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Haftung bei Kfz-Unfall: Anwendbarkeit eines Anscheinsbeweises bei Auffahrunfall auf der Autobahn
Bei Auffahrunfällen auf der Autobahn ist ein Anscheinsbeweis regelmäßig nicht anwendbar, wenn zwar feststeht, dass vor dem Unfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist.
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des [X.] vom 18. Juni 2010 aufgehoben.
Die Berufung des [X.] gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des [X.] vom 30. Oktober 2009 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Rechtsmittelverfahren trägt der Kläger.
Von Rechts wegen
Die Parteien streiten um den Ersatz des dem Kläger entstandenen Schadens aus einem Auffahrunfall auf der linken Spur einer Autobahn. Der Kläger ist Eigentümer eines PKW [X.], der zum Unfallzeitpunkt von der [X.] zu 2 gefahren wurde und bei der [X.] zu 3 haftpflichtversichert ist. Der Beklagte zu 1 war zum Unfallzeitpunkt Halter und Fahrer eines PKW [X.], der bei der [X.] zu 2 haftpflichtversichert ist.
Am 25. Mai 2007 fuhr der PKW [X.] auf der [X.] auf der linken Spur auf den PKW [X.] auf, der einen LKW überholen wollte. Der Kläger und die [X.] haben vorgetragen, dass sich der PKW [X.] mit überhöhter Geschwindigkeit genähert habe und der mit einer Geschwindigkeit von 100 bis 110 km/h fahrende PKW [X.] sich bereits 100 bis 150 m vor Erreichen des LKWs vollständig auf der linken Spur eingeordnet habe. Die Kollision habe stattgefunden, als sich der PKW [X.] auf gleicher Höhe mit dem LKW befunden habe. Nach der Darstellung der [X.] hat der PKW [X.], als der LKW noch mindestens 500 m von diesem entfernt gewesen sei, kurz bevor der PKW [X.] den PKW [X.] habe passieren können, völlig unerwartet und ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu setzen auf die linke Spur gezogen.
Das [X.] ist von einem Haftungsanteil der beiden Unfallbeteiligten von jeweils 50 % ausgegangen und hat den jeweils geltend gemachten Schaden insoweit in einer in den Rechtsmittelverfahren nicht mehr angegriffenen Schadenshöhe für erstattbar gehalten. Auf die nur vom Kläger eingelegte Berufung hat das [X.] dem Kläger Schadensersatz zu 100 % zugesprochen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision beantragen die [X.], die Berufung des [X.] zurückzuweisen.
I.
Das Berufungsgericht hat gemäß den Feststellungen des [X.] den [X.] als nicht im Einzelnen aufklärbar angesehen. Das Gericht habe sich weder davon überzeugen können, dass der Unfall durch einen der beiden Fahrer verschuldet noch für eine der beiden Seiten ein unabwendbares Ereignis gewesen sei. Aus den Angaben des Sachverständigen ergebe sich nur, dass der [X.] nahezu geradlinig mit paralleler Längsachse auf das Heck des [X.] aufgeprallt und der [X.] mindestens beim Kollisionsphasenbeginn vollständig abgeschlossen gewesen sei. Die [X.] habe zwischen 20 bis 30 km/h gelegen. Mangels objektiver Spuren ließen sich weder die Ausgangsgeschwindigkeiten der Fahrzeuge rekonstruieren noch die zeitliche Abfolge zwischen Ausscheren und Auffahren.
Bei dem hier vorliegenden unmittelbar vor dem Aufprall abgeschlossenen Spurwechsel liege eine Typizität der [X.] vor, die die Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten des [X.] - auch hinsichtlich des Vorliegens eines unabwendbaren Ereignisses für den Vorausfahrenden - rechtfertige.
II.
Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sind die Grundsätze des Anscheinsbeweises im Streitfall nicht zu Lasten der Beklagten anwendbar.
1. Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (vgl. Senatsurteile vom 24. März 1959 - [X.], [X.], 518, 519; vom 19. November 1985 - [X.], [X.], 343, 344; vom 19. März 1996 - [X.], [X.], 772; vom 16. Januar 2007 - VI ZR 248/05, [X.], 557 Rn. 5; vom 30. November 2010 - [X.], [X.], 234 Rn. 7). Demnach kann bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des [X.] sprechen (vgl. Senatsurteil vom 30. November 2010 - [X.], aaO mwN). Es reicht allerdings allein das "Kerngeschehen" - hier: Auffahrunfall - als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des [X.] bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des [X.] der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1985 - [X.], aaO; vom 19. März 1996 - [X.], aaO).
2. Infolgedessen ist es bei Auffahrunfällen wie dem vorliegenden (Auffahren auf der linken Spur einer Autobahn in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel des Vorausfahrenden) umstritten, ob es sich um eine typische [X.] mit der Folge eines Anscheinsbeweises zu Lasten des [X.] handelt oder nicht.
a) Das Berufungsgericht und ein Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten die Auffassung, dass nur die seitens des [X.] bewiesene ernsthafte Möglichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des [X.] gewechselt sei, den grundsätzlich gegebenen Anscheinsbeweis erschüttern könne (vgl. etwa [X.], [X.], 127; [X.], [X.] 2005, 813, 814 und 2009, 636, 638; [X.], [X.] 2009, 175 f.; KG, NJW-RR 2011, 28). Zeige das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so könne sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung der lediglich theoretischen Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs entlasten mit der Folge, dass es Sache des Vorausfahrenden sei, den theoretisch in Betracht kommenden [X.] im Sinne einer beweisrechtlichen "Vorleistung" auszuschließen (vgl. [X.], [X.] 2005, 813, 814; KG, [X.], 458, 459). Vielmehr müssten sich aus den unstreitigen oder bewiesenen Umständen zumindest konkrete Anhaltspunkte und Indizien für den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem behaupteten Fahrspurwechsel und dem Auffahrunfall ergeben, um den gegen den [X.] sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern (vgl. [X.], aaO). Auch nach der im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung greift der Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen nur dann nicht zu Lasten des [X.] ein, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen feststeht oder unstreitig ist, dass der Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall erfolgt ist (vgl. Burmann in Burmann/[X.]/[X.]/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 4 [X.] Rn. 24; Buschbell/Buschbell, [X.] [X.] Straßenverkehrsrecht, 3. Aufl., § 23 Rn. 284; [X.] in [X.]/[X.]/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 4 [X.] Rn. 35 f.; [X.]/[X.], [X.], 26. Aufl., [X.]. 27 Rn. 149).
b) Ein anderer Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung verneint bei Auffahrunfällen auf der Autobahn bereits einen Anscheinsbeweis für das Verschulden des [X.] und nimmt - in der Regel - eine hälftige Schadensteilung an, wenn vor dem Auffahren ein Fahrspurwechsel stattgefunden hat, aber streitig und nicht aufklärbar ist, ob die Fahrspur unmittelbar vor dem Anstoß gewechselt worden ist und sich dies unfallursächlich ausgewirkt hat. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Zusammenstoß mit einem vorausfahrenden Fahrzeug nur dann das typische Gepräge eines Auffahrunfalls trage, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf zu schnelles Fahren, mangelnde Aufmerksamkeit und/oder einen unzureichenden Sicherheitsabstand des [X.] zulasse, wenn feststehe, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können und es dem [X.] möglich gewesen sei, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen bzw. einzuhalten (vgl. etwa [X.], [X.], 152, 153; [X.], NJW-RR 2003, 809, 810; [X.], [X.] 2004, 82, 83; KG, [X.], 157; KG, [X.], 374, 375; KG, [X.], 198, 199; [X.], Urteil vom 4. September 2009 - 10 U 3291/09, juris, Rn. 21; [X.], [X.], 1236, 1237; [X.], Urteil vom 14. April 2010 - 3 U 3/10, juris Rn. 14; [X.], Urteil vom 30. Oktober 2006 - 644 [X.], juris Rn. 30 ff.).
3. a) Bei der Anwendung des Anscheinsbeweises ist nach Auffassung des erkennenden Senats grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil er es erlaubt, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist (vgl. [X.], [X.], 129, 130; [X.]/[X.], ZPO, 4. Aufl., § 286 Rn. 39; [X.]/[X.], ZPO, 29. Aufl., vor § 284 Rn. 29). Deswegen kann er nach den oben unter 1. dargelegten Grundsätzen nur Anwendung finden, wenn das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet wird, schuldhaft gehandelt hat (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1985 - [X.], aaO; vom 19. März 1996 - [X.], aaO). Eine solche Typizität liegt bei dem hier zu beurteilenden Geschehensablauf regelmäßig nicht vor, wenn zwar feststeht, dass vor dem Auffahrunfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist und - wie hier - nach den Feststellungen des Sachverständigen sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 [X.] den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat, als auch die Möglichkeit, dass der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist. Beide Varianten kommen wegen der bekannten Fahrweise auf den Autobahnen als mögliche Geschehensabläufe in Betracht, zumal es nach der Lebenserfahrung nicht fernliegend ist, dass es auf Autobahnen zu gefährlichen Spurwechseln kommt, bei denen die Geschwindigkeit des folgenden Fahrzeugs unterschätzt wird. Infolgedessen kann regelmäßig keine der beiden Varianten alleine als der typische Geschehensablauf angesehen werden, der zur Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten eines der Beteiligten führt.
b) Im Streitfall liegen auch keine besonderen Umstände vor, die die Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten des [X.] rechtfertigten. Der Sachverständige hat die verschiedenen Möglichkeiten berücksichtigt und ist insbesondere auch bei Zugrundelegung dessen, dass der [X.] nahezu geradlinig mit paralleler Längsachse auf das vorausfahrende Fahrzeug aufprallte, bei Zugrundelegung der [X.] von mindestens 20 km/h bis maximal 30 km/h beim Kollisionsphasenbeginn sowie der unterschiedlichen Darlegungen der Parteien zum Geschehensablauf zu dem Ergebnis gekommen, dass sich der Sachverhalt nicht weiter aufklären lässt und beide Möglichkeiten des Geschehensablaufs in Betracht kommen. Unter diesen Umständen hat das [X.] anders als das Berufungsgericht zu Recht einen Anscheinsbeweis sowohl zu Lasten des [X.] als auch der Beklagten verneint. In solchen Fällen ist nicht von dem Erfahrungssatz auszugehen, dass der Auffahrende den Unfall infolge zu hoher Geschwindigkeit, Unaufmerksamkeit und/oder unzureichendem Sicherheitsabstand verschuldet hat. Ebenso nahe liegt der Schluss, dass der auf die linke Spur gewechselte Fahrzeugführer gegen die hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 [X.] verstoßen hat und sich der auffahrende Fahrzeugführer nicht mehr auf die vorangegangene Fahrbewegung hat einstellen und den Sicherheitsabstand einhalten können.
4. Nach allem hat das [X.] zu Recht sowohl einen Anscheinsbeweis zu Lasten des [X.] als auch zu Lasten der Beklagten verneint. Auf der Grundlage der Nichterweislichkeit des genauen Unfallhergangs ist aus revisionsrechtlicher Sicht auch nicht zu beanstanden, dass das [X.] eine hälftige Schadensteilung vorgenommen hat. Das Berufungsurteil ist mithin aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des [X.] zurückzuweisen, weil die Sache endentscheidungsreif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).
5. [X.] beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Galke Zoll Wellner
[X.][X.]
Meta
13.12.2011
Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat
Urteil
Sachgebiet: ZR
vorgehend OLG Nürnberg, 18. Juni 2010, Az: 5 U 2335/09, Urteil
§ 7 Abs 1 StVG, § 17 Abs 1 StVG, § 18 Abs 1 StVG, § 18 Abs 3 StVG, § 286 ZPO, § 7 Abs 5 StVO
Zitiervorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 13.12.2011, Az. VI ZR 177/10 (REWIS RS 2011, 543)
Papierfundstellen: REWIS RS 2011, 543
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
VI ZR 177/10 (Bundesgerichtshof)
VI ZR 15/10 (Bundesgerichtshof)
Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfall: Auffahrunfall beim Verlassen der Autobahn
VI ZR 15/10 (Bundesgerichtshof)
7 U 100/17 (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht)
VI ZR 32/16 (Bundesgerichtshof)
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