Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.01.2017, Az. B 3 P 23/16 B

3. Senat | REWIS RS 2017, 16756

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Gerichtsbescheid - Unwirksamkeit der Zustellung an ein unter Betreuung stehendes volljähriges Kind - Heilung von Zustellungsmängeln - Zustellung an einen von mehreren gesetzlichen Vertretern ausreichend - Berufungseinlegung - Rechtsstreit einer prozessunfähigen Person - Genehmigung


Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 11. August 2016 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Streitig ist die Herabsetzung der Leistungen der [X.] Pflegeversicherung von der [X.] auf die [X.] ab 1.4.2012.

2

Die am 24.6.1996 geborene Klägerin ist seit ihrer Geburt körperlich und geistig behindert. Von der beklagten Pflegekasse erhielt sie ab 1.6.1998 Pflegegeld nach der [X.] (Bescheid vom [X.]). Nachdem eine Wiederholungsbegutachtung (§ 18 Abs 2 S 5 [X.]I) durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung ([X.]) auf Grund entwicklungsbedingter Fortschritte einen durchschnittlichen täglichen [X.] von nur noch 206 Minuten ergeben hatte und damit den zeitlichen Mindestwert der [X.] von 240 Minuten (§ 15 Abs 1 S 1 [X.] und [X.] [X.] [X.]I) nicht mehr erreichte (Gutachten vom 22.12.2011), hob die Beklagte den Leistungsbescheid vom [X.] mit Wirkung ab 1.4.2012 auf (§ 48 [X.]). Sie bewilligte stattdessen nur noch Pflegegeld nach der [X.] (Bescheid vom 14.3.2012, Widerspruchsbescheid vom [X.]). Die Klägerin macht geltend, tatsächlich bestehe unverändert ein täglicher [X.] von mehr als 240 Minuten, sodass der Herabstufungsbescheid aufzuheben und das Pflegegeld weiterhin nach der [X.] zu zahlen sei.

3

Im Klageverfahren wurde die Klägerin von ihren Eltern gesetzlich vertreten, und zwar zunächst auf Grund elterlicher Sorge nach § 1629 BGB und mit Eintritt der Volljährigkeit (§ 2 BGB) auf Grund ihrer Bestellung zu jeweils alleinvertretungsberechtigten Betreuern ihrer Tochter nach § 1902 BGB (Beschluss des [X.] - Betreuungsgericht - vom [X.] - 830 [X.] 289/14 -). Das [X.] hat die am 21.2.2013 erhobene Anfechtungsklage nach Beweisaufnahme abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 12.12.2014). Ausweislich der Postzustellungsurkunde ist der Gerichtsbescheid mit einem an die Klägerin adressierten Schreiben des [X.] übersandt und dem Vater der Klägerin am 10.1.2015 in der Wohnung der Familie übergeben worden (Ersatzzustellung nach § 63 [X.]G iVm § 178 Abs 1 [X.] ZPO).

4

Am 11.2.2015 ist beim [X.] ein von der Klägerin persönlich unterzeichnetes Schreiben vom 8.2.2015 eingegangen, in dem sie die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung durch das [X.] nach § 105 Abs 2 [X.]G beantragte und darauf hinwies, ein Gerichtsbescheid vom 12.12.2014 sei ihr nicht zugegangen, und zwar weder als in üblicher Schriftform abgefasstes Dokument noch in der wegen ihrer Blindheit erforderlichen barrierefreien Form als elektronisches (digitales) Dokument (§ 191a [X.]). Das [X.] hat das Schreiben - wegen der Zulässigkeit der Berufung gegen ein Urteil mit entsprechendem Inhalt (§ 105 Abs 2, § 143 [X.]G) - als Berufung angesehen und es sogleich dem L[X.] zugeleitet (§ 151 Abs 2 [X.]G). Ein zweites Schreiben vom 8.2.2015 mit gleichem Inhalt, erweitert um einen Antrag auf Akteneinsicht in barrierefreier Form (§ 191a [X.]), hat die Klägerin unmittelbar an das L[X.] gerichtet, das dort am 12.2.2015 eingegangen ist. Das L[X.] hat den Antrag der Klägerin als unzulässig verworfen (Urteil vom 11.8.2016): Über den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem [X.] nach § 105 Abs 2 [X.]G könne nur das [X.] selbst entscheiden; das L[X.] sei insoweit nicht zuständig. Eine Umdeutung des - wegen der prinzipiellen Zulässigkeit der Berufung (§ 143 [X.]G) gemäß § 105 Abs 2 [X.] [X.]G hier von vornherein ausgeschlossenen - Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung in eine Berufung scheide aus. Im Übrigen wäre eine am 11.2.2015 eingelegte Berufung aber ebenfalls unzulässig gewesen, weil die Monatsfrist (§ 151 Abs 1 [X.]G) zur Einlegung der Berufung mit Ablauf des 10.2.2015 geendet hätte, nachdem der Gerichtsbescheid vom 12.12.2014 am 10.1.2015 wirksam zugestellt worden sei.

5

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des L[X.] hat die Klägerin, vertreten durch ihren Vater als alleinvertretungsberechtigten Betreuer, Beschwerde beim B[X.] eingelegt. Sie beruft sich auf Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G).

6

II. Es kann offenbleiben, ob die Nichtzulassungsbeschwerde bereits unzulässig ist, weil die Klägerin den geltend gemachten Zulassungsgrund eines [X.] nicht formgerecht bezeichnet hat (§ 160a Abs 2 S 3 [X.]G). Auf jeden Fall ist die Beschwerde aber unbegründet und muss deshalb zurückgewiesen werden.

7

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des [X.] die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist darzulegen, dass und warum die Entscheidung des L[X.] - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht (vgl zB B[X.] Beschluss vom 26.10.2015 - [X.] [X.] 13/15 B - Juris sowie B[X.] SozR 1500 § 160a [X.]4). Gemäß § 160 Abs 2 [X.] Halbs 2 [X.]G kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 [X.]G und auf eine Verletzung des § 103 [X.]G nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das L[X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

8

1. Die Klägerin rügt die Verletzung von [X.]. Das [X.] habe den Gerichtsbescheid vom 12.12.2014 an sie persönlich und nicht, wie es erforderlich gewesen wäre, an ihren Vater und ihre Mutter als jeweils alleinvertretungsberechtigte Betreuer zugestellt (§ 170 ZPO). Ihr Vater habe den Gerichtsbescheid lediglich an ihrer Stelle entgegengenommen. Damit sei die einmonatige Berufungsfrist (§ 105 Abs 2 S 1 iVm § 151 [X.]G) - anders als vom L[X.] angenommen - nicht am 10.1.2015 in Lauf gesetzt worden. Im Berufungsverfahren habe das L[X.] alle Schriftstücke mit jeweils einem Anschreiben an die "Eheleute D. und [X.]" zugestellt und nicht, wie es erforderlich gewesen wäre, getrennt in zwei Schreiben an ihren Vater und ihre Mutter als alleinvertretungsberechtigte Betreuer. Aus den [X.] sei nicht ersichtlich, wer die Schriftstücke in Empfang genommen hat. Daher sei auch die Ladung der Betreuer zur mündlichen Verhandlung vor dem L[X.] am 11.8.2016 nicht wirksam erfolgt. Diesem Vorbringen kann kein entscheidungserheblicher Verfahrensfehler des Berufungsgerichts entnommen werden.

9

Es trifft zwar zu, dass nicht die Klägerin als [X.] hätte genannt werden dürfen (§ 182 Abs 2 [X.] ZPO), weil die Klage nicht von ihr selbst, sondern von ihren Eltern als Träger der elterlichen Sorge (§ 1629 Abs 1 BGB) erhoben und nach Eintritt der Volljährigkeit der Klägerin (24.6.2014) als jeweils alleinvertretungsberechtigte Betreuer (§ 1902 BGB) verfahrensmäßig weiterbetrieben worden ist (demgemäß musste der Gerichtsbescheid auch nicht in einer für die blinde Klägerin ohne fremde Hilfe wahrnehmbaren Form zugestellt werden, vgl B[X.] SozR 4-1500 § 72 [X.] 4). Es fehlt jedoch die Darstellung, weshalb keine Heilung des Zustellungsmangels eingetreten sein kann. Nach § 63 Abs 1 S 1 iVm § 105 Abs 2 S 1 [X.]G sind Gerichtsbescheide den Beteiligten zuzustellen. Zugestellt wird gemäß § 63 Abs 2 S 1 [X.]G von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung. Nach § 189 ZPO ist eine Heilung von [X.] möglich: "Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender [X.] zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist." Die Vorschrift ist nach ihrem Sinn und Zweck weit auszulegen ([X.], 417; Hüßtege in [X.], ZPO, 37. Aufl 2016, § 189 Rd[X.] 2 und 3).

Die Zustellung des [X.] an die unter Betreuung stehende Klägerin (§ 1902 BGB) war nach § 170 Abs 1 [X.] ZPO unwirksam, weil die Klägerin nach § 71 Abs 6 [X.]G iVm § 53 ZPO einer nicht prozessfähigen Person in dem von ihren Eltern als Betreuern betriebenen Klageverfahren gleichstand. Bei nicht prozessfähigen Personen ist an ihren gesetzlichen Vertreter zuzustellen (§ 170 Abs 1 S 1 ZPO). Überdies regelt § 170 Abs 3 ZPO, dass bei mehreren gesetzlichen Vertretern die Zustellung an einen von ihnen genügt. Die Vorschrift ist auf Eltern als gesetzliche Vertreter ihrer minderjährigen Kinder unmittelbar anwendbar, was aus § 1629 Abs 1 [X.] BGB abgeleitet wird (Stöber in [X.], ZPO, 31. Aufl 2016, § 170 Rd[X.] 6; [X.]/[X.]/[X.]/[X.], ZPO, 75. Aufl 2017, § 170 Rd[X.] 6 mwN) und ist auf Eltern entsprechend anzuwenden, wenn sie als Betreuer ihrer volljährig gewordenen Kinder fungieren und für ein Kind gemeinsam einen Rechtsstreit führen. Die Zustellung vom 10.1.2015 ist somit gegenüber dem Vater der Klägerin als alleinvertretungsberechtigtem Betreuer nach § 189 ZPO wirksam geworden, weil an ihn "die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet werden konnte" und er den an seine Tochter adressierten Gerichtsbescheid ausweislich der Postzustellungsurkunde in der Wohnung in Empfang genommen hat (§ 63 [X.]G iVm § 178 Abs 1 [X.] ZPO).

2. Aber auch aus einem weiteren Grund konnte die Beschwerde keinen Erfolg haben. Nicht problematisiert haben die Beteiligten und das L[X.] die Frage, ob die in den Schreiben der Klägerin vom 8.2.2015 liegende Berufung wirksam von der Klägerin eingelegt werden konnte. Die Schreiben sind von der Klägerin persönlich unterzeichnet worden. Eine Mitunterzeichnung durch den Vater oder die Mutter als alleinvertretungsberechtigte Betreuer fehlt. Auch im gesamten Berufungsverfahren haben sich die Eltern der Klägerin trotz mehrfacher Nachfragen des L[X.] nicht geäußert und auch die von der Klägerin beantragte Akteneinsicht, die ihnen als Betreuern bewilligt worden war (Verfügung des L[X.] vom 14.7.2015), nicht wahrgenommen. Da die Klägerin gemäß § 71 Abs 6 [X.]G iVm § 53 ZPO wegen der Betreuung (§ 1902 BGB) einer prozessunfähigen Person "für den Rechtsstreit", dh für alle Instanzen einer gerichtlichen Streitigkeit bis zu deren rechtskräftigem Abschluss, gleichstand, hätte die Berufung nur von dem Vater oder der Mutter oder von beiden gemeinsam als gesetzliche Vertreter ihrer Tochter eingelegt werden können oder sie hätten zumindest die Einlegung der Berufung durch ihre Tochter genehmigen müssen ([X.], 104; Vollkommer in [X.], ZPO, 31. Aufl 2016, § 53 Rd[X.] 5), was nach dem Akteninhalt nicht geschehen ist. Wegen fiktiver Prozessunfähigkeit der Klägerin war die Einlegung der Berufung durch sie persönlich prozessual unwirksam. Einen "besonderen Vertreter" musste das L[X.] nach § 72 [X.]G nicht bestellen, weil die Klägerin mit ihren Eltern als Betreuer über gesetzliche Vertreter verfügte.

3. Weil die Berufung der Klägerin aus vorgenannten Gründen keinen Erfolg hätte haben können, das angestrebte Revisionsverfahren aus Rechtsgründen also nicht zugunsten der Klägerin zu entscheiden wäre, kommt es auf die Frage sonstiger Verfahrensfehler des L[X.] nicht an. Der Senat sieht deshalb von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 [X.] [X.]G).

4. [X.] beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 [X.]G.

Meta

B 3 P 23/16 B

25.01.2017

Bundessozialgericht 3. Senat

Beschluss

Sachgebiet: P

vorgehend SG Gießen, 12. Februar 2015, Az: S 9 P 5/13, Gerichtsbescheid

§ 189 ZPO, § 53 ZPO, § 170 Abs 1 S 1 ZPO, § 170 Abs 1 S 2 ZPO, § 170 Abs 3 ZPO, § 178 Abs 1 Nr 1 ZPO, § 63 Abs 1 S 1 SGG, § 63 Abs 2 S 1 SGG, § 71 Abs 6 SGG, § 105 Abs 2 S 1 SGG, § 151 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a SGG, § 184 BGB, § 1629 Abs 1 S 2 BGB, § 1902 BGB

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.01.2017, Az. B 3 P 23/16 B (REWIS RS 2017, 16756)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 16756

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