Bundessozialgericht, Urteil vom 26.06.2013, Az. B 7 AY 3/12 R

7. Senat | REWIS RS 2013, 4746

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Gegenstand

(Asylbewerberleistung - Zugunstenverfahren - keine Nachzahlung von Leistungen für die Vergangenheit bei Wegfall der Bedürftigkeit - keine analoge Anwendung des § 116a SGB 12 bei Überprüfungsanträgen vor dem 1.4.2011)


Tenor

Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des [X.] vom 21. Juli 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Im Streit sind Ansprüche der Kläger auf höhere Leistungen nach dem [X.] ([X.]), insbesondere auf [X.] nach § 2 [X.], im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 [X.] - ([X.]) zur Überprüfung bestandskräftiger Bescheide für die [X.] vom 1.1.2005 bis 31.5.2007.

2

Der Kläger zu 1 und seine Ehefrau, die Klägerin zu 2, sowie ihre 1990, 1992, 1996 und 2005 geborenen Kinder, die Kläger zu 3 bis 6, sind [X.] Staatsangehörige; sie hielten sich zunächst aufgrund von Duldungen in [X.] auf, bevor im Oktober 2005 die Klägerin zu 3 und im Oktober 2007 die übrigen Kläger eine Aufenthaltserlaubnis erhielten. Von 1992 bis 31.5.2007 bezogen die Kläger Grundleistungen nach § 3 [X.]; ab [X.] stellten sie ihren Lebensunterhalt ausschließlich aus eigenen Mitteln sicher.

3

Die von den Klägern im November 2009 gestellten Anträge auf Überprüfung der früheren Bewilligungsbescheide und nachträgliche Gewährung von [X.] nach § 2 [X.] in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]II) ab 1.1.2005 lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die Bedürftigkeit der Kläger sei zumindest seit Juni 2007 weggefallen; dies verhindere eine rückwirkende Leistungserbringung über § 44 [X.] (Bescheid vom [X.]; Widerspruchsbescheid vom [X.]). Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <[X.]> [X.]reiburg vom [X.]; Urteil des Landessozialgerichts <[X.]> Baden-Württemberg vom 21.7.2011). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das [X.] ausgeführt, der Gewährung von höheren Leistungen für die Vergangenheit stehe der zwischenzeitlich eingetretene Bedürftigkeitswegfall der Kläger entgegen. Sie hätten wegen ausreichenden Einkommens seit Juni 2007 keine Leistungen nach dem [X.], dem [X.] ([X.]) oder dem [X.]II mehr erhalten. Der Umstand, dass die zuvor bezogenen Grundleistungen verfassungswidrig zu niedrig gewesen seien, ändere an der fehlenden Gegenwärtigkeit der Notlage nichts.

4

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 44 [X.]. Sie sind der Ansicht, der [X.] dürfe nicht angewandt werden. Die nach § 3 [X.] gewährten Grundleistungen seien ihrer Höhe nach evident unzureichend und verfassungswidrig gewesen, wie das [X.] ([X.]) entschieden habe. Dies begründe einen Ausnahmefall von der Rechtsprechung des Senats, wonach bereits bei einem temporären Wegfall der Bedürftigkeit ein Anspruch auf rückwirkende Leistungserbringung nicht in Betracht komme. Wegen des zwischenzeitlichen Umzugs der Kläger zu 3 und 4 müsse im Übrigen die Stadt [X.] beigeladen werden.

5

Die Kläger haben sinngemäß schriftsätzlich beantragt,
das Urteil des [X.] und den Gerichtsbescheid des [X.] sowie den Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihnen unter Rücknahme entgegenstehender Bescheide für die [X.] vom 1.1.2005 bis 31.5.2007 höhere Leistungen zu zahlen.

6

Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

7

Er hält die Entscheidung des [X.] in der Sache für zutreffend, ist jedoch der Ansicht, wegen des Wohnortwechsels der Kläger zu 3 und 4 müsse ein Beklagtenwechsel vorgenommen werden, weil nach § 44 Abs 3 [X.] mittlerweile die Stadt [X.] für den Erlass des [X.] zuständig sei.

Entscheidungsgründe

8

Die Revisionen sind im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das [X.] begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ). Ob die Kläger für den streitbefangenen Zeitraum Ansprüche auf höhere Leistungen in [X.]orm von [X.] nach § 2 [X.] oder unter Berücksichtigung des sog Meistbegünstigungsgrundsatzes von Grundleistungen nach § 3 [X.] besitzen, kann mangels ausreichender tatsächlicher [X.]eststellungen des [X.] nicht entschieden werden.

9

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] (§ 95 SGG), mit dem es der [X.] abgelehnt hat, den Klägern rückwirkend höhere Leistungen nach dem [X.] zu bewilligen und zu zahlen. Dagegen wenden sich die Kläger mit kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen nach § 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4, § 56 SGG (vgl nur [X.]-3520 § 3 [X.] RdNr 10), wobei auch im Zugunstenverfahren nach § 44 [X.] - wie vorliegend - ein Grundurteil nach § 130 SGG möglich wäre (BSG aaO). [X.] wird das [X.] dafür jedoch die vom [X.]n abzuändernden bestandskräftigen Bewilligungsbescheide zu ermitteln haben, die den streitbefangenen Zeitraum betreffen.

Grundlage für den Anspruch auf Rücknahme der bestandskräftigen Bescheide über die Ablehnung höherer als der bewilligten Leistungen im streitbefangenen Zeitraum ist § 44 Abs 1 Satz 1 [X.], der gemäß § 9 Abs 3 [X.] auch im Asylbewerberleistungsrecht Anwendung findet. Danach ist ein unanfechtbarer Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb ua Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Nach § 44 Abs 3 [X.] entscheidet, nachdem der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist, über die Rücknahme die (mittlerweile) zuständige Behörde.

Entgegen der Ansicht der Beteiligten bedeutet dies jedoch weder, dass wegen eines Umzugs der Kläger zu 3 und 4 die Stadt [X.] beizuladen (§ 75 Abs 2 SGG) wäre, noch, dass ein [X.]nwechsel stattgefunden hätte. Welche Behörde der juristischen Person als Rechtsträger für den Erlass des begehrten Verwaltungsakts zuständig wäre, ist insoweit ohne Bedeutung. Soweit eine Behörde - wie vorliegend - das Landratsamt O oder die Stadt [X.] bei einem Umzug der Kläger zu 3 und 4 als Organ mehrerer Rechtsträger tätig wird bzw würde, ist für die Beurteilung der Passivlegitimation (materiellrechtliche Verpflichtung) und des richtigen Beklagen maßgebend, wessen Aufgabe (des [X.], des [X.] oder des [X.]) erfüllt wird (vgl nur [X.]/[X.], VwGO, 18. Aufl 2012, § 78 RdNr 6 mwN). Dies ist vorliegend eine solche des beklagten [X.]; in [X.] gilt nicht das Behördenprinzip (siehe dazu § 70 [X.] SGG).

Eine andere [X.]rage ist, ob das Landratsamt O für den Erlass der ablehnenden Bescheide örtlich zuständig war und welche rechtlichen Konsequenzen sich aus einer fehlenden örtlichen Zuständigkeit ergäben. Würde es an einer solchen fehlen, wäre eine Aufhebung des ablehnenden Bescheides allein wegen des Verstoßes gegen die Vorschriften der örtlichen Zuständigkeit gleichwohl nicht gerechtfertigt, weil die Verletzung der örtlichen Zuständigkeit die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (§ 46 Verwaltungsverfahrensgesetz für [X.], der hier zur Anwendung gelangt, weil § 42 [X.] mangels ausdrücklichen Verweises in § 9 Abs 3 [X.] nicht anwendbar ist; vgl dazu nur [X.] in juris Praxiskommentar -[X.]II, § 9 [X.] RdNr 14). Sollte der Ablehnungsbescheid in der Sache richtig sein, hätte ein Verstoß allein gegen die Vorschriften der örtlichen Zuständigkeit keinerlei Einfluss auf die Sache, weil § 44 Abs 1 und 4 [X.] eine gebundene Entscheidung vorsieht. Sachlich zuständig für die Durchführung des [X.] und somit auch für die in diesem Zusammenhang zu treffenden Entscheidungen nach § 44 [X.] dürfte jedenfalls nach § 10 [X.] iVm § 1 [X.] und § 2 Abs 1, Abs 2 [X.] und Abs 4 [X.]lüchtlingsaufnahmegesetz des [X.] [X.] ([X.]lüAG) vom 11.3.2004 (Gesetzblatt für das Land [X.] 99) sowie § 15 Abs 1 [X.] [X.]verwaltungsgesetz [X.] (in der [X.]assung, die die Norm durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Verwaltungsstruktur in der [X.]orm vom 14.10.2008 erhalten hat - GBl 313) die jeweilige untere Verwaltungsbehörde des [X.] als untere Aufnahmebehörde sein. Allerdings ist die örtliche und damit auch die sachliche Zuständigkeit insoweit nicht nachvollziehbar, als es an tatsächlichen [X.]eststellungen des [X.] zu § 10a Abs 1 [X.] (Verteilung) fehlt. [X.] wird dies nachzuholen sein.

Ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme bestandskräftiger Verwaltungsakte und Zahlung höherer Leistungen vorliegen, kann anhand der tatsächlichen [X.]eststellungen des [X.] nicht abschließend beurteilt werden. Der [X.] hat jedoch bereits mit Urteil vom 20.12.2012 ([X.] [X.] R - [X.] 4-3520 § 3 [X.]) entschieden, eine Nachzahlung monatsweiser Leistungen - wie hier - komme für den [X.]all nicht in Betracht, dass die Bedürftigkeit dauerhaft oder temporär, also zumindest für einen Monat, entfallen sei; dies gelte auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das [X.] durch Urteil vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -, [X.] 1715 f = [X.] 4-3520 § 3 [X.]) entschieden habe, die Geldleistungen des § 3 [X.] seien evident zu niedrig (BSG aaO). Im vorliegenden Verfahren ist nichts vorgetragen, was nicht bereits in dieser Entscheidung ausführlich gewürdigt ist.

Der Wegfall der Bedürftigkeit der Kläger lässt sich nicht abschließend beurteilen. Den [X.]eststellungen des [X.] ist hierzu lediglich zu entnehmen, dass die Kläger ab Juni 2007 keine Leistungen nach dem [X.], dem [X.]II oder dem [X.] mehr bezogen haben. Erforderlich ist jedoch eine Prüfung der Bedürftigkeit; dass die Kläger keine Leistungen mehr bezogen haben, hat keine rechtliche Bedeutung. Dabei misst sich die Bedürftigkeit unter Berücksichtigung der Entscheidung des [X.] vom 18.7.2012 (aaO) für Grundleistungen (§ 3 [X.]) bis 31.12.2010 an dem dort normierten - wenn auch verfassungswidrig zu niedrigen - Bedarf ([X.]surteil vom 20.12.2012, aaO, RdNr 16). Es ist jedoch bereits unklar, welche Regelungen insoweit überhaupt zur Anwendung kommen. Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Leistungssystemen ([X.], [X.]II, [X.]) ist nämlich anhand des jeweiligen Aufenthaltsstatus und der Erwerbsfähigkeit zu beurteilen (BSG, aaO, RdNr 17), wozu [X.]eststellungen ebenfalls fehlen.

Sollte die Bedürftigkeit nicht entfallen sein, wäre der zum 1.4.2011 ins [X.]II eingefügte § 116a [X.]II nicht analog anwendbar (vgl zur analogen Anwendung dieser Norm das [X.]surteil vom 26.6.2013 - [X.] [X.]). Denn § 116a [X.]II, der für die Rücknahme eines rechtswidrigen nichtbegünstigenden Verwaltungsaktes § 44 Abs 4 Satz 1 [X.] dahin modifiziert, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr für die Gewährung rückwirkender Leistungen tritt, wäre auch im Sozialhilferecht nicht anwendbar, weil er aufgrund der Übergangsregelung des § 136 [X.]II (in der bis 31.12.2012 geltenden [X.]assung) nicht auf Anträge Anwendung findet, die - wie hier - vor dem 1.4.2011 gestellt worden sind ([X.]-1300 § 44 [X.]2 Rd[X.]3).

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 7 AY 3/12 R

26.06.2013

Bundessozialgericht 7. Senat

Urteil

Sachgebiet: AY

vorgehend SG Freiburg (Breisgau), 28. Januar 2011, Az: S 9 AY 5487/10, Gerichtsbescheid

§ 44 Abs 1 S 1 SGB 10, § 44 Abs 4 S 1 SGB 10, § 2 Abs 1 AsylbLG, § 3 AsylbLG, § 9 Abs 3 AsylbLG, § 116a SGB 12, § 136 SGB 12 vom 24.03.2011, GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 26.06.2013, Az. B 7 AY 3/12 R (REWIS RS 2013, 4746)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 4746

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvL 10/10

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