Bundesfinanzhof, Urteil vom 24.11.2021, Az. I R 6/21

1. Senat | REWIS RS 2021, 854

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Beiladung von Religionsgemeinschaften in kirchenrechtlichen Abgabenangelegenheiten (§ 3 AGFGO BW)


Leitsatz

NV: Wird eine nach § 160 FGO i.V.m. § 3 AGFGO BW gesetzlich angeordnete Beiladung im finanzgerichtlichen Verfahren unterlassen, liegt eine von Amts wegen zu beachtende Verletzung der Grundordnung des Verfahrens vor. Dieser Verfahrensfehler kann im Revisionsverfahren nicht nach § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO geheilt werden.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 05.01.2021 - 10 K 1662/20 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist, ob eine bestandskräftige Kirchensteuerfestsetzung nach § 175b der Abgabenordnung in der im Jahr 2017 (Streitjahr) geltenden Fassung ([X.]) aufgehoben werden kann.

2

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) trat am 22.12.2014 auf Grund einer Erklärung gegenüber dem Standesamt der [X.] (Inland) aus der [X.] aus. Die Meldebehörde teilte dies gemäß § 39e Abs. 2 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) dem [X.] am 23.12.2014 mit Wirkung zum 01.01.2015 elektronisch mit.

3

Im Streitjahr erzielte der Kläger gewerbliche Einkünfte und gab hierfür eine von seinem Steuerberater erstellte und elektronisch eingereichte Einkommensteuererklärung ab. In dieser erklärte er, wie in den Vorjahren, dass er Mitglied der [X.] sei.

4

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt --[X.]--) setzte mit Bescheid vom 01.08.2019 gegenüber dem Kläger [X.] Kirchensteuer für das Streitjahr in Höhe von ... € fest. Der an den Steuerberater des [X.] bekanntgegebene Bescheid wurde bestandskräftig. Die festgesetzte Höhe der Kirchensteuer änderte sich auch nicht durch am 25.02.2020 und 21.04.2020 ergangene geänderte Steuerbescheide.

5

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 16.04.2020, die Kirchensteuerfestsetzung gemäß § 175b [X.] aufzuheben; dies lehnte das [X.] mit Schreiben vom 20.04.2020 ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch und die Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht ([X.]) [X.] hat sie mit Gerichtsbescheid vom 05.01.2021 - 10 K 1662/20 (Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2021, 1689) als unbegründet abgewiesen.

6

Mit der vom [X.] zugelassenen Revision rügt der Kläger im Wesentlichen eine Verletzung des § 175b [X.].

7

Er beantragt, den angegriffenen Gerichtsbescheid sowie den Ablehnungsbescheid vom 20.04.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.06.2020 aufzuheben und das [X.] zu verpflichten, die Festsetzung der Kirchensteuer 2017 in Höhe von ... € aufzuheben.

8

Das [X.] hat keinen Antrag gestellt. Es hält indes die Entscheidung der Vorinstanz für fehlerfrei.

Entscheidungsgründe

II.

9

Die Revision des [X.] ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat es verfahrensfehlerhaft unterlassen, die [X.] Kirche beizuladen. Eine unterbliebene notwendige Beiladung stellt einen vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfenden Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar (vgl. Senatsurteil vom 27.09.2017 - I R 62/15, [X.], 620, m.w.N.).

1. a) Wird eine Abgabe für einen anderen Abgabenberechtigten verwaltet, kann dieser nicht deshalb beigeladen werden, weil seine Interessen als Abgabenberechtigter durch die Entscheidung berührt werden (§ 60 Abs. 2 [X.]O). Abweichend davon kann gemäß § 160 [X.]O die Beiladung durch Gesetz geregelt werden, soweit der [X.] auf Grund des § 33 Abs. 1 Nr. 4 [X.]O eröffnet ist. Auch ein Landesgesetz ist als ein solches Gesetz anzusehen [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 160 [X.]O Rz 5 und 16; [X.] in Gosch, [X.]O § 160 Rz 5).

b) In [X.] ist der [X.] in Kirchensteuerangelegenheiten gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 4 [X.]O i.V.m. § 4 des Gesetzes zur Ausführung der Finanzgerichtsordnung vom 29.03.1966 (AG[X.]O BW, Gesetz- und Verordnungsblatt [X.] 1966, 49) eröffnet (Senatsurteile vom 15.10.1997 - I R 33/97, [X.], 167, [X.] 1998, 126; vom 01.07.2009 - I R 76/08, [X.], 566, [X.] 2010, 1061). § 3 dieses Ausführungsgesetzes enthält eine Beiladungsregelung i.S. des § 160 [X.]O (vgl. [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 60 [X.]O Rz 41). Danach lädt das [X.] in kirchenrechtlichen Abgabenangelegenheiten diejenige Religionsgemeinschaft bei, deren rechtliche Interessen durch die Entscheidung als Abgabenberechtigter unmittelbar berührt werden (zur Beiladung der [X.]n Kirche vgl. z.B. [X.] [X.], Urteile vom 18.06.2012 - 10 K 3864/11, juris, Rz 38, und vom 22.07.2008 - 3 K 148/05, E[X.] 2008, 1908, Rz 17). Die Vorschrift stellt nach ihrem Wortlaut die Beiladung nicht in das Ermessen des Gerichts; vielmehr hat es die jeweils betroffene Religionsgemeinschaft zwingend, d.h. "notwendig", beizuladen.

c) Das [X.] hat im Streitfall die Beiladung der [X.]n Landeskirche unterlassen. Eine Nachholung der notwendigen Beiladung im Revisionsverfahren ist nicht möglich. Zwar lässt § 123 Abs. 1 Satz 2 [X.]O eine Nachholung unter bestimmten Voraussetzungen zu. Jedoch setzt die Regelung eine notwendige Beiladung i.S. des § 60 Abs. 3 Satz 1 [X.]O voraus, woran es im Streitfall fehlt. Denn die Religionsgemeinschaft ist lediglich in ihrer Stellung als Abgabenberechtigter wegen des Auseinanderfallens von Verwaltungs- und Ertragshoheit vom vorliegenden Rechtsstreit betroffen. § 60 Abs. 2 [X.]O enthält für diese spezielle Konstellation eine gegenüber § 60 Abs. 3 Satz 1 [X.]O vorrangige Sonderregelung, die jegliche Form der Beiladung ausschließt, solange es lediglich um das Interesse der die Ertragshoheit innehabenden Körperschaft als Abgabenberechtigter geht (Beschluss des [X.] --BFH-- vom 25.07.1995 - VII B 1/95, [X.] 1996, 155). Dass § 60 Abs. 2 [X.]O wiederum wegen einer gesetzlichen Ausnahmebestimmung (§ 160 [X.]O i.V.m. § 3 AG[X.]O BW) im Streitfall suspendiert wird, ändert an der grundsätzlichen Verdrängung des in § 60 Abs. 3 Satz 1 [X.]O geregelten [X.] nichts. Vor diesem Hintergrund kann auch dahinstehen, ob die die Ertragshoheit innehabende Religionsgemeinschaft überhaupt als Dritter i.S. des § 60 Abs. 3 Satz 1 [X.]O angesehen werden kann (vgl. [X.] in [X.] 1996, 155).

2. Für das weitere Verfahren weist der Senat aus Gründen der [X.] darauf hin, dass die Aufhebung der streitigen Kirchensteuerfestsetzung gemäß § 175b [X.] an der zeitlichen Anwendungsbestimmung scheitert.

a) Gemäß Art. 97 § 27 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung i.d.[X.] ([X.], 1679, BStBl I 2016, 694) ist § 175b [X.] erstmals anzuwenden, wenn steuerliche Daten eines Steuerpflichtigen für [X.] nach 2016 oder [X.] nach dem 31.12.2016 auf Grund gesetzlicher Vorschriften von einem Dritten als mitteilungspflichtiger Stelle elektronisch an Finanzbehörden zu übermitteln sind.

b) Für die zeitliche Anwendbarkeit der Korrekturnorm reicht es nach dem Wortlaut der Übergangsregelung nicht aus, dass irgendeine behördliche Datenübermittlung vorliegt, die in einem Steuerbescheid für [X.] nach dem [X.] ausgewertet wird. Vielmehr stellt die Regelung auf eine Übermittlungspflicht ab ("zu übermitteln sind"), die den Zeitraum nach 2016 betrifft. Selbst wenn man zugunsten der Revision davon ausginge, dass gemäß § 39e Abs. 2 Satz 2 EStG übermittelte Daten solche i.S. der §§ 93c, 175b [X.] darstellen, hatte die Meldebehörde im Streitfall ihrer Übermittlungspflicht aus § 39e Abs. 2 Satz 2 EStG für den Zeitraum ab 01.01.2015 endgültig und pflichtbeendend bereits am 23.12.2014 genügt. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber des [X.]", die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes von den Übermittlungspflichtigen erfüllt worden waren, in den Anwendungsbereich des neu geschaffenen Korrekturtatbestands des § 175b [X.] einbeziehen wollte.

3. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

4. Das Urteil ergeht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 2 [X.]O).

Meta

I R 6/21

24.11.2021

Bundesfinanzhof 1. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 5. Januar 2021, Az: 10 K 1662/20, Gerichtsbescheid

§ 33 Abs 1 Nr 4 FGO, § 60 Abs 2 FGO, § 60 Abs 3 FGO, § 123 Abs 1 S 2 FGO, § 160 FGO, § 3 FGOAG BW, Art 97 § 27 Abs 2 AOEG 1977, § 93c AO, § 175b AO, § 39e Abs 2 S 2 EStG 2009, EStG VZ 2017

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 24.11.2021, Az. I R 6/21 (REWIS RS 2021, 854)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 854

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

I R 53/10 (Bundesfinanzhof)

Ausschluss von Einwendungen gegen die Höhe von Einkünften aus Kapitalvermögen im Rahmen der Anfechtung der …


I R 29/11 (Bundesfinanzhof)

(Zuständigkeit für Änderungen von Kirchensteuerfestsetzungen in Nordrhein-Westfalen - Einwendungen gegen die Berechnung der für die …


I B 109/12 (Bundesfinanzhof)

Kircheneinkommensteuer in sog. glaubensverschiedenen Ehen


1 K 1872/18 (FG München)

Voraussetzungen des Wiedereintritts in die Evangelischlutherische, Kirche in Bayern


II R 49/10 (Bundesfinanzhof)

(Zuteilung der Identifikationsnummer und dazu erfolgte Datenspeicherung mit Grundgesetz vereinbar - Zuteilung der Identifikationsnummer kein …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.