Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.05.2024, Az. IV B 35/23

4. Senat | REWIS RS 2024, 13192

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Gehörsverstoß im Zusammenhang mit der Feststellung ausländischen Rechts


Leitsatz

1. NV: Das Finanzgericht (FG) verstößt gegen seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), wenn es sich mit Blick auf die Feststellung ausländischen Rechts auf seine eigene Sachkunde beruft und von der seitens der Klägerin beantragten Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung beziehungsweise einer Entscheidung über das den Sachverständigen betreffende Ablehnungsgesuch sowie von der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens (§ 82 FGO i.V.m. §§ 404, 412 der Zivilprozessordnung) absieht, obwohl der Erwerb der eigenen Sachkunde unter anderem aus den Gutachten des Sachverständigen herrührt.

2. NV: Eine Überraschungsentscheidung (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO) liegt vor, wenn das FG vor Erlass seines Urteils nicht auf die Erledigung des Beweisbeschlusses (Erstattung eines Sachverständigengutachtens) wegen zwischenzeitlich erlangter eigener Sachkunde bei der Feststellung ausländischen Rechts hinweist.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.]vom 17.05.2023 - 1 K 478/18 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.]zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

[X.]ist begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (FG). Das angefochtene Urteil kann auf den geltend gemachten Verfahrensmängeln beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

2

1. Das [X.]hat dadurch gegen seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) verstoßen, dass es sich mit Blick auf die Feststellung des [X.]Rechts auf seine eigene Sachkunde berufen und von der seitens der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) beantragten Ladung des Sachverständigen [X.]zur mündlichen Verhandlung beziehungsweise einer Entscheidung über das [X.]betreffende Ablehnungsgesuch sowie von der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens (§ 82 FGO i.V.m. §§ 404, 412 der Zivilprozessordnung --ZPO--) abgesehen hat, obwohl der Erwerb der eigenen Sachkunde unter anderem aus den Gutachten des Sachverständigen [X.]herrührte.

3

a) Während das [X.]die von den Verfahrensbeteiligten angebotenen Beweise grundsätzlich erheben muss, steht die Zuziehung eines Sachverständigen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Hat es die nötige Sachkunde selbst, braucht es einen Sachverständigen nicht hinzuzuziehen. Das dem [X.]bei der Bestimmung von Art und Zahl einzuholender Sachverständigengutachten nach § 82 FGO i.V.m. §§ 404, 412 ZPO zustehende Ermessen wird nur dann [X.]ausgeübt, wenn das Gericht von der Einholung gutachtlicher Stellungnahmen absieht, obwohl sich ihm die Notwendigkeit dieser zusätzlichen Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen. Verfügt das Gericht ausnahmsweise über die nötige Sachkunde, muss es diese in den Entscheidungsgründen darlegen (Urteil des [X.]--BFH-- vom 16.12.2015 - IV R 18/12, BFHE 252, 408, [X.]2016, 346, Rz 31; [X.]vom 07.01.2015 - I B 42/13, Rz 9; vom 11.05.2017 - IX B 23/17, Rz 13). Aus den Urteilsgründen muss hervorgehen, auf welchen Kenntnissen und Erfahrungen die Sachkunde des Gerichts beruht und dass nicht sachkundigen Richterinnen und Richtern die erforderliche Sachkunde vermittelt worden ist (BFH-Urteil vom 14.12.1976 - VIII R 76/75, BFHE 121, 410, [X.]1977, 474, unter 3. [Rz 24]).

4

b) Das [X.]hat die Ladung des [X.]zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens, eine Entscheidung über das [X.]betreffende Ablehnungsgesuch der Klägerin und die von der Klägerin begehrte Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens mit der Begründung abgelehnt, dass es "eines jeweiligen Rückgriffes auf die genannten, im Zuge des vorliegenden Klageverfahrens eingeholten Gutachten 2019/1 und 2 sowie 2021 ... im Ergebnis nicht mehr [bedurfte]", da das Gericht zwischenzeitlich über hinreichend eigene Sachkunde verfüge. Diese eigene Sachkunde hat es allerdings mit eigenen, vorhandenen Kenntnissen, die teilweise erst nach Einholung der Gutachten 2019/1, 2 und 2021 sowie Prüfung derselben unter Berücksichtigung des [X.]erlangt worden seien, begründet. Damit erweisen sich die Ablehnung, [X.]zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu laden und über das [X.]betreffende Ablehnungsgesuch der Klägerin zu entscheiden beziehungsweise die Ablehnung, gegebenenfalls ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, als ermessensfehlerhaft. Zwar muss das Gericht auch im Fall der erfolgreichen Ablehnung eines Sachverständigen keine erneute Begutachtung (§ 82 FGO i.V.m. § 412 ZPO) anordnen, wenn es zwischenzeitlich eigene Sachkunde erworben hat. Diese darf aber nicht überwiegend aus dem Gutachten des abgelehnten Sachverständigen herrühren (MüKoZPO/Zimmermann, § 412 Rz 7). Entsprechendes muss gelten, wenn ein Beteiligter --wie hier die [X.]einen Ablehnungsantrag gestellt hat, über den das Gericht noch nicht entschieden hat. Das [X.]hat in den Entscheidungsgründen dargelegt, dass seine Sachkunde auch auf den von [X.]erstellten Sachverständigengutachten gründet. Es ist also nicht auszuschließen, dass die Gutachten eine wesentliche Erkenntnisquelle des [X.]bildeten. Davon geht auch der 4. Senat des [X.]München aus, wenn er in dem auf die Erinnerung der Klägerin gegen den Kostenansatz ergangenen Beschluss vom 13.11.2023 - 4 Ko 1721/23 ausführt, dass sich das [X.]ersichtlich erst aufgrund der aus den streitgegenständlichen Gutachten gewonnenen Erkenntnisse als hinreichend sachkundig betrachtet habe (S. 6).

5

c) Das angefochtene Urteil kann auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Es besteht zumindest die Möglichkeit, dass das Urteil bei mangelfreiem Verfahren (Ladung des Sachverständigen [X.]zur Erläuterung seines Gutachtens beziehungsweise Entscheidung über das [X.]betreffende Ablehnungsgesuch oder Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens) anders ausgefallen wäre.

6

2. Zudem liegt eine Überraschungsentscheidung (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO) vor.

7

a) Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen das Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO) ist gegeben, wenn das [X.]sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger [X.]selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste.

8

b) Eine solche Überraschungsentscheidung liegt vorliegend darin, dass das [X.]vor Erlass seines Urteils nicht auf die Erledigung des [X.]wegen zwischenzeitlich erlangter eigener Sachkunde bei der Feststellung [X.]Rechts hingewiesen hat. Durch einen Beweisbeschluss entsteht eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht ergehen wird, bevor der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. [X.]es aber von einer Beweisaufnahme absehen, muss es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (z.B. [X.]vom 27.08.2010 - III B 113/09, Rz 4).

9

Daran fehlt es hier. Zwar ist der Beweisbeschluss insoweit ausgeführt worden, als der Sachverständige [X.]sein schriftliches Gutachten erstattet hat. Die von der Klägerin beantragte Ladung des Sachverständigen [X.]zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens (vgl. zu der aus § 402 i.V.m. § 397 ZPO folgenden Pflicht des Gerichts, einem solchen Antrag zu entsprechen, Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 411 Rz 4) beziehungsweise die Entscheidung über das gegen den Gutachter gerichtete Ablehnungsgesuch (§ 406 ZPO) der Klägerin ist allerdings noch als Teil der angeordneten Beweisaufnahme anzusehen. Das [X.]hat vor Erlass seines Urteils nicht zum Ausdruck gebracht, dass es den in diesem Sinne noch nicht vollständig ausgeführten Beweisbeschluss als erledigt betrachte, weil es zwischenzeitlich über eigene Sachkunde zur Feststellung des [X.]Rechts verfüge.

c) Bezieht sich der Gehörsverstoß auf das Gesamtergebnis des Verfahrens und nicht nur auf einzelne Feststellungen des angegriffenen Urteils, sind Ausführungen zur Kausalität des Gehörsverstoßes entbehrlich (z.B. [X.]vom 11.12.2019 - X B 40/19, Rz 40; Beschluss des Großen Senats des [X.]vom 03.09.2001 - GrS 3/98, BFHE 196, 39, [X.]2001, 802, unter [X.][Rz 54]). Ein solcher Fall liegt hier vor. Da die Feststellung des ausländischen Rechts [X.]des Verfahrens im zweiten Rechtsgang darstellt, ist es nicht sachgerecht, den Gehörsverstoß nur auf einzelne Feststellungen zu beziehen und dessen Erheblichkeit im Einzelnen zu prüfen; die Kausalitätsvermutung gilt vielmehr uneingeschränkt.

3. Auf die übrigen von der Klägerin geltend gemachten Zulassungsgründe kommt es nicht mehr an. Von einer weiteren Begründung wird daher nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.

4. Der Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.

Meta

IV B 35/23

14.05.2024

Bundesfinanzhof 4. Senat

Beschluss

vorgehend FG München, 17. Mai 2023, Az: 1 K 478/18, Urteil

Art 103 Abs 1 GG, § 76 Abs 1 S 1 FGO, § 82 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 119 Nr 3 FGO, § 404 ZPO, § 412 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.05.2024, Az. IV B 35/23 (REWIS RS 2024, 13192)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 13192


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

FG München: Verfahren 1 K 478/18

FG München, Urteil vom 17.05.2023, Az. 1 K 478/18 (REWIS RS 2023, 6907)


Bundesfinanzhof: Verfahren IV B 35/23

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.05.2024, Az. IV B 35/23 (REWIS RS 2024, 13192)


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VII B 259/09 (Bundesfinanzhof)

Fehlerhafte Beweiswürdigung des FG kein Verfahrensmangel - Feststellungen des Tatrichters zur geografischen Herkunft eines antiken …


VIII B 30/20 (Bundesfinanzhof)

Unterbliebene Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Streit um die künstlerische Tätigkeit des Beschwerdeführers


III R 9/23 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld wegen seelischer Behinderung und Auswahl eines geeigneten Sachverständigen


V B 8/11 (Bundesfinanzhof)

Beweiserhebung durch Beauftragung eines Prüfungsbeamten - Einholung eines weiteren Gutachtens


1 B 54/19 (Bundesverwaltungsgericht)

Anforderungen an den asylrechtlichen Begriff der "soziale Gruppe"


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.

Öffnen: STRG + Shift | Schließen: ESC