Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 21.05.2010, Az. 2 BvR 1036/10

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2010, 6377

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erlass einer einstweiligen Anordnung - Vorläufige Untersagung der Abschiebung syrischer Asylantragsteller nach Griechenland


Tenor

Dem [X.] wird im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollziehung der Abschiebung der Antragsteller nach [X.] vorläufig untersagt.

...

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 [X.] in einem Verfahren betreffend die Überstellung zweier [X.] Asylantragsteller nach [X.] in Anwendung der Verordnung ([X.]) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 ([X.]) zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, hat Erfolg.

2

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des [X.] muss das [X.] die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. [X.] 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>; stRspr).

3

2. Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre.

4

Die Verfassungsbeschwerde kann Anlass zur Untersuchung geben, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 [X.] und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und 3 [X.] für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. [X.] 94, 49 <99 f.>) bei der Anwendung von § 34a Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des [X.]eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der Verordnung ([X.]) Nr. 343/2003 zuständigen anderen Mitgliedstaat der [X.] ist. Es könnte dabei auch zu klären sein, ob und welche Vorgaben das Grundgesetz zur Gewährung vorläufigen Schutzes für den Zeitraum trifft, den die Organe der [X.] benötigen, Erkenntnisse über für Asylsuchende bedrohliche tatsächliche oder rechtliche Defizite des Asylsystems eines Mitgliedstaats auszuwerten und erforderliche Maßnahmen durchzusetzen. Bei der Würdigung von Art. 16a Abs. 2 und Abs. 5 [X.] sowie Art. 19 Abs. 4 [X.] könnten in diesem Zusammenhang auch die Anforderungen des Rechts der [X.] zur Erhaltung und Weiterentwicklung der [X.] als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (vgl. Art. 2 4. Spiegelstrich [X.]; vgl. zur Rechtslage seit Inkrafttreten des [X.] : Art. 67 A[X.] und Art. 77 - 80 A[X.]) eine Rolle spielen, da der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Einführung von Art. 16a [X.] die Grundlage für eine [X.] Gesamtregelung der Schutzgewährung für Flüchtlinge mit dem Ziel einer Lastenverteilung zwischen den an einem solchen System beteiligten [X.] geschaffen hat (vgl. [X.] 94, 49 <85>).

5

Angesichts dieser offenen Fragen ist nicht zu erkennen, dass die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unbegründet wäre. Auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich gerichtsbekannten, umfangreichen Stellungnahmen verschiedener Organisationen zur Situation von Asylantragstellern in [X.] können die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein offensichtlich verneint werden. Allerdings sind sie angesichts des Umstands, dass die Mitgliedstaaten der [X.] durch den [X.] Gesetzgeber selbst zu sicheren Drittstaaten bestimmt worden sind (vgl. [X.] 94, 49 <88 f.>), die Vergewisserung hinsichtlich der Schutzgewährung damit durch den [X.] Gesetzgeber selbst erfolgt ist (vgl. [X.] 94, 49 <101>) und die Entscheidung nicht durch eine Rechtsverordnung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG rückgängig gemacht werden kann, auch nicht offensichtlich zu bejahen.

6

3. Bliebe den Antragstellern der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegten sie aber in der Hauptsache, könnten möglicherweise bereits mit der Abschiebung oder in ihrer Folge eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, [X.]). Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, den Antragstellern der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe, wiegen dagegen hier weniger schwer. Insbesondere widerspricht die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht unionsrechtlichen Verpflichtungen der [X.]. Eine unionsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bei Überstellungen nach der Verordnung ([X.]) Nr. 343/2003 besteht nicht. Vielmehr sieht das [X.]srecht die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung ([X.]) Nr. 343/2003 selbst vor.

7

4. Die Entscheidung über die Erstattung von Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 [X.]. Damit erledigt sich der Antrag der Antragsteller auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Meta

2 BvR 1036/10

21.05.2010

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend VG Kassel, 14. Mai 2010, Az: 3 L 629/10.KS.A, Beschluss

Art 16a Abs 2 S 1 GG, Art 16a Abs 2 S 3 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 34a Abs 2 AsylVfG 1992, § 32 Abs 1 BVerfGG, Art 19 Abs 2 S 4 EGV 343/2003, Art 20 Abs 1 Buchst e S 4 EGV 343/2003

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 21.05.2010, Az. 2 BvR 1036/10 (REWIS RS 2010, 6377)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 6377

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