Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.09.2016, Az. AK 47/16

3. Strafsenat | REWIS RS 2016, 5081

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen

ECLI:DE:BGH:2016:220916BAK47.16.0

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

AK 47/16
vom
22. September 2016
in dem Strafverfahren
gegen

wegen versuchten Mordes
u.a.

-
2
-
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-desanwalts sowie der Angeschuldigten und ihrer Verteidiger am 22.
September 2016 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesge-richtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesge-richt Celle übertragen.

Gründe:
Die Angeschuldigte wurde am 26. Februar 2016 festgenommen und be-findet sich seitdem in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Hannover vom 27. Februar 2016 (297 AR 58/16) und
seit dessen Ersetzung aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bun-desgerichtshofs vom 14. April 2016 (2 BGs 260/16).
Gegenstand des Haftbefehls in der Fassung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs ist der Vorwurf, die jugendliche Angeschuldigte habe am 26. Februar 2016 in Hannover durch dieselbe Handlung versucht, aus niedrigen Beweggründen und heimtückisch einen Menschen zu töten, habe dabei eine andere Person körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt, wo-bei sie die Tat mittels eines gefährlichen Werkzeugs sowie mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen habe, und habe dadurch gleichzei-1
2
-
3
-
tig eine terroristische Vereinigung im Ausland unterstützt, indem sie den im Hauptbahnhof Hannover Streife gehenden Polizeibeamten Ka.

, der nicht mit einem Angriff auf seine Person gerechnet habe, mit einem Messer in den Hals gestochen und ihm dadurch eine 2,5 cm lange sowie 5 cm tiefe, potentiell lebensbedrohliche Stichverletzung zugefügt habe, um auf diese Weise die Ziele und Zwecke der Vereinigung "Islamischer Staat" zu fördern (§§ 211, 22, 23 Abs. 1, § 223 Abs. 1, §
224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs.
5 Satz 1, § 129b Abs. 1, §
52 StGB i.V.m. §§ 1, 3 JGG).
Wegen dieses Vorwurfs hat der Generalbundesanwalt unter dem 10.
August 2016 vor dem Oberlandesgericht Celle Anklage erhoben.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Die Angeschuldigte ist der ihr zur Last gelegten Tat dringend verdäch-tig.
a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines drin-genden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Die Angeschuldigte identifizierte sich spätestens seit November 2015 mit den Gewalttaten des "Islamischen Staates" (im Folgenden: IS) und befürworte-te Terroranschläge auch außerhalb von dessen Kerngebiet im Irak und in
Syrien. Im Januar 2016 reiste sie in die Türkei, um sich von dort aus in das Ge-biet des IS schleusen zu lassen und sich der Organisation anzuschließen. Nachdem ihr von Mitgliedern des IS bedeutet worden war, dass es für die Or-ganisation einen größeren Nutzen habe, wenn sie in Deutschland eine öffent-lichkeitswirksame Gewalttat zum Nachteil der "Ungläubigen" verübe, nahm sie 3
4
5
6
7
-
4
-
von ihrem ursprünglichen Plan Abstand und kehrte nach Deutschland zurück, um hier einen Anschlag zu begehen.
Zu diesem Zweck betrat sie am 26. Februar 2016 gegen 16.25 Uhr das Gebäude des Hauptbahnhofs Hannover, wobei sie in einer Umhängetasche ein Gemüsemesser mit einer etwa 6 cm langen Klinge und ein Steakmesser mit einer 15 cm langen Klinge bei sich führte. Als die Streife gehenden Bundespoli-zisten Ka.

und K.

an ihr vorbeigingen, folgte sie ihnen. Als die Beamten sich gegen 17.00 Uhr am Nord-/West-Ausgang an einer Balustrade positionier-ten, blieb die Angeschuldigte einige Meter neben ihnen stehen und beobachte-te sie auffällig, um auf diese Weise eine Kontrolle zu provozieren. Nachdem der Polizeibeamte Ka.

auf die Angeschuldigte aufmerksam geworden war, kam er mit seinem Kollegen K.

überein, sie einer Personenkontrolle zu unterzie-hen. Beide gingen auf die Angeschuldigte zu und Ka.

fragte sie, ob alles in Ordnung sei und ob sie auf jemanden warte. Sodann bat er sie um ihren Aus-weis, um ihre Personalien feststellen zu
können. Die Angeschuldigte fragte da-raufhin nach dem Grund für die Kontrolle und überreichte Ka.

ein Schüler-ticket für den öffentlichen Personennahverkehr. Ka.

nahm das Ticket ent-gegen und wandte sich nach rechts von ihr ab, um es in Augenschein zu neh-men. In diesem Augenblick trat die Angeschuldigte für Ka.

völlig überra-schend einen Schritt vor, holte mit der rechten Hand aus und stach ihm mit dem Gemüsemesser gezielt oberhalb der Schutzweste, die er deutlich erkenn-bar über seiner Dienstkleidung trug, in den hinteren Halsbereich. Sie nutzte dabei bewusst aus, dass er in diesem Moment mit keinem Angriff auf seine Person rechnete. Die Angeschuldigte griff den Polizeibeamten Ka.

an, weil sie in ihm einen Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland sah, die sie als ein Gebiet des Unglaubens empfand. Sie wollte ihn töten, seine Dienstwaffe an sich nehmen und damit Schüsse auf weitere "Ungläubige" abgeben.
8
-
5
-
Unmittelbar nachdem die Angeschuldigte Ka.

den Stich versetzt hat-te, wurde sie
von dessen Kollegen K.

überwältigt, auf dem Boden fixiert und dadurch an der weiteren Verwirklichung ihres Vorhabens gehindert. Ka.

er-litt eine ca. 2,5 cm lange und 5 cm tiefe Stichverletzung im hinteren linken Halsbereich, die operativ versorgt
werden musste und lebensbedrohlich war.
b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich im Wesentlichen aus Folgen-dem:
Die Angeschuldigte hat im Ermittlungsverfahren eingeräumt, dem Poli-zeibeamten Ka.

mit dem Messer in den Hals gestochen zu haben. Im Übri-gen wird der objektive Tathergang durch die Angaben der Polizeibeamten Ka.

und K.

, die sichergestellten Videos der Überwachungskameras am Tat-ort sowie die sichergestellten Messer belegt. Die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung sowie ihre Tatmotivation (s. unten) belegen,
dass die Angeschul-digte
mit direktem Tötungsvorsatz handelte.
Aus den Tatumständen folgt zu-dem, dass sie bei der Tatausführung bewusst den Umstand ausnutzte, dass Ka.

, der sich von ihr abgewandt hatte, um das Schülerticket in Augenschein zu nehmen, sich keiner Gefahr für seine körperliche Unversehrtheit oder sein Leben versah.
Die Motivation der Angeschuldigten wird durch diverse Chatverläufe be-legt, die auf ihrem Mobiltelefon gespeichert waren. Daraus ist ersichtlich, dass sie sich spätestens seit November 2015 mit den Gewalttaten des IS identifizier-te und Terroranschläge auch außerhalb von dessen Kerngebiet befürwortete, im Januar 2016 in die Türkei reiste, um sich in Syrien dem IS anzuschließen, ihre Pläne nach Kontakten mit Mitgliedern des IS jedoch änderte und nach Deutschland zurückkehrte, um nunmehr dort einen Anschlag auf die "Ungläubi-gen" zu begehen. Ausweislich eines Chats vom 24. Januar 2016 war ihr von 9
10
11
12
-
6
-
"Brüdern aus Syrien" gesagt worden, dass dies für die Organisation "einen
größeren Nutzen" habe. Zudem liegen Chatprotokolle vor, die belegen, dass die Angeschuldigte unmittelbar vor der Tat in Kontakt mit IS-Mitgliedern stand und sich mit diesen über den Tatort, die Tatzeit, das Tatopfer und die Art der
Tatausführung abstimmte; daraus geht insbesondere hervor, dass es der An-geschuldigten bei der Tat darum ging, für den IS einen Polizeibeamten als Re-präsentanten des von ihr gehassten Landes der "Ungläubigen" zu töten, um an seine Dienstwaffe zu gelangen und damit auf weitere "Ungläubige" zu
schießen.
Wegen der weiteren Einzelheiten der den dringenden Tatverdacht be-gründenden Umstände wird auf die Ausführungen in dem Haftbefehl sowie der Anklageschrift und die dort in Bezug genommenen Beweismittel verwiesen.
c) Danach hat die Angeschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit einen versuchten Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen (§§
211, 22, 23 Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 52 StGB i.V.m. §§ 1, 3 JGG).
Die Angeschuldigte hat zunächst versucht, den Polizeibeamten Ka.

heimtückisch und aus sonstigen niedrigen Beweggründen zu töten (§§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB).
Sie handelte heimtückisch. Die Arglosigkeit des Geschädigten wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Polizeibeamte generell ein gewisses Misstrauen gegenüber zu kontrollierenden Personen hegen und dies hier darin zum Aus-druck gekommen war, dass Ka.

eine Schutzweste trug. Denn es kommt insoweit nicht auf ein allgemein begründetes Misstrauen, sondern allein darauf an, ob das Opfer im Tatzeitpunkt mit Feindseligkeiten des Täters rechnete 13
14
15
16
-
7
-
(BGH, Urteile vom 20. Oktober 1993 -
5 StR 473/93, NStZ 1994, 125, 127; vom 10. März 1995 -
5 StR 434/94, BGHSt 41, 72, 79). Das war hier nicht der Fall.
Das Verhalten der Angeschuldigten war auch von niedrigen Beweggrün-den getragen. Sie hat versucht, den Polizeibeamten Ka.

zu töten, weil er eine Gesellschaftsordnung repräsentierte, die nicht den von ihr für maßgeblich erachteten religiösen Ordnungsvorstellungen entspricht (vgl. dazu BGH, Be-schluss vom 11. Juli 2003 -
2 StR 531/02, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Niedrige Beweggründe 42).
Für die Annahme eines strafbefreienden Rücktritts von dem Mordver-such gemäß § 24 Abs. 1 StGB ist angesichts der Tatsache, dass
der Polizeibe-amte K.

die Angeschuldigte unmittelbar nach dem Zustechen zu Boden brachte und dadurch daran hinderte, erneut auf Ka.

einzustechen, kein Raum.
Durch den Stich mit dem Messer in den Hals des Geschädigten, der eine lebensbedrohliche
Verletzung zur Folge hatte, hat die Angeschuldigte außer-dem den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung verwirklicht, da sie die Tat mittels eines gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) sowie mit-tels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) beging.
Ob die Tat der Angeschuldigten
überdies als Unterstützung einer terro-ristischen Vereinigung im Ausland (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 StGB) zu bewerten ist, was zweifelhaft sein könnte, lässt der Senat of-fen; denn schon allein der Vorwurf des versuchten Mordes in Tateinheit mit ge-fährlicher Körperverletzung rechtfertigt die Fortdauer der Untersuchungshaft.
17
18
19
20
-
8
-
Die Angeschuldigte handelte verantwortlich im Sinne der §§ 1, 3 JGG. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sie zur Tatzeit nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung nicht reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Das wird durch das foren-sisch-psychiatrische Gutachten der Sachverständigen Dr. F.

vom 7. Juli 2016 bestätigt.
d) Die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und damit auch diejeni-ge des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs sowie des Oberlandesge-richts Celle ist gegeben (§ 120 Abs. 2 Nr. 2, § 142a Abs. 1 Satz 1 GVG, § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO). Die Angeschuldigte ist eines versuchten Mordes (§§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB) dringend verdächtig, der im Zusammenhang mit der Tätig-keit einer nicht oder nicht nur im Inland bestehenden Vereinigung steht, deren Zweck oder Tätigkeit die Begehung von Straftaten dieser Art zum Gegenstand hat, und der Generalbundesanwalt hat die besondere Bedeutung des Falles zu Recht bejaht (§ 120 Abs. 2 Nr. 2 GVG).
An die Annahme der besonderen Bedeutung im Sinne des § 120 GVG sind mit Blick auf
die in der Übernahmeerklärung durch den Generalbundesan-walt liegenden Bestimmung des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) und des Eingriffs in die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern (vgl. Art. 96 Abs. 5 GG) strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Januar 2009 -
AK 20/08, BGHSt 53, 128, 140 f.; vom 15.
Oktober 2013 -
StB 16/13, juris Rn. 26). Eine Katalogtat des § 120 Abs. 2 Satz 1 GVG kann selbst dann, wenn sie nach Schwere oder Umfang erhebli-ches Unrecht verwirklicht und daher staatliche Sicherheitsinteressen in beson-derer Weise beeinträchtigt, nicht allein aus diesem Grund das Evokationsrecht des Generalbundesanwalts begründen. Bei der erforderlichen Gesamtwürdi-21
22
23
-
9
-
gung sind neben dem individuellen Schuld-
und Unrechtsgehalt auch die kon-kreten Auswirkungen für die innere Sicherheit der Bundesrepublik und ihr Er-scheinungsbild gegenüber Staaten mit gleichen Wertvorstellungen in den Blick zu nehmen. Auch ist zu beachten, welche Signalwirkung von der Tat für poten-tielle Nachahmer ausgeht (BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2007 -
StB 12, 13 und 47/07, NStZ 2008, 146, 147).
Daran gemessen hat der Generalbundesanwalt eine besondere Bedeu-tung des Falles zu Recht bejaht. Die Angeschuldigte hat einen Bundespolizis-ten
mit Tötungsvorsatz angegriffen und erheblich verletzt. Sie war zuvor in die Türkei gereist, um sich von dort aus nach Syrien schleusen zu lassen und im Kalifat des IS zu leben. Diesen Plan gab sie auf Anraten von Mitgliedern des IS auf, um in Deutschland einen Anschlag zu begehen. Ihre Tat war von ihrer
radikal-islamistischen Grundhaltung getragen. Straftaten von Personen mit
diesem Hintergrund haben in den letzten Jahren in der gesamten Bevölkerung Aufsehen, aber auch Verunsicherung hervorgerufen und zu
einem allgemeinen Gefühl der Bedrohung geführt.
Dem steht nicht entgegen, dass es sich bei der Angeschuldigten um eine Jugendliche handelt, da die Zuständigkeit der Jugendgerichte gemäß § 102 Satz 1 JGG hinter diejenige der Oberlandesgerichte zurücktritt (vgl. BGH, Urteil vom 22. Dezember 2000 -
3 StR 378/00, BGHSt 46, 238, 256).
2. Es besteht jedenfalls der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO i.V.m. § 2 Abs. 2, § 72 JGG. Es sind Umstände gegeben, welche die Gefahr begründen, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung der Angeschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft auch
bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Vorschrift (vgl. Meyer-24
25
26
-
10
-
Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO gestützt werden kann.
Die Angeschuldigte hat im Falle ihrer Verurteilung mit einer hohen Ju-gendstrafe zu rechnen. Dem davon ausgehenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Insbesondere sind die persönlichen und familiären Bindungen der Angeschuldigten nicht geeignet, den Fluchtanreiz zu relativieren. Sie haben sie nicht davon abgehalten, schon einmal in die Türkei auszureisen, um sich in das Herrschaftsgebiet des IS schleusen zu lassen und sich der Organisation anzuschließen. Sie hat dabei trotz ihres jugendlichen Alters eine außergewöhnliche Handlungskompetenz gezeigt. So gelang es ihr, mit Hilfe einer von ihr gefälschten Vollmacht per Flugzeug in die Türkei zu reisen und ihre Schleusung in das Herrschaftsgebiet des IS dort so weit vorzubereiten, dass deren Umsetzung unmittelbar bevor-stand. Zudem war sie in der Lage, sich konspirativ zu verhalten und beispiels-weise mittels "geheimer Chats" zu kommunizieren. Überdies
ist nicht ersicht-lich, dass die Angeschuldigte ihre religiös-fanatische Motivation, die ihrem Be-streben, sich dem IS anzuschließen bzw. diese Organisation durch einen An-schlag in Deutschland zu unterstützen, zugrunde lag, aufgegeben hat. Schließ-lich geht aus Angaben der Angeschuldigten gegenüber dem Leiter der Justiz-vollzugsanstalt hervor, dass sie sich Gedanken über eine Flucht macht. In An-betracht dessen ist zu befürchten, dass sie sich, sollte sie in Freiheit gelangen, dem Strafverfahren entziehen wird.
Eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder andere Maßnahmen (§ 72 Abs. 1 Sätze 1 und 3, § 71 JGG) sind nicht geeignet, den Zweck der Un-tersuchungshaft in gleicher Weise zu erfüllen (§ 72 Abs. 4 JGG). Der Erlass eines Unterbringungsbefehls gemäß § 71 Abs. 2 JGG oder eine mit Auflagen 27
28
-
11
-
nach § 116 StPO, § 2 Abs. 2 JGG verbundene Haftverschonung kommen nicht in Betracht. Diese Maßnahmen erfordern die Gewissheit, dass der Betroffene für sie zugänglich ist (vgl. KG, Beschluss vom 15. September 2009 -
4 Ws 103/09, ZJJ 2010, 74); davon kann bei der Angeschuldigten in Anbetracht ihrer religiös motivierten Ablehnung der hiesigen Gesellschaftsordnung nicht ausge-gangen werden. Heime der Jugendhilfe sind zudem nicht in gleicher Weise fluchtsicher wie Jugendhaftanstalten.
3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersu-chungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Die be-sondere Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen. Die Sachakten umfassen inzwischen 47 Stehordner. Nach der Übernahme des Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesan-walt waren umfangreiche Ermittlungen veranlasst. So waren elektronische As-servate der Angeschuldigten mit erheblichen Datenmengen auszuwerten.
Die Ergebnisse der Auswertungen lagen Ende Juli 2016 vor. Daneben musste ein Gutachten über die Schuldfähigkeit der Angeschuldigten eingeholt werden, das seit Anfang Juli 2016 vorliegt. Überdies waren umfangreiche Ermittlungen zu den Kontaktpersonen der Angeschuldigten erforderlich. Nach Eingang weiterer Auswertevermerke des Bundeskriminalamtes und der Polizeidirektion Hannover
am 22. Juli 2016 wurde die Anklageschrift unter dem 10. August 2016 und da-mit innerhalb von fünf Monaten nach der Festnahme fertiggestellt.
Die Anklageschrift ist am 12. August 2016 beim Oberlandesgericht Celle eingegangen. Der Vorsitzende des zuständigen 4. Strafsenats des Oberlan-desgerichts Celle hat am 18. August 2016 die Zustellung der Anklageschrift an die Angeschuldigte und ihre Verteidiger angeordnet und zugleich eine Erklä-rungsfrist gemäß § 201 Abs. 1 StPO von vier Wochen verfügt. Er hat außerdem 29
30
-
12
-
darauf hingewiesen, dass für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens vor-gesehen sei, mit der Hauptverhandlung am 20. Oktober 2016 zu beginnen.
In Anbetracht dessen ist das Verfahren bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.
4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht auch mit Rücksicht auf die besonderen Belastungen, die dieser für die erst 16 Jahre und zwei Mo-nate alte Angeschuldigte zur Folge hat, nicht außer Verhältnis zu der Bedeu-tung der Sache und der im Falle der Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 72 Abs. 1 Satz 2 JGG).
Becker

Schäfer Tiemann

31
32

Meta

AK 47/16

22.09.2016

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Sachgebiet: False

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.09.2016, Az. AK 47/16 (REWIS RS 2016, 5081)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5081

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

AK 47/16 (Bundesgerichtshof)

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate: Evokationsrecht des Generalbundesanwalts bei Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im …


AK 74/17 (Bundesgerichtshof)


AK 22/18 (Bundesgerichtshof)


AK 27/22 (Bundesgerichtshof)

Versuchter Mord: Anforderungen an das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes


AK 1/15 (Bundesgerichtshof)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.