Bundesgerichtshof, Urteil vom 16.11.2017, Az. 3 StR 83/17

3. Strafsenat | REWIS RS 2017, 2194

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Gegenstand

Sexueller Missbrauch von Jugendlichen: Verstoß gegen die Kognitionspflicht bei Missbrauchshandlungen an einem 14jährigen leicht intelligenzgeminderten, an einer autistischen Störung leidenden Jungen durch einen Betreuer beim Rudertraining


Tenor

Auf die Revision des Nebenklägers     M.   wird das Urteil des [X.] vom 27. September 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen 1. bis 4. der Anklage freigesprochen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, sexuellen Missbrauchs von Kindern in elf Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer [X.]en Person, sowie wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchter sexueller Nötigung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Der Nebenkläger     [X.](im Folgenden: der Nebenkläger) wendet sich gegen den Freispruch des Angeklagten in den Fällen 1. bis 4. der Anklage. Insoweit waren dem Angeklagten [X.] zum Nachteil des [X.] vorgeworfen worden. Dieser rügt mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

1. Nach den Feststellungen übte der Angeklagte in vier Fällen mit dem damals vierzehnjährigen Nebenkläger Analverkehr aus, wobei der Angeklagte mit seinem Glied zweimal in den Anus des [X.] und dieser zweimal in den des Angeklagten eindrang. Das [X.] sah in dem Umstand, dass der Angeklagte den Nebenkläger im wöchentlichen Rudertraining betreute, kein Obhutsverhältnis im [X.]inne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. Ebenso wenig vermochte es festzustellen, dass der an einer "[X.]törung aus dem Autismusspektrum" leidende, leicht intelligenzgeminderte Nebenkläger [X.] im [X.]inne des § 179 Abs. 1 [X.] aF war. Dies begegnet für sich keinen rechtlichen Bedenken.

3

2. Das [X.] hat jedoch den festgestellten [X.]achverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit gegen die ihm obliegende allseitige Kognitionspflicht (§ 264 [X.]) verstoßen. Dies stellt stets einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (vgl. [X.], Urteil vom 16. Dezember 1982 - 4 [X.], [X.], 174, 175).

4

a) Die umfassende gerichtliche Kognitionspflicht gebietet, dass der - durch die zugelassene Anklage abgegrenzte - [X.] durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 [X.]tR 239/09, [X.], 222, 223 mwN). Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen (vgl. [X.]/[X.], [X.], 60. Aufl., § 264 Rn. 10).

5

b) Dies hat das [X.] unterlassen. Die [X.] hat das festgestellte Verhalten des Angeklagten nur daraufhin geprüft, ob er sich wegen sexuellen Missbrauchs einer [X.]en Person nach § 179 Abs. 1 [X.] aF oder wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 [X.] strafbar gemacht hat. [X.]ie hat es aber versäumt zu prüfen, ob der Angeklagte damit den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 [X.] aF erfüllt hat, obwohl nach den Feststellungen das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift in Betracht kommt. Im Einzelnen:

6

aa) Nach der zur Tatzeit geltenden Fassung des § 182 Abs. 3 Nr. 1 [X.] wird bestraft, wer - als Person über einundzwanzig Jahren - eine Person unter sechzehn Jahren dadurch missbraucht, dass er sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder von ihr an sich vornehmen lässt und dabei die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen [X.]elbstbestimmung ausnutzt. Ob dies der Fall ist, bedarf der konkreten Feststellung im Einzelfall (vgl. [X.], Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 [X.], [X.]R [X.] § 182 Abs. 2 [X.]elbstbestimmungsfähigkeit 1). Ob der Jugendliche nach seiner geistigen und seelischen Entwicklung reif genug ist, die Bedeutung und Tragweite der konkreten sexuellen Handlung für seine Person angemessen zu erfassen und sein Handeln danach auszurichten (vgl. BT-Drucks. 12/4584 [X.]. 8; ferner [X.]/[X.], [X.], 29. Aufl., § 182 Rn. 13), hängt dabei nicht allein von der - etwa durch Retardierung im intellektuellen Bereich oder ausgeprägte [X.] Fehlentwicklungen bedingten (LK/Hörnle, [X.], 12. Aufl., § 182 Rn. 62) - Unfähigkeit des Jugendlichen zu sexueller Autonomie ab, sondern auch von seinem Verhältnis zu dem Erwachsenen. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwischen beiden ein "Machtgefälle" besteht, das es dem über 21-jährigen ermöglicht, den Willen des Jugendlichen - etwa durch dominantes oder manipulatives Auftreten - in unlauterer Weise zu beeinflussen (vgl. BT-Drucks. 12/4584, [X.]. 8; LK/Hörnle, aaO Rn. 63 ff.; [X.]/[X.], aaO; [X.], [X.], 65. Aufl. § 182 Rn. 13; krit. MüKo [X.]/Renzikowski, 3. Aufl., § 182 Rn. 58). Mit der Neufassung des § 182 Abs. 3 Nr. 1 [X.] durch das 49. [X.]trafrechtsänderungsgesetz - Gesetz zur Umsetzung [X.] Vorgaben zum [X.]exualstrafrecht vom 21. Januar 2015 ([X.] I [X.]. 10, 12), das zum Tatzeitpunkt noch nicht in [X.] war, hat der Gesetzgeber dieses zur früheren Fassung entwickelte Erfordernis, bei der Feststellung fehlender sexueller Autonomie auch die Beziehung des Erwachsenen zu dem Jugendlichen zu bewerten, klarstellend ausdrücklich in den gesetzlichen Tatbestand aufgenommen (vgl. BT-Drucks. 18/2601, [X.]. 29).

7

bb) Danach hätte das [X.] vorliegend eine [X.]trafbarkeit nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 [X.] in Betracht ziehen müssen. Den Urteilsfeststellungen lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Nebenkläger in seiner Beziehung zu dem Angeklagten zu einem selbstbestimmten sexuellen Verhalten nicht in der Lage war. Nach den Ausführungen des von der [X.] gehörten [X.]achverständigen, denen die [X.] offensichtlich gefolgt ist, leidet der zum Tatzeitpunkt 14-jährige Nebenkläger an einer Erkrankung aus dem Autismusspektrum und einer leichten Intelligenzminderung. Er ist deshalb nicht in der Lage, komplexe Beziehungsgeflechte zu durchschauen und manipulative Beeinflussung zu erkennen. Demgegenüber legte der Angeklagte, bei dem eine auf pubertäre Jungen gerichtete Pädophilie vorliegt, nach den Feststellungen gegenüber den von ihm im Ruderclub und anderen Vereinen betreuten Kindern und Jugendlichen manipulative Verhaltensweisen an den Tag. [X.]o baute er gezielt ein Näheverhältnis zu den jungen Vereinsmitgliedern auf, innerhalb dessen er einen körperbetonten und erotisch aufgeladenen Umgang entwickelte. Auf Zurückweisungen durch die Kinder und Jugendlichen reagierte er mit heftigen Vorwürfen und setzte sie mit der Behauptung, tödlich erkrankt zu sein und auch sonst schwere [X.]chicksalsschläge erlitten zu haben, unter Druck. Auch zu dem elf Jahre jüngeren Nebenkläger stand der Angeklagte bereits ab dessen zwölften Lebensjahr in engem Kontakt und verhalf ihm durch die Erteilung von privatem [X.]chwimmunterricht zur Aufnahme in den Ruderverein, wo der Nebenkläger auf den Angeklagten fokussiert war und sich von ihm im Rahmen des Trainings anleiten ließ. Auf der Grundlage dieser Feststellungen hätte die [X.] prüfen und entscheiden müssen, ob der Nebenkläger aufgrund von [X.] zu hinreichender sexueller [X.]elbstbestimmung noch nicht in der Lage war und sich deshalb den sexuellen Wünschen des - auch in anderen Fällen - manipulativ agierenden Angeklagten nicht verschließen konnte. Allein der Umstand, dass sich der Angeklagte dem Nebenkläger nicht mehr in sexueller Hinsicht näherte, nachdem dieser geäußert hatte, keinen sexuellen Kontakt zum Angeklagten mehr zu wünschen, belegt - insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass das [X.] ausweislich der Urteilsgründe § 182 Abs. 3 Nr. 1 [X.] nicht in den Blick genommen hat - nicht hinreichend die Fähigkeit des [X.] zu sexueller [X.]elbstbestimmung zu den [X.]. Vielmehr hätte die Tatsache, dass die sexuellen Kontakte auf Initiative des [X.] endeten, in eine Gesamtbewertung aller Indiztatsachen eingestellt werden müssen, die für bzw. gegen das Fehlen der Fähigkeit des [X.] zur sexuellen [X.]elbstbestimmung sprechen können.

8

Das Urteil ist somit hinsichtlich der [X.] in den Fällen 1. bis 4. der Anklage aufzuheben.

[X.]          

      

Gericke          

      

[X.]paniol

      

Tiemann          

      

Berg          

      

Meta

3 StR 83/17

16.11.2017

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Lüneburg, 27. September 2016, Az: 20 KLs 6/15

§ 182 Abs 3 Nr 1 StGB vom 31.10.2008, § 264 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 16.11.2017, Az. 3 StR 83/17 (REWIS RS 2017, 2194)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 2194

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

4 StR 422/19

2 OLG 120 Ss 119/17

2 StR 57/20

1 StR 221/20

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