Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.11.2010, Az. 1 BvR 722/10

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2010, 1647

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung der Berufsfreiheit (Art 12 Abs 1 GG iVm Art 19 Abs 3 GG) sowie der Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 GG iVm Art 19 Abs 3 GG) durch unzureichende Abwägung und unhaltbarer Annahme einer konkreten Gefahr bei Anordnung der sofortigen Vollziehung des Entzugs der Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung gem § 95 Abs 6 SGB 5 - hier: Unregelmäßigkeiten in Abrechnung eines Medizinischen Versorgungszentrums


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 20. November 2009 - [X.] KA 673/09 ER - und der Beschluss des [X.] vom 9. Februar 2010 - L 7 KA 169/09 [X.] - verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Artikel 12 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 4 jeweils in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] vom 9. Februar 2010 - L 7 KA 169/09 [X.] - wird aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] [X.] zurückverwiesen.

2. ...

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die sofortige Vollziehung einer Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung.

2

1. a) Die Beschwerdeführerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Sie betreibt in [X.] ein Medizinisches Versorgungszentrum, also eine fachübergreifende ärztlich geleitete Einrichtung, in denen in das [X.] eingetragene Ärzte als Angestellte oder Vertragsärzte tätig sind. Die Anstellung von Ärzten bedarf der Genehmigung des [X.] für Ärzte nach § 95 Abs. 2 Satz 7 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung ([X.]). Das [X.] wurde im April 2008 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Im vierten Quartal 2008 - in diesem Zeitpunkt waren bei der Beschwerdeführerin 14 Ärzte angestellt - traten verschiedene Unregelmäßigkeiten bei der Honorarabrechnung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung [X.], der Antragstellerin des [X.] (im Folgenden: Antragstellerin), auf. So wurden für drei Ärzte Positionen der Gebührenordnung abgerechnet, obwohl die Anstellung dieser Ärzte erst zum 1. Januar 2009 genehmigt worden war. Ferner wurden Gebührenpositionen unter der jedem Arzt zugeteilten "lebenslangen Arztnummer" einer nicht im Medizinischen Versorgungszentrum der Beschwerdeführerin beschäftigten Ärztin abgerechnet sowie weitere Abrechnungen unter drei bundesweit nicht vergebenen Arztnummern getätigt. Der Antragstellerin fielen die Fehlabrechnungen auf, so dass es nicht zu einer Auszahlung entsprechender Honorare kam. Die Beschwerdeführerin räumte den Sachverhalt im Wesentlichen ein und erklärte, die Ursachen lägen in einem fehleranfälligen [X.], einer unzureichenden Schulung der mit der Abrechnung befassten Mitarbeiter und einer allgemeinen Belastungssituation wegen eines [X.]. Diese Mängel seien zwischenzeitlich behoben.

3

b) Auf Antrag der Antragstellerin entzog der Zulassungsausschuss für Ärzte der Beschwerdeführerin gestützt auf [ref=3b202713-ac56-4149-8176-a2a4464daae2]§ 95 Abs. 6 [X.][/ref] die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung, weil sie ihre vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt habe.

4

c) In der Folgezeit wurde der Widerspruch der Beschwerdeführerin durch den Berufungsausschuss für Ärzte zurückgewiesen und die Zulassung mit Wirkung "ab Zustellung dieses Beschlusses" entzogen. Die sofortige Vollziehung wurde nicht angeordnet. Die Beschwerdeführerin habe ihre vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt, indem sie Ärzte ohne die erforderliche Genehmigung nach § 95 Abs. 2 Satz 7 [X.] beschäftigt und durch Verwendung falscher Arztnummern gegen das Gebot zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen habe. Soweit behauptet werde, es handele sich um bloße technische Abrechnungsfehler, sei dieses Vorbringen nicht überzeugend. Durch die Pflichtverletzungen sei das Vertrauen der Antragstellerin und der Krankenkassen in die ordnungsgemäße Behandlung der Versicherten und die Rechtmäßigkeit der Abrechnungen so gestört, dass diesen eine weitere Zusammenarbeit nicht zumutbar sei.

5

d) Gegen diesen Beschluss erhob die Beschwerdeführerin Klage. Im Hinblick auf deren aufschiebende Wirkung beantragte die Antragstellerin beim Sozialgericht die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des [X.]gesetzes (SGG). Die Beschwerdeführerin war an diesem gegen den Berufungsausschuss gerichteten Verfahren als Beigeladene beteiligt.

6

Das Sozialgericht gab dem Antrag durch den angegriffenen Beschluss vom 20. November 2009 statt. Voraussetzung für die Anordnung sei, dass der Beschluss offensichtlich rechtmäßig sei und ein öffentliches Interesse bestehe, ihn bereits vor Eintritt der Bestandskraft zu vollziehen. Die Anforderungen an das öffentliche Interesse dürften allerdings nicht überspannt werden. Denn die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln gegen eine Zulassungsentziehung habe zur Folge, dass der betroffene Arzt uneingeschränkt zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen sei und das abgerechnete Honorar behalten dürfe. Dem Anreiz, auch gegen ersichtlich rechtmäßige Zulassungsentziehungen zu klagen, um so lange wie möglich Einnahmen zu erzielen, könne und dürfe in eindeutigen Fällen durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung entgegengewirkt werden. Hiervon ausgehend, lägen die Voraussetzungen für die Anordnung des [X.] vor. Die Zulassungsentziehung sei offensichtlich rechtmäßig. Es bestehe auch ein hinreichendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit. Wegen der zerstörten Vertrauensbasis zur Antragstellerin und den Krankenkassen sei es notwendig, dass die Beschwerdeführerin mit sofortiger Wirkung keine weiteren Abrechnungsmöglichkeiten mehr habe. Die Anordnung diene weiter auch dem Interesse der Versichertengemeinschaft, mit ihren Beiträgen einem Leistungserbringer, dem bereits die Zulassung in rechtmäßiger Weise entzogen worden sei, keine weiteren Einkommensmöglichkeiten mehr zu eröffnen. Im Übrigen sehe die Kammer auch die Gefahr, dass die Abrechnungsfehler sich während der Dauer des Gerichtsverfahrens wiederholen könnten, weil die von der Beschwerdeführerin verantwortlich gemachten übereifrigen Mitarbeiter bisher weder entlassen noch sonst von ihren Aufgaben entbunden worden seien. Die Beschwerdeführerin habe nicht vorgetragen, wie sie ihren Pflichten zukünftig besser nachkommen wolle und wer aus dem Gesellschafterkreis oder der Geschäftsführung persönlich für die Einhaltung der notwendigen Abrechnungsstandards garantieren könne und solle.

7

e) Das [X.] wies die Beschwerde mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 9. Februar 2010 mit der Maßgabe, dass die sofortige Vollziehung mit Wirkung zum 1. April 2010 angeordnet werde, zurück. Ob die sofortige Vollziehung anzuordnen sei, entscheide sich nach Gegenüberstellung der Interessen der Antragstellerin und der Beschwerdeführerin. Je höher die Erfolgsaussichten der Klage seien, umso höher seien auch die Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Selbst bei einer offensichtlich aussichtslosen Klage sei jedoch ein über den Erlass des Verwaltungsakts hinausgehendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung erforderlich. Hier sei die Klage offensichtlich aussichtslos. Das Sozialgericht habe im Ergebnis zu Recht die sofortige Vollziehung der Zulassungsentziehung angeordnet, weil hieran ein besonderes öffentliches Interesse bestehe. Allerdings greife die Anordnung in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin und in die Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG ein. Für die Beschwerdeführerin handele es sich de facto um einen Eingriff in die Berufswahl, weil sie als Gesellschaft mit beschränkter Haftung berufsrechtlich nicht weiterhin als ärztliche Berufsausübungsgemeinschaft tätig sein könne. Sowohl spezial- als auch generalpräventive Überlegungen könnten in die Prüfung des öffentlichen Interesses einbezogen werden. Die sofortige Vollziehung verfolge in [X.] Hinsicht das Ziel, keinen Anreiz zur Nachahmung zu schaffen und beuge so einer weiteren gesetzwidrigen Entwicklung vor. Im vorliegenden Fall liege das besondere öffentliche Interesse in der konkreten Gefährdung für das wichtige Gemeinschaftsgut der Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung. Die Pflicht des Vertragsarztes zur peinlich genauen Abrechnung gehöre zu den essentiellen Grundlagen des Systems der vertragsärztlichen Versorgung. Das - hier gravierend gestörte - Vertrauen der Antragstellerin und der Krankenkassen in die ordnungsgemäße Abrechnung sei von entscheidender Bedeutung, weil ordnungsgemäße Leistungserbringung und Abrechnung lediglich in einem beschränkten Umfang der Überprüfung derjenigen zugänglich seien, die die [X.] zu tragen hätten. Hinzu komme, dass nach den Besonderheiten des vertragsärztlichen [X.] unberechtigte Honorarforderungen eines Arztes zu Honorarverlusten bei anderen Ärzten führten. Diese Gefahren würden verwirklicht, dürfte die Beschwerdeführerin auch nur bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens weiterhin an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. Insoweit lasse der Senat offen, ob die eher spezialpräventiven Überlegungen des [X.], welches vor allem auf eine Wiederholungsgefahr abgestellt habe, nach dem Beschwerdevorbringen zu den zwischenzeitlich veranlassten Veränderungen - neuer ärztlicher Leiter, neuer Standortmanager, Schulungen aller Mitarbeiter - noch Bestand haben könnten. Denn generalpräventive Erwägungen zur Wahrung der finanziellen Stabilität der vertragsärztlichen Versorgung rechtfertigten die Anordnung der sofortigen Vollziehung, um hierdurch alle anderen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Vertragsärzte und - in besonderem Maße - Medizinische Versorgungszentren vor ähnlichem Verhalten zu warnen und abzuschrecken. Anlass hierzu sehe der Senat, nachdem ihm aktuell durch mehrere Verfahren, an denen Medizinische Versorgungszentren beteiligt gewesen seien, die enorme Missbrauchsgefahr im Zusammenhang mit der den [X.] eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten vor Augen geführt worden sei. Diese Gefahren hätten sich vorliegend in exemplarischer Form realisiert. Es werde nicht verkannt, dass der Sofortvollzug für die Beschwerdeführerin schwerwiegende finanzielle Nachteile befürchten lasse. Angesichts des Gewichts der Verfehlungen und der offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Zulassungsentziehung müssten diese aber hinter der anderenfalls dringend gefährdeten Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung zurückstehen. Allerdings müsse der Beschwerdeführerin eine Auslauffrist zugebilligt werden, innerhalb der die bei ihr angestellten Ärzte die Möglichkeit hätten, begonnene Therapien zumindest zu einem teilweisen Abschluss zu bringen und eine geordnete Überleitung zu einer anderen Behandlung sicherzustellen.

8

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4, jeweils in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG, durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Beschlusses des [X.] und die Entscheidung des [X.]s, soweit diese den erstinstanzlichen Beschluss bestätigt.

9

3. Der [X.] des Landes [X.], der Kassenärztlichen Vereinigung [X.] und den im Ausgangsverfahren Beigeladenen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Akten des [X.] waren beigezogen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das [X.] bereits geklärt (vgl. zu Art. 12 Abs. 1 GG: [X.] 44, 105 <117 ff.>; vgl. zu Art. 19 Abs. 4 GG: [X.] 35, 263 <274 f.>; 35, 382 <401 f.>; 93, 1 <13>). Die Verfassungsbeschwerde ist zudem offensichtlich begründet.

1. a) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch das Sozialgericht und der Beschluss des [X.]s verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG.

aa) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der vertragsärztlichen Zulassung greift in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin ein. Die - durch den landessozialgerichtlichen Beschluss bestätigte - Abweichung von der im Gesetz grundsätzlich vorgesehenen aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG) stellt einen selbständigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG dar (vgl. [X.], 89 <93>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2157/07 -, [X.], S. 1369). Der Beschwerdeführerin wird schon vor der rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache jedenfalls die Möglichkeit genommen, sich vertragsärztlich zu betätigen. Damit liegt jedenfalls eine der Berufswahl nahekommende Berufsausübungsregelung vor, die nur zur Sicherung besonders wichtiger Interessen der Allgemeinheit zulässig ist (vgl. [X.] 11, 30 <45>; 12, 144 <147>; auch [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 31. März 1998 - 1 BvR 2167/93 u.a. -, juris ).

bb) Da die durch den Sofortvollzug bewirkten Beschränkungen angesichts des hohen Anteils der gesetzlich krankenversicherten Patienten einem vorläufigen Berufsverbot zumindest nahekommen, sind sie - wie dieses - nur unter strengen Voraussetzungen zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige [X.] und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl. [X.] 44, 105 <117 ff.>). Allein die hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Hauptsacheverfahren zum Nachteil des Betroffenen ausgehen wird, reicht mithin nicht aus. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung setzt vielmehr voraus, dass überwiegende öffentliche Belange es auch mit Blick auf die Berufsfreiheit des Betroffenen rechtfertigen, seinen [X.] gegen die Grundverfügung einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit schon vor Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens konkrete Gefahren für wichtige [X.] befürchten lässt (vgl. [X.] 44, 105 <117 f.>; [X.], 89 <94>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. Dezember 2007, [X.], S. 1369 m.w.N.).

cc) Diesen Anforderungen entsprechen die angegriffenen Entscheidungen nicht in jeder Hinsicht.

(1) Das Sozialgericht stützt das von ihm angenommene öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung zwar auch auf die Gefahr, dass die Abrechnungsfehler sich während der Dauer des Gerichtsverfahrens wiederholen könnten, und geht damit von einem Aspekt aus, der grundsätzlich geeignet ist, die Anordnung des [X.] zu rechtfertigen. Denn mit der Annahme, es seien zwischenzeitlich erneute fehlerhafte Abrechnungen zu befürchten, nimmt das Gericht eine konkrete Gefahr für ein schutzwürdiges Gemeinschaftsgut in den Blick. Die Verlässlichkeit des Abrechnungssystems ist eine der Bedingungen für das Funktionieren der vertragsärztlichen Versorgung und dient damit der Sicherung eines besonders wichtigen Allgemeininteresses, das Beschränkungen des Art. 12 Abs. 1 GG grundsätzlich auch im Rahmen des [X.] erlaubt (vgl. nur [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 26. Januar 1995 - 1 BvR 2438/94 -, juris ).

Soweit das Gericht eine konkrete Gefahr bejaht, fehlt es jedoch an einer ausreichenden, den Anforderungen des [ref=ad2cc177-4297-4ce5-8202-cc4d665e91b9]Art. 12 Abs. 1 [X.]] genügenden Abwägung der für beziehungsweise gegen die Verwirklichung einer solchen Gefahr sprechenden Gesichtspunkte. Das Sozialgericht berücksichtigt bei seiner Prüfung ausschließlich die für die Beschwerdeführerin ungünstigen Umstände, während die für sie günstigen Aspekte - wie die Entbindung des Standortmanagers von seiner Funktion und die Beauftragung eines Unternehmens, das die zukünftigen Abrechnungen überprüfen soll - keine Erwähnung finden. Auch die für die Beurteilung einer möglichen Wiederholungsgefahr in der Regel gebotenen Feststellungen dazu, ob seit dem Entzug der Zulassung erneut Abrechnungsfehler aufgetreten sind, fehlen gänzlich.

(2) Die Entscheidung des [X.]s leidet daran, dass das Gericht bei der Prüfung des öffentlichen Interesses für die Anordnung des [X.] ein Verständnis von dem Vorliegen einer "konkreten Gefahr" zugrunde legt, das verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht wird. Das Gericht überdehnt den Begriff in zweifacher Weise. Zum einen begründet es die Notwendigkeit des [X.] ausschließlich mit der gebotenen Abschreckungswirkung für andere Vertragsärzte und insbesondere Medizinische Versorgungszentren, sieht also die sofortige Vollziehung als Mittel der Generalprävention. Dabei stützt es sich jedoch auf eine Gefahrenlage, die von der Beschwerdeführerin weder verursacht wurde noch ihr aus sonstigen Gründen zugerechnet werden kann. Somit fehlt es an dem zur Rechtfertigung des Eingriffs notwendigen Zusammenhang zwischen einer weiteren beruflichen Betätigung der Beschwerdeführerin und der Gefährdung wichtiger [X.]. Zum anderen wird selbst im Hinblick auf die anderen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und die [X.] keine konkrete Gefahr von Missständen dargelegt. Das [X.] beschreibt insoweit nur, unter Bezugnahme auf vergangene, von ihm offenbar bereits entschiedene Fälle, bestimmte Konstellationen, die die abstrakte Gefahr eines Missbrauchs bergen. Solchen Gefahren ist aber nicht durch die Anordnung vorläufiger Berufsverbote oder vergleichbar wirkender Maßnahmen zu begegnen. Vielmehr sind sowohl der Gesetzgeber aufgerufen, einer missbräuchlichen Verwendung rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten durch entsprechende Anpassung der zugrunde liegenden Normen entgegenzuwirken, als auch die Verwaltung auf die Einhaltung der geltenden Vorschriften zu achten. Soweit, wie die Antragstellerin behauptet, nur unzureichende Kontrollmöglichkeiten bestehen, sind diese zu verbessern, rechtfertigen aber keine Ausdehnung der gerichtlichen Befugnisse zur Anordnung des [X.].

Im Übrigen hat das [X.] die Nachteile, die der Beschwerdeführerin durch den Sofortvollzug drohen, auch nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Abwägung eingestellt. Das Gericht spricht lediglich von "schwerwiegenden finanziellen Nachteilen", womit die Bedeutung des schwerwiegenden Eingriffs in die Berufsfreiheit, der einem vorläufigen Berufsverbot gegenüber der Beschwerdeführerin zumindest nahekommt, nur unzureichend zum Ausdruck gebracht wird. Den Interessen der Beschwerdeführerin wird zudem nur pauschal eine dringende Gefahr für die Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung gegenüber gestellt. Eine wertende Gewichtung beider Gesichtspunkte, zu der grundsätzlich auch Feststellungen zur Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gehören müssten, findet nicht statt.

b) Zugleich verletzen die Entscheidungen des [X.] und des [X.]s das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG.

Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Grundrechtsträger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. [X.] 35, 263 <274>; 35, 382 <401 f.>; 93, 1 <13>; stRspr). Der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kommt daher nicht nur die Aufgabe zu, jeden Akt der Exekutive, der in Rechte des Grundrechtsträgers eingreift, vollständig der richterlichen Prüfung zu unterstellen, sondern auch irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen (vgl. [X.] 35, 263 <274>). Allerdings können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den [X.] des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dabei ist der [X.] umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung [X.] bewirken (vgl. [X.] 35, 382 <402>).

Diesen Voraussetzungen genügen die angegriffenen Entscheidungen wegen der unhaltbar begründeten Annahme einer konkreten Gefahr für [X.] während der Dauer des Hauptsacheverfahrens und wegen der unzureichenden Abwägung der gegenläufigen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht.

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den festgestellten Verstößen gegen Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG.

Es erscheint angezeigt, gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] nur den Beschluss des [X.]s aufzuheben und die Sache dorthin zurückzuverweisen. Das dient dem Interesse der Beschwerdeführerin, möglichst rasch eine das Verfahren abschließende Entscheidung zu erhalten.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

1 BvR 722/10

08.11.2010

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 9. Februar 2010, Az: L 7 KA 169/09 B ER, Beschluss

Art 12 Abs 1 GG, Art 19 Abs 3 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 95 Abs 2 S 7 SGB 5, § 95 Abs 6 SGB 5, § 86 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.11.2010, Az. 1 BvR 722/10 (REWIS RS 2010, 1647)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 1647

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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