, aaO, [X.] 90 f.; [X.], „[X.]“, aaO, [X.] 112 f., 134).

d) Das Fehlen der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] führt im vorliegenden Fall nicht zu einem Verwertungsverbot, weil dem Angeklagten hierdurch im weiteren Verfahren kein Nachteil erwachsen ist.

aa) Allerdings ist die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes aus einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] nicht von vornherein ausgeschlossen ([X.], Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 209 f.; anders – gegen die Möglichkeit eines Verwertungsverbotes – noch [X.], Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 [X.], [X.], 110, 114; offen gelassen in [X.], Beschluss vom 11. September 2007 – 1 [X.], [X.], 38, 41): Nach der Rechtsprechung des [X.] im Fall „[X.]“ ist vielmehr im Einzelfall zu untersuchen, ob dem Betroffenen aus dem Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] im weiteren [X.] tatsächlich ein Nachteil entstanden ist („actual prejudice“, [X.], „[X.]“, aaO, [X.] 121 ff.). Dieser Rechtsprechung ist – was im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung möglich ist ([X.], Beschlüsse vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, und vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210) – dadurch Rechnung zu tragen, dass die vom [X.] für nicht speziell geregelte Beweisverwertungsverbote entwickelte Abwägungslehre zur Anwendung gebracht wird. Es hat eine Abwägung zwischen dem durch den [X.] bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten einerseits und den Strafverfolgungsinteressen des Staates andererseits stattzufinden, wobei auf den Schutzzweck der verletzten [X.]rm ebenso abzustellen ist wie auf die Umstände, Hintergründe und Auswirkungen der Rechtsverletzung im Einzelfall ([X.], Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210; vgl. [X.], Beschluss vom 13. Juli 2010 – 1 StR 251/10; s. auch [X.]/[X.] StV 2011, 369, 376; [X.]/Müller [X.], 495, 498 ff.).

[X.]) Die hieran ausgerichtete Abwägung führt im Ergebnis nicht zur Unverwertbarkeit der Angaben des Angeklagten bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. [X.]vember 2001.

(1) Zweck der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] ist die Verwirklichung des Rechts des Betroffenen auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte ([X.], Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502 f. unter Bezugnahme auf [X.], „[X.]“ aaO und „[X.]“ aaO). Im [X.] steht die Vermittlung anwaltlichen Beistandes ([X.], Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503: Überschneidung der Belehrung über das Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers mit der Funktion der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 [X.], mit Hilfe des Konsulats einen Rechtsbeistand für den Beschuldigten zu beauftragen; [X.] GA 2007, 296, 305; [X.] 2008, 271, 274; vgl. auch [X.], Beschluss vom 14. September 2010 – 3 [X.], zum Inhalt der Hilfe für im Ausland inhaftierte [X.] Staatsangehörige durch [X.] Konsularbeamte nach § 7 KonsG). Dies gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung des [X.] nicht vorgesehen ist, dass der Konsularbeamte selbst anwaltliche Aktivitäten entfaltet ([X.], „[X.]“, aaO, [X.] 85: „[X.], [X.] in Article 36, paragraph 1, or elsewhere in the Convention, [X.] entail [X.] legal representative or more directly engaging in the criminal justice process“; anders offenbar [X.]/[X.] aaO S. 372). Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] schützt dabei nicht speziell die Aussagefreiheit des Beschuldigten (ebenso [X.] aaO, S. 304), sondern allgemein das Recht auf effektive Verteidigung (so auch [X.] aaO, [X.]); dies ergibt sich schon daraus, dass nach der Rechtsprechung des [X.] im Fall „[X.]“ Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] nicht verlangt, dass die Belehrung der ersten Vernehmung des Beschuldigten in jedem Fall vorausgehen muss ([X.], „[X.]“, aaO, [X.] 87: „[X.] in Article 36, paragraph 1 (b), [X.], so [X.] breach of Article 36”; vgl. [X.], Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503).

(2) Vor dem Hintergrund dieses Schutzzwecks ist zunächst in die Abwägung einzustellen, dass der Angeklagte – was ihn freilich nicht vom persönlichen Schutzbereich des Art. 36 Abs. 1 [X.] ausnimmt ([X.], Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503; [X.], Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 [X.], [X.], 110) – in [X.] geboren wurde und aufwuchs und nach den Feststellungen im Urteil keine sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten und keine Sozialisationsdefizite hatte, sondern insgesamt integriert in [X.] lebte. Eine wegen ausländerspezifischer Verteidigungsdefizite konkret erhöhte Schutzbedürftigkeit des Angeklagten ist danach nicht erkennbar (vgl. dazu auch [X.] aaO).

(3) Der – anlässlich seiner Festnahme sowohl von den Ermittlungsbeamten als auch dem Haftrichter mehrfach über seine Rechte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 [X.] belehrte – Angeklagte war über seine Verteidigungsmöglichkeiten orientiert. Das zeigt sich unter anderem darin, dass er auch ohne die Belehrung über die Möglichkeit konsularischen Beistands in der Lage war, seine prozessualen Rechte – insbesondere sein Recht zu schweigen – wahrzunehmen. So hat er vor dem Ermittlungsrichter eine Aussage unter Hinweis darauf verweigert, zunächst einen Rechtsanwalt sprechen zu wollen, um dessen Beauftragung er im Folgenden seine Familie gebeten hat. Seine Einlassung in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. [X.]vember 2001 erfolgte, nachdem er ausführlich über sein Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers belehrt worden war.

(4) Am 20. [X.]vember 2001, als der Angeklagte zwar noch immer nicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] belehrt, wohl aber verteidigt war, also – wenngleich mit einiger Verzögerung – der Zustand hergestellt war, den sicherzustellen Hauptzweck des Art. 36 Abs. 1 [X.] ist, hat der Angeklagte die Angaben aus seiner ersten polizeilichen Vernehmung bestätigt (vgl. auch [X.] aaO; [X.] aaO S. 305). Die Verteidigervollmacht für Rechtsanwalt [X.]hatte der Angeklagte bereits am 2. [X.]vember 2001 in der [X.] unterzeichnet.

(5) Die Polizeibeamten unterließen weder bei der Festnahme noch im Vorfeld der Vernehmung vom 1. [X.]vember 2000 die Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] unter bewusster Umgehung dieser Vorschrift (vgl. [X.], Urteil vom 18. Dezember 2008 – 4 [X.], [X.]St 53, 112; Beschlüsse vom 18. Oktober 2005 – 1 [X.], [X.], 236, und vom 19. Oktober 2005 – 1 [X.], [X.], 181); nach damaliger in [X.] verbreiteter Rechtsauffassung (vgl. [X.], Beschluss vom 7. [X.]vember 2001 – 5 [X.], [X.]R [X.] Art. 36 Unterrichtung 1) war nicht die Polizei, sondern der in §§ 115, 115 a, 128 [X.] genannte [X.] die für die Belehrung „zuständige Behörde“ im Sinne des Art. 36 Abs. 1 lit. b [X.]. Eine bewusste Umgehung der Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] durch den Ermittlungsrichter hat der Angeklagte in der Revisionsbegründung schon nicht behauptet. Solches ist auch nicht erkennbar: Die ermittlungsrichterliche Vernehmung musste ausweislich des Protokolls des [X.] vom 21. Oktober 2001 abgebrochen werden, da der Angeklagte „wegen eines heftigen Gefühlsausbruchs (krampfartiges Weinen) nicht in der Lage war, den Termin fortzusetzen.“

(6) Schließlich kommt dem öffentlichen Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung angesichts der Schwere der hier inmitten stehenden Straftat – eines Kapitalverbrechens – besondere Bedeutung zu (vgl. [X.], Beschluss vom 31. Januar 1973 – 2 BvR 454/71, [X.]E 34, 238, 248).

e) Dass das Urteil in sonstiger Weise auf der unterbliebenen Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] beruht (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 [X.], [X.], 110 m.w.N.), kann der [X.] aus den bereits in die Abwägung eingestellten Gesichtspunkten zu den Umständen und Auswirkungen der Rechtsverletzung ausschließen. Für ein Beruhen ist nichts ersichtlich, und die Revision trägt hierzu auch nichts vor.

2. Von der verhängten Freiheitsstrafe sind sechs Monate für vollstreckt zu erklären.

a) Allerdings kommt eine Kompensation des Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] nach der sog. „[X.]“ (vgl. [X.] – Großer [X.] für Strafsachen –, Beschluss vom 17. Januar 2008, [X.], 124) nicht in Betracht.

Die Entscheidung des [X.] vom 25. September 2007, für den Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] eine Kompensation zu gewähren, bindet den [X.] nicht; das [X.] hat diese Revisionsentscheidung in vollem Umfang aufgehoben ([X.], Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 211), also keine Teilrechtskraft herbeigeführt (vgl. dazu [X.], Urteil vom 27. August 2009 – 3 [X.], [X.]St 54, 135; Beschluss vom 21. Dezember 2010 – 2 [X.]). Der [X.] neigt der Auffassung des 3. Strafsenats aus dem Urteil vom 20. Dezember 2007 (3 [X.], [X.], 110, 118; vgl. auch [X.], Beschluss vom 10. Dezember 2008 – 2 [X.]) zu, dass eine solche Kompensation generell ausscheidet. Dies braucht der [X.] aber nicht zu entscheiden. Für eine Kompensation fehlt vorliegend bereits deshalb ein Anknüpfungspunkt, weil die Abwägung zur Frage nach einem Beweisverwertungsverbot und die Prüfung zum Beruhen im Übrigen ergeben haben, dass dem Angeklagten im konkreten Fall ein Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des [X.] nicht entstanden ist (vgl. [X.], Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210 m.w.N.).

b) Eine Kompensation nach der „[X.]“ ist jedoch für eine – von Amts wegen zu beachtende ([X.], [X.], 53. Aufl., Art. 6 [X.] Rn. 9c m.w.N.) – der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung nach Erlass des tatrichterlichen Urteils zu gewähren.

aa) Eine solche sieht der [X.] für den [X.]raum ab der zweiten Revisionsentscheidung des [X.] vom 25. September 2007 als gegeben an. Dabei kann der [X.] offen lassen, ob und inwieweit grundsätzlich die Dauer des – vorliegend ohne offensichtliche Verzögerung durchgeführten ([X.], Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208) – Rechtsmittelverfahrens sowie die Dauer eines [X.]s bei der Bestimmung der für die Beurteilung einer Verzögerung maßgeblichen Verfahrensdauer mit einzubeziehen sind (zum [X.] vgl. [X.], Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Verfahrensverzögerung daraus, dass trotz der vom [X.] mit Beschluss vom 19. September 2006 dargelegten Anforderungen bei der Prüfung der Folgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] der [X.] die Reichweite des Gebotes zur Beachtung der Rechtsprechung des [X.] erneut in einer die Grundrechte des Angeklagten beeinträchtigenden Weise unbeachtet gelassen hat. Diesen Umstand hat auch der Angeklagte in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2011 hervorgehoben. Die dadurch eingetretene Verzögerung des Verfahrens, die sich über das neuerliche [X.] und das nach Aufhebung und Zurückverweisung erforderliche weitere Revisionsverfahren vor dem [X.] erstreckt, begründet daher einen Kompensationsanspruch aus Art. 13 [X.] (vgl. [X.], Beschluss vom 15. Januar 2009 – 4 StR 537/08, [X.], 241, zur überlangen Verfahrensdauer bei zweimaliger Aufhebung des landgerichtlichen Urteils durch den [X.]).

[X.]) Nach der Rechtsprechung des [X.] ist die Kompensation nicht mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen, sondern hat nach den Umständen des Einzelfalles grundsätzlich einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu betragen (vgl. nur [X.], Urteil vom 9. Oktober 2008 – 1 [X.], [X.], 633 m.w.N.). Danach ist vorliegend eine Kompensation von sechs Monaten insbesondere angesichts einer Verzögerung von etwa vier Jahren, die der Angeklagte nach seiner Entlassung aus der Haft am 10. Juni 2008 weitgehend in Freiheit verbracht hat, sowie angesichts der bei der Beurteilung der Verfahrensverzögerung zu berücksichtigenden besonderen Rolle des [X.]s im innerstaatlichen Rechtssystem (EGMR, Urteile vom 22. Januar 2009 – 45749/06 und 51115/06, [X.], 561, 562, und vom 25. Februar 2000 – 29357/95, NJW 2001, 211) an sich deutlich überhöht. An einer Kompensation in geringerem Umfang sieht sich der [X.] jedoch durch das Verbot der reformatio in peius gehindert. Zwar gilt das [X.] des § 358 Abs. 2 Satz 1 [X.] für den Fall der Aufhebung einer Revisionsentscheidung durch das [X.] nicht unmittelbar; § 79 Abs. 1 [X.]G sieht jedoch die Möglichkeit eines [X.] gegen ein rechtskräftiges Urteil vor, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 [X.]G für nichtig erklärten [X.]rm oder auf der Auslegung einer [X.]rm beruht, die vom [X.] für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Zur Durchführung des [X.] verweist § 79 Abs. 1 [X.]G auf die Vorschriften der [X.], mithin auch auf das [X.] des § 373 Abs. 2 Satz 1 [X.]. Wenn dieses Verbot aber schon dort gilt, wo das [X.] die dem Strafurteil die Grundlage entziehende Entscheidung in einem anderen Verfahren trifft, so muss es erst recht zum Tragen kommen, wenn das [X.] die fachgerichtliche Entscheidung unmittelbar aufhebt.

[X.] hindert den [X.] nicht, eine Kompensation für den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 [X.] nunmehr zu versagen. Es verhindert lediglich eine dem Angeklagten nachteilige Änderung in Art und Höhe der Rechtsfolgen, nicht jedoch eine Änderung der diesen zugrunde liegenden rechtlichen Beurteilung.

c) Eine neben die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung tretende Berücksichtigung der seit Tatbegehung vergangenen [X.] bei der Strafzumessung und infolge dessen die Aufhebung des Strafausspruchs ist vorliegend nicht geboten.

aa) Allerdings hat der 3. Strafsenat des [X.] (Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 [X.], [X.], 638) in einem Fall, in dem eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von etwa drei Jahren im Revisionsverfahren durch Verlust der Akten aufgetreten war, die Sache nicht nur wegen einer vom Tatrichter vorzunehmenden Kompensation zurückverwiesen, sondern auch im – für sich genommen nicht rechtsfehlerhaften – Strafausspruch aufgehoben, weil der lange [X.]raum zwischen Tat und Urteil wegen der konkreten Belastungen für den Angeklagten bereits im Rahmen der Straffindung zu berücksichtigen sei. Mit Beschlüssen vom 15. März 2011 – 1 [X.] und 1 [X.] – hat der 1. Strafsenat des [X.] in der durch ein Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 132 [X.] bestimmten, nicht rechtsstaatswidrig verzögerten Dauer des Revisionsverfahrens einen bestimmenden Strafzumessungsgrund erblickt und die vom Tatrichter rechtsfehlerfrei bemessenen Einzelstrafen wie auch die Gesamtstrafe aufgehoben.

[X.]) Der [X.] braucht nicht zu entscheiden, ob er dieser – im Hinblick auf § 337 [X.] nicht unbedenklichen – Auffassung folgt. Der vorliegend inmitten stehende Sachverhalt weicht von den den genannten Entscheidungen zugrunde liegenden Fallgestaltungen in wesentlichen Punkten erheblich ab. Zum einen betreffen jene Entscheidungen Fälle, in denen die Verzögerung im Rahmen des Revisionsverfahrens auftraten, während vorliegend die beiden – besonders zu beurteilenden (vgl. oben III. 2. b) [X.])) – [X.] etwa zwei Drittel der Verfahrensdauer ausmachen. In diesen [X.]räumen schwebte das Verfahren jeweils zunächst nicht mehr, sondern war rechtskräftig abgeschlossen, was u.a. im Hinblick auf die [X.] des insoweit nicht den Beschränkungen der Untersuchungshaft unterworfenen Angeklagten von Belang ist. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die – von der Strafzumessung im engeren Sinne zu unterscheidende, aber mit ihr verschränkte (so auch [X.], Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 [X.], aaO) – Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu hoch bemessen ist. Nach Auffassung des [X.]s tritt daher das [X.]moment im konkreten Fall eines schweren und vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB mit einer 30jährigen Verjährungsfrist versehenen Kapitaldelikts als Strafzumessungsgesichtspunkt in den Hintergrund. Keinesfalls handelt es sich bei der hier gegebenen besonderen Sachlage um einen bestimmenden Strafzumessungsgrund.

3. [X.] beruht auf § 473 Abs. 4 [X.]. Angesichts des nur geringen Teilerfolges der Revision erscheint es nicht unbillig, den Angeklagten mit den vollen Kosten des Revisionsverfahrens zu belasten.

[X.]

                         Mutzbauer                                              Bender

Meta

4 StR 643/10

07.06.2011

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend BVerfG, 8. Juli 2010, Az: 2 BvR 2485/07

Art 36 Abs 1 Buchst b S 3 KonsÜbk Wien

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.06.2011, Az. 4 StR 643/10 (REWIS RS 2011, 6004)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6004


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 1579/11

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1579/11, 05.11.2013.


Az. 4 StR 643/10

Bundesgerichtshof, 4 StR 643/10, 07.06.2011.


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2 BvR 2485/07, 2 BvR 2513/07, 2 BvR 2548/07 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Zu innerstaatlichen Konsequenzen einer Verletzung von Pflichten gem Art 36 Abs 1 …


1 StR 273/07 (Bundesgerichtshof)


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