Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.07.2022, Az. XII ZB 571/21

12. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 3670

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Gegenstand

Vorrang des Beschlussergänzungsverfahrens bei vorangegangener fehlerhafter Endentscheidung


Leitsatz

Hat das Gericht das Rechtsschutzbegehren eines Beteiligten aufgrund von Rechtsirrtum oder Missverständnis unrichtig und zu eng ausgelegt, mit der Beschlussformel aber gleichwohl über das gesamte Rechtsschutzbegehren des Beteiligten erschöpfend entschieden und seine Instanz als erledigt betrachtet, liegt keine verdeckte, über § 43 FamFG zu korrigierende Teilentscheidung, sondern eine fehlerhafte Endentscheidung vor, die nur mit den zulässigen Rechtsmitteln angegriffen werden kann (im Anschluss an BGH Urteil vom 27. November 1979 - VI ZR 40/78, NJW 1980, 840).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der weiteren Beteiligten zu 1 wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des [X.] vom 9. Dezember 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als darin die Beschwerde der weiteren Beteiligten zu 1 gegen die Ablehnung der Bestellung eines Kontrollbetreuers zurückgewiesen worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird das Verfahren zur weiteren Behandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Eine Wertfestsetzung (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.

Gründe

I.

1

Die Beteiligte zu 1 ist die Tochter der 1936 geborenen Betroffenen. Die Betroffene lebt bei ihrem [X.] (Beteiligter zu 2) und ihrer Schwiegertochter (Beteiligte zu 3), denen sie umfassende Vollmachten erteilt hat. Im Zeitraum zwischen Dezember 2020 und August 2021 erhielt die Betroffene nach ärztlicher Verordnung und mit Einwilligung der Bevollmächtigten zeitweise das antipsychotische Medikament [X.].

2

Mit [X.] vom 17. Februar 2021 stellte die Beteiligte zu 1 den Antrag, den beiden Bevollmächtigten die Verabreichung von [X.] an die Betroffene ohne Genehmigung des Betreuungsgerichts zu untersagen. Am Ende dieses Schriftsatzes regte die Beteiligte zu 1 die Einrichtung einer Betreuung für die Betroffene an, die auch den Aufgabenkreis des Widerrufs der zugunsten der Beteiligten zu 2 und 3 erteilten Vollmachten umfassen sollte. Mit weiterem Schriftsatz vom 9. April 2021 „konkretisierte“ die Beteiligte zu 1 ihren Antrag dahingehend, dass die Einwilligung der Bevollmächtigten für die Verabreichung von [X.] an die Betroffene nach ärztlicher Verordnung durch das Betreuungsgericht zu genehmigen sei. Das Amtsgericht hat „die Anträge aus den Schriftsätzen vom 17. Februar 2021 und 9. April 2021“ mit Beschluss vom 22. September 2021 zurückgewiesen und ausgeführt, dass allein das geringfügig erhöhte Schlaganfallrisiko bei älteren Menschen durch die Gabe von [X.] keine begründete Gefahr des Todes oder schwerer und länger dauernder Gesundheitsschäden im Sinne von § 1904 Abs. 1 und 5 BGB darstelle. Eine erneute Prüfung der Einrichtung einer Betreuung scheide aus, weil eine nicht ordnungsgemäße Ausübung der Vollmacht durch die Beteiligten zu 2 und 3 nicht erkennbar sei.

3

Die dagegen gerichtete Beschwerde der Beteiligten zu 1 hat das [X.] mit Beschluss vom 9. Dezember 2021 zurückgewiesen und dies wie folgt begründet: Der Antrag vom 17. Februar 2021 sei im Betreuungsverfahren bereits unstatthaft, weil einer möglicherweise rechtswidrigen Gabe von Medikamenten nur zivilrechtlich entgegengewirkt werden könne. Für den Antrag vom 9. April 2021 sei nachträglich das Rechtsschutzbedürfnis entfallen, nachdem die Betroffene seit August 2021 kein [X.] mehr erhalte.

4

Hiergegen wendet sich die Beteiligte zu 1 mit der Rechtsbeschwerde. Sie beanstandet, dass die Bestellung eines Kontrollbetreuers für die Betroffene unterblieben sei und das [X.] die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen habe.

II.

5

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

6

1. Die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 1 ist zulässig.

7

a) Sie ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG auch ohne Zulassung statthaft, denn sie betrifft eine Betreuungssache zur Bestellung eines Betreuers.

8

aa) Das Amtsgericht hat in seinem Beschluss vom 22. September 2021 nicht allein über die Begehren der Beteiligten zu 1 entschieden, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Verabreichung des Medikaments [X.] an die Betroffene stehen. Es hat sich in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich auch mit der Frage befasst, ob wegen eines vermeintlichen Vollmachtmissbrauchs durch die Beteiligten zu 2 und 3 ein Kontrollbetreuungsverfahren für die Betroffene einzuleiten sei, und hierfür keine genügende Veranlassung gesehen. Mit seiner Entscheidung, „die Anträge aus den Schriftsätzen vom 17. Februar 2021 und 9. April 2021“ zurückzuweisen, hat das Amtsgericht deshalb bei einer die Entscheidungsgründe berücksichtigenden Auslegung der [X.] auch die Betreuungsanregung der Beteiligten zu 1 aus dem Schriftsatz vom 17. Februar 2021 ablehnend beschieden.

9

bb) In ihrem Beschwerdeschriftsatz vom 21. Oktober 2021 hat die Beteiligte zu 1 beantragt, die angefochtene Entscheidung „aufzuheben und gemäß den Anträgen der ersten Instanz zu entscheiden“. Zwar wird die Begründung der Beschwerde damit eingeleitet, dass die Beteiligte zu 1 „mit ihrem Antrag … die Erteilung einer Genehmigung des Betreuungsgerichts gemäß § 1904 Abs. 1 BGB“ für die Gabe von Neuroleptika verfolge. Die Rechtsbeschwerde weist aber zurecht darauf hin, dass sich der siebzehnseitige Beschwerdeschriftsatz auf den letzten vier Seiten überwiegend mit der Ausübung der Vollmacht durch die Beteiligten zu 2 und 3 befasst und in diesem Zusammenhang die auf die Vollmachtsausübung bezogenen Erwägungen des Amtsgerichts als „nicht nachvollziehbar“ beanstandet werden. Unter diesen Umständen durfte das Beschwerdegericht nicht davon ausgehen, dass das [X.] der Beteiligten zu 1 im Beschwerdeverfahren nur (noch) darauf beschränkt war, die Verabreichung von [X.] an die Betroffene untersagen zu lassen bzw. über die Genehmigungsbedürftigkeit der Medikamentengabe zu entscheiden. Vielmehr war auch die von der Beteiligten zu 1 erstrebte Bestellung eines Kontrollbetreuers für die Betroffene (weiterhin) Gegenstand des Verfahrens.

b) Der Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde steht auch der grundsätzliche Vorrang des [X.] gemäß § 43 FamFG nicht entgegen.

Der Anwendungsbereich von § 43 FamFG ist unter den hier obwaltenden Umständen nicht eröffnet. Eine Beschlussergänzung nach § 43 Abs. 1 FamFG erfordert, dass ein Antrag oder ein [X.] eines Beteiligten ganz oder teilweise übergangen, das heißt versehentlich nicht beschieden worden ist. Ein Antrag ist nicht im Sinne von § 43 Abs. 1 FamFG übergangen, wenn er deshalb nicht beschieden wurde, weil er nach der (irrigen) Auffassung des Gerichts überhaupt nicht rechtshängig war. Hat demnach das Gericht das [X.] eines Beteiligten aufgrund von Rechtsirrtum oder Missverständnis unrichtig und zu eng ausgelegt, mit der [X.] aber gleichwohl über das gesamte [X.] des Beteiligten erschöpfend entschieden und seine Instanz als erledigt betrachtet, liegt keine verdeckte, über § 43 FamFG zu korrigierende Teilentscheidung, sondern eine fehlerhafte Endentscheidung vor, die nur mit den zulässigen Rechtsmitteln angegriffen werden kann ([X.] Urteil vom 27. November 1979 - [X.] - NJW 1980, 840 f.; [X.], 236, 242, jeweils zu § 321 ZPO; vgl. BVerwG NVwZ 1994, 1117, 1118 zu § 120 VwGO).

So liegt der Fall auch hier. Der angefochtene Beschluss verhält sich sowohl im Tatbestand als auch in den Entscheidungsgründen ausschließlich zu den Fragen, ob das Betreuungsgericht die Gabe von Neuroleptika untersagen kann und ob die Voraussetzungen des § 1904 BGB für eine betreuungsrechtliche Genehmigung der Medikamentengabe vorliegen. Demgegenüber lassen sich der Entscheidung keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass das Beschwerdegericht auch die Entscheidung über die Einleitung eines [X.] als Verfahrensgegenstand des Beschwerdeverfahrens betrachtet haben könnte. Mit der vollständigen Zurückweisung der Erstbeschwerde hat das Beschwerdegericht gleichwohl in der [X.] den gesamten Verfahrensgegenstand beschieden.

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung ist entgegen § 72 Abs. 3 FamFG iVm § 547 Abs. 1 Nr. 6 ZPO nicht mit Gründen versehen, soweit die Beschwerde der Beteiligten zu 1 auch wegen der von ihr beanstandeten Nichtbestellung eines Kontrollbetreuers zurückgewiesen worden ist. Insoweit ist die Beschwerdeentscheidung wegen Vorliegens eines absoluten [X.] ohne Sachprüfung aufzuheben und das Verfahren im Umfang der Aufhebung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen.

Dose     

      

Schilling     

      

Günter

      

Nedden-Boeger     

      

Botur     

      

Meta

XII ZB 571/21

06.07.2022

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Trier, 9. Dezember 2021, Az: 6 T 68/21

§ 43 Abs 1 FamFG, § 70 Abs 3 S 1 Nr 1 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.07.2022, Az. XII ZB 571/21 (REWIS RS 2022, 3670)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 3670 MDR 2022, 1176 REWIS RS 2022, 3670

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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