Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 09.11.2005, Az. 1 StR 447/05

1. Strafsenat | REWIS RS 2005, 934

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[X.] vom 9. November 2005 in der Strafsache gegen Nachschlagewerk: ja [X.]St: ja Veröffentlichung: ja _________________________ [X.] §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2; Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG Der in der ersten Hauptverhandlung unterlassene oder verspätete Widerspruch wegen Verletzung der §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2 [X.] oder sonstiger [X.] aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens kann nach Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht in der neuen Hauptverhandlung nicht mehr geltend gemacht werden. [X.], Beschluss vom 9. November 2005 - 1 [X.] - [X.] wegen Mordes - 2 - - 3 - Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 9. November 2005 beschlos-sen: Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 10. Juni 2005 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtferti-gung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 [X.]). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den [X.] im Revisionsverfahren entstandenen notwendi-gen Auslagen zu tragen. Gründe: Zu der Verfahrensrüge, die die Verwertbarkeit der polizeilichen Beschul-digtenvernehmung vom 16. September 2003 in Abwesenheit des bestellten Verteidigers und ohne Dolmetscher betrifft, bemerkt der Senat: I. Dieser Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am 15. September 2003 wurde der Angeklagte, [X.] Staatsan-gehöriger, der mehr als 30 Jahre in [X.] gelebt hatte, aus [X.] Auslieferungshaft an die Bundesrepublik [X.] ausgeliefert. Zuvor war ihm bereits ein Pflichtverteidiger bestellt worden. Termin zur Verkündung des Haftbefehls wurde bestimmt auf den 16. September 2003, 13.30 Uhr. Die - 4 - Staatsanwaltschaft setzte den Verteidiger und die für die Vorführung des [X.] vom Termin in Kenntnis. Ein [X.] wurde vom Ermittlungsrichter geladen. Vor dem Haftrichtertermin erklärte sich der Angeklagte um 12.55 Uhr ge-genüber [X.]nach ordnungsgemäßer Belehrung zur Aussage ohne Hinzuziehung eines Verteidigers bereit. Dem [X.] war die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht bekannt. Auch der Beschuldigte [X.] davon nichts. Er gab eine geständige Einlassung ab und erklärte, er sei der [X.] mächtig. Um 13.30 Uhr benachrichtigte der Haftrichter den zuständigen [X.], dass die [X.] sich verzögere, weil der Beschuldigte vor der Kriminalpolizei ein Geständnis ablege. Der Staatsanwalt unterrichtete den Verteidiger entsprechend. Die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung endete um 13.50 Uhr. Beim Haftrichter sagte der Beschuldigte in Anwesenheit des [X.] und eines Dolmetschers nicht zur Sache aus. Mit Schriftsatz vom 18. September 2003 beanstandete der damalige Pflichtverteidiger gegenüber der Staatsanwaltschaft die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung vom [X.] 2003 wegen der fehlenden Anwesenheit von Verteidiger sowie [X.], rügte einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens und machte ein Verwertungsverbot geltend. Der Angeklagte ließ in der ersten Hauptverhandlung vor dem [X.] die Angaben aus der betreffenden Beschuldigtenvernehmung über seinen Verteidiger im [X.] bestätigen und als seine Einlassung in Anwesenheit eines Dolmetschers vortragen. Ein Widerspruch gegen die Verwertung der Beschul-digtenvernehmung wurde in der Hauptverhandlung nicht mehr erhoben. - 5 - Das Schwurgericht verurteilte den Angeklagten wegen Totschlags. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft, die die Verurteilung wegen Mordes in der Begehungsform der Heimtücke erstrebte, wurde das erstinstanzliche Urteil mit den Feststellungen aufgehoben. In der zweiten Hauptverhandlung hat der Angeklagte sich abweichend von seinen früheren Angaben in zwei unterschiedlichen Versionen eingelassen. Seinen früheren Verteidiger hat er von der Schweigepflicht nicht entbunden. Der Verwertung der Beschuldigtenvernehmung wurde in der zweiten [X.] widersprochen. Die Einlassung des Angeklagten aus der ersten Hauptverhandlung wurde durch die Vernehmung des damaligen Vorsitzenden eingeführt. Der Angeklagte wurde wegen eines heimtückisch begangenen [X.] verurteilt. Im neuen erstinstanzlichen Urteil hat sich das Schwurgericht dem Wortlaut nach "ergänzend" auf die Beschuldigtenvernehmung gestützt. II. Die von der Revision auf § 163a Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 136 Abs. 1 Satz 2 [X.] gestützte Verfahrensrüge hat keinen Erfolg. 1. Grundsätzlich ist dem Beschuldigten vor seiner polizeilichen Verneh-mung mitzuteilen, dass ihm bereits ein Verteidiger bestellt worden ist ([X.] NStZ 1997, 502). Ob hier in dem Unterlassen der Mitteilung ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens zu sehen ist, der ein Verwertungsverbot nach sich ziehen könnte, kann der Senat offen lassen. Entgegen der oben zi-tierten Entscheidung ist dem Beschuldigten die Verteidigerbestellung hier nicht bewusst vorenthalten worden. Der [X.] hatte keine Kenntnis davon. Der Staatsanwalt erfuhr von der polizeilichen Vernehmung erst, nach-dem diese schon fortgeschritten war. Ob zu dem Zeitpunkt für ihn noch [X.] bestanden, ist nicht geklärt. - 6 - 2. Der Angeklagte kann sich hier auf einen Verstoß gegen Grundsätze des fairen Verfahrens schon deshalb nicht berufen, weil er in der ersten [X.] über seinen Instanzverteidiger, der noch im Ermittlungsverfahren Widerspruch erhoben hatte, die Angaben aus der Beschuldigtenvernehmung im [X.] bestätigen ließ und das Tatgeschehen erneut in Anwesenheit eines Dol-metschers einräumte (vgl. [X.], Beschluss vom 29. Januar 2003 - 5 [X.]). Das Unterlassen des Hinweises im Ermittlungsverfahren ist dadurch jedenfalls geheilt ([X.]St 22, 129; 27, 355, 359). Die Revision trägt zudem sowohl die Bestätigung der Angaben aus der Beschuldigtenvernehmung über den damaligen Verteidiger in der ersten [X.] als auch dessen Widerspruch im Ermittlungsverfahren nicht vor. Soweit eine Wiederholung des Widerspruchs in der ersten Hauptverhandlung nicht mehr erfolgte, ist ein Verteidigerverschulden nach einer bestätigenden Einlassung in der Hauptverhandlung nicht ersichtlich. 3. Generell ist der Verwertung einer Aussage, die unter Verstoß gegen die Verfahrensgrundsätze der §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2 [X.] (Schweigerecht sowie Recht zur Verteidigerkonsultation) oder sonstige [X.] aus dem Grundsatz des fairen Verfahren nach Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG im Ermittlungsverfahren erlangt worden ist, bis zu dem in § 257 [X.] genannten Zeitpunkt zu widersprechen (vgl. zur Widerspruchslö-sung [X.]St 38, 214; 42, 15, 22; [X.] NStZ 1997, 502). Die Frage, ob der [X.] oder verspätete Widerspruch in der ersten Hauptverhandlung nach Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht in der neuen [X.] nicht mehr geltend gemacht werden kann (so BayObLG NStZ 1997, 99; [X.], 68; [X.] StV 1996, 416; [X.], [X.] 48. Aufl. § 136 Rdn. 25; [X.] in KK [X.] 5. Aufl. § 136 Rdn. 28; ebenso für das Berufungsverfahren [X.] Stuttgart NStZ 1997, 405), - 7 - ist, soweit ersichtlich, durch den [X.] noch nicht entschieden. Der Senat teilt die auch vom [X.] vertretene Auffassung, dass in einem solchen Fall die Rüge präkludiert ist. Die Nichtausübung des [X.] innerhalb der Frist führt in den genannten Fällen zum endgülti-gen [X.]. Dies ergibt sich daraus, dass es sich um ein prozessuales Gestaltungsrecht handelt, das nicht auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt beschränkt ist. Das Ermittlungsverfahren bildet die Grundlage für das gesamte folgende gerichtliche Verfahren, auch nach Aufhebung des ersten Urteils und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht. Der Angeklagte muss sich an einer nicht widersprochenen Einlassung aus dem Ermittlungsverfahren festhalten lassen. Deren Bestand kann nicht seiner Dispositionsfreiheit unterlie-gen, was schon im Fall einer Teilaufhebung des ersten Urteils deutlich wird. Der Angeklagte hat sich hier in der neuen Hauptverhandlung mit einem neuen Verteidiger einer anderen Verteidigungsstrategie bedient und sich nicht nur abweichend zur früheren Hauptverhandlung, sondern auch in der neuen Hauptverhandlung wechselnd eingelassen. Dies zeigt bereits die Notwendigkeit der Bindungswirkung an eine einmal getroffene Entscheidung bzw. an den ein-getretenen Rechtszustand. Der frühere Verteidiger unterliegt der Schweige-pflicht. Es entspricht der besonderen Verantwortung eines Verteidigers und sei-ner Fähigkeit, Mängel beim Zustandekommen einer Einlassung im Ermittlungs-verfahren aufzudecken und zu erkennen, ob die Berufung auf ein etwa daraus resultierendes Verwertungsverbot einer sinnvollen Verteidigung dient (vgl. [X.]St 38, 214, 226). Deshalb wird der Angeklagte durch die Bindung an die Verwertbarkeit seiner unwidersprochen eingeführten und berücksichtigten An-gaben aus dem Ermittlungsverfahren in seinen Verteidigungsrechten nicht be-schränkt. - 8 - 4. Der Senat kann offen lassen, ob das Urteil auf den Angaben aus der beanstandeten Beschuldigtenvernehmung, die dem Wortlaut nach zwar "ergän-zend" herangezogen wurde und "mit den übrigen Erkenntnissen der Beweisauf-nahme in Einklang" steht, überhaupt beruht. [X.] Wahl [X.] Elf

Meta

1 StR 447/05

09.11.2005

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 09.11.2005, Az. 1 StR 447/05 (REWIS RS 2005, 934)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2005, 934

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