Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.10.2020, Az. B 3 KR 18/20 B

3. Senat | REWIS RS 2020, 2484

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Gegenstand

(Krankenversicherung - Vorliegen einer schweren Erkrankung iS von § 2 Abs 1a SGB 5hier: drohende Erblindung)


Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 18. Februar 2020 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe

1

I. Das [X.] hat mit Urteil vom 18.2.2020 den Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung für ihre Behandlung mit der [X.] ([X.]) und dem [X.]®-System nebst Kostenübernahme für die zukünftige Therapie bestätigt: Die bei der [X.]n krankenversicherte Klägerin leide ua an einer erblich bedingten Netzhauterkrankung (Retinitis pigmentosa beidseits). Die Erkrankung führe in den meisten Fällen zur Erblindung. Der Einsatz der [X.] ziele darauf ab, durch elektrische Reize der Netzhaut mittels einer Hornhautelektrode den Untergang der Sinneszellen zu verlangsamen und die Sehleistung der Betroffenen länger zu erhalten. Bei dem [X.]®-System handele es sich um ein CE-gekennzeichnetes Medizinprodukt der Risikoklasse IIa. Der Gemeinsame Bundesausschuss ([X.]) habe am [X.] hierzu die "Richtlinie zur Erprobung der Transkornealen Elektrostimulation bei [X.]" erlassen (BAnz [X.]). Der Sachleistungsanspruch der Klägerin beruhe auf § 33 Abs 1 Satz 1 [X.] iVm § 2 Abs 1a [X.]. Das Hilfsmittel sei untrennbarer Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung iS von § 33 Abs 1 Satz 1 Var 1 [X.]. Eine Behandlung im Rahmen der vom [X.] beschlossenen Erprobungsrichtlinie für [X.]® sei nicht möglich, da die Erkrankung der Klägerin bereits sehr weit fortgeschritten sei. Es liege daher ein Ausnahmefall vor, der keiner Empfehlung des [X.] bedürfe. Die Klägerin könne sich auf die strengen Voraussetzungen der Schwere einer Erkrankung iS von § 2 Abs 1a [X.] berufen, zu der auch der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion zähle. Die Klägerin gelte bereits als blind im Sinne des Gesetzes. Der weit fortgeschrittene Krankheitsverlauf stelle eine notstandsähnliche Situation mit einem gewissen Zeitdruck dar, denn jede weitere Verschlechterung führe angesichts des sehr geringen vorhandenen Restsehvermögens zu einem irreparablen Schaden.

2

Die [X.] hat Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] eingelegt. Sie beruft sich auf eine Rechtsprechungsabweichung iS von § 160 Abs 2 [X.] SGG.

3

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die [X.] das Vorliegen einer Divergenz - den gesetzlichen Anforderungen entsprechend - nicht hinreichend aufgezeigt hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

4

Divergenz liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das [X.] einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des [X.], des [X.] oder des [X.] aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn das Urteil des [X.] nicht den Kriterien entspricht, die das [X.] aufgestellt hat, sondern erst, wenn das [X.] diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 [X.] SGG). Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des [X.] enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das [X.] die oberstgerichtliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, vgl zum Ganzen: [X.] [X.] 4-1500 § 160 [X.] Rd[X.] 17; [X.] [X.] 4-1500 § 160 [X.] Rd[X.] 4; [X.] [X.] 1500 § 160a [X.] ff; [X.] [X.] 1500 § 160a [X.] 14 S 22).

5

Die [X.] rügt, dass das [X.] von folgenden Ausführungen im Urteil des [X.] vom 14.12.2006 ([X.] KR 12/06 R - [X.] 4-2500 § 31 [X.] Rd[X.]0) abgewichen sei:

"Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten."

6

Demgegenüber habe das [X.] ([X.] der Entscheidungsgründe) ausgeführt:

"dass eine notstandsähnliche Situation mit einem gewissen Zeitdruck vorliege, da angesichts des nur noch sehr geringen Restsehvermögens jede weitere Verschlechterung zu einem irreparablen Schaden führe. Der Annahme einer notstandsähnlichen Situation stehe nicht entgegen, dass der Zeitpunkt der vollständigen Erblindung im Sinne einer fehlenden Lichtwahrnehmung nicht genau prognostiziert werden könne."

7

Hierzu führt die [X.] weiter aus, dass eine drohende Erblindung zwar grundsätzlich als wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung in Betracht komme, während hochgradige Sehstörungen nach der Rechtsprechung des [X.] nicht gleichzustellen seien (Hinweis auf [X.]E 106, 81 = [X.] 4-1500 § 109 [X.], Rd[X.]1). Die drohende Erblindung in 20 bis 30 Jahren wegen Stoffwechselstörung sei zB nicht als notstandsähnliche extremste Situation gewertet worden (Hinweis auf [X.] Beschluss vom 26.9.2006 - [X.] KR 16/06 B).

8

Das [X.] habe hier das höchstrichterlich geprägte Zeitmoment nicht hinreichend berücksichtigt, weil es bereits die Wahrscheinlichkeit des Fortschritts einer schwerwiegenden Erkrankung habe genügen lassen, um die Voraussetzungen von § 2 Abs 1a [X.] zu bejahen. Diese Bewertung stimme nicht mit den rechtlichen Maßstäben des [X.] überein. Das [X.] hätte daher den Leistungsanspruch nach § 2 Abs 1a Satz 1 [X.] ablehnen müssen.

9

Mit diesem Vortrag hat die [X.] eine Divergenz nicht hinreichend bezeichnet.

Das [X.] hat die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem sog [X.] des [X.] vom 6.12.2005 ([X.]E 115, 25, 49 = [X.] 4-2500 § 27 [X.] Rd[X.]3) zum Anspruch auf Krankenbehandlung in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung in der Folgezeit näher konkretisiert und hat dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (vgl zuletzt [X.] Urteil vom 19.3.2020 - [X.] KR 22/18 R - juris Rd[X.]0). Eine drohende Erblindung kommt als eine solche Erkrankung in Betracht (vgl [X.]E 106, 81 = [X.] 4-1500 § 109 [X.], Rd[X.]1; [X.]E 96, 153 = [X.] 4-2500 § 27 [X.], Rd[X.]1); hochgradige Sehstörungen reichen demgegenüber noch nicht aus (vgl [X.] [X.] 4-2500 § 27 [X.] Rd[X.] ff zur starken Kurzsichtigkeit kombiniert mit Astigmatismus bei [X.] und Brillenunverträglichkeit).

Das [X.] hat die og maßgebliche Rechtsprechung des [X.] seiner Entscheidung zugrunde gelegt, insbesondere auch zu den rechtlichen Anforderungen an eine notstandsähnliche Situation. Es hat sich daher im Ausgangspunkt nicht mit dem vom [X.] vorgegebenen Maßstab in Widerspruch gesetzt. Das Vorliegen der Schwere einer Erkrankung iS von § 2 Abs 1a [X.] erfordert in zeitlicher Hinsicht eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (stRspr, vgl [X.] [X.] 4-2500 § 31 [X.] Rd[X.]0; [X.]E 100, 103 = [X.] 4-2500 § 31 [X.], Rd[X.]2; [X.] [X.] 4-2500 § 2 [X.] und Rd[X.]1), sodass Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (vgl nur [X.] Beschluss vom 11.4.2017 - 1 BvR 452/17 - [X.] 4-2500 § 137c [X.] = NJW 2017, 2096 = NZS 2017, 582, Rd[X.]5).

Entgegen den Darlegungen der [X.]n hat das [X.] hier nicht bereits die bloße Wahrscheinlichkeit des bloßen Fortschritts einer schwerwiegenden Erkrankung genügen lassen. Es hat vielmehr das höchstrichterlich geprägte Zeitmoment herangezogen und hat einen hinreichend konkreten Prognosezeitraum angenommen. Unter Bezugnahme auf die Einschätzung der Fachärztin S. vom 1.10.2019, die zur Schwere des Krankheitsverlaufs durch das [X.] zuletzt befragt worden ist, hat es eine weitere irreparable Verschlechterung des Sehvermögens "innerhalb der nächsten Monate" für sehr wahrscheinlich gehalten. Es ist im Rahmen des im angestrebten Revisionsverfahren maßgebenden [X.] (vgl § 163 SGG) sowie im Hinblick auf die für das Beschwerdeverfahren geltenden Einschränkungen (vgl § 160 Abs 2 [X.] Halbsatz 2 iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG) nicht zu beanstanden, dass das [X.] die notstandsähnliche Situation hier auf den irreparablen Schaden des Verlusts der geringen Restsehfähigkeit bezogen hat. Die [X.] wird gezielt zur Verlangsamung des irreparablen Verlusts der Sehfähigkeit eingesetzt. Das [X.] hat insoweit für den weiteren Gang der Prüfung bindend festgestellt, dass auch ein noch so geringes Restsehvermögen für die Klägerin von überragender Bedeutung sei. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen hat das [X.] die Situation in seiner Subsumtion auf den Fall der Klägerin daher als notstandsähnlich beurteilt: Einerseits habe bei ihr die hohe Wahrscheinlichkeit einer weiteren irreparablen Verschlechterung des nur noch sehr geringen Restsehvermögens innerhalb eines konkreten Prognosezeitraumes bestanden und andererseits habe ein gewisser Zeitdruck vorgelegen, weil Aussicht auf Verzögerung des fortschreitenden Verlaufs der Erkrankung und damit auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestanden habe.

Wenn die [X.] sinngemäß zugleich geltend macht, dass das [X.] unzutreffend von einer notstandsähnlichen Situation ausgegangen sei, so stellt dieser Vortrag lediglich eine im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein unzulässige Rüge der richterlichen Beweiswürdigung dar (§ 160 Abs 2 [X.] Halbsatz 2 iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG), die der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen kann. Im Übrigen ist es für eine [X.] nicht ausreichend, wenn nur die im Einzelfall als fehlerhaft gerügte Anwendung eines höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Berufungsgericht geltend gemacht wird (sog bloße Subsumtionsrüge, stRspr, vgl nur [X.] Beschlüsse vom [X.] [X.] 18/07 B - juris Rd[X.] 17 und vom [X.] [X.] 6/09 B - juris Rd[X.]).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

Meta

B 3 KR 18/20 B

27.10.2020

Bundessozialgericht 3. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Stuttgart, 18. Juni 2019, Az: S 9 KR 1689/18, Urteil

§ 2 Abs 1a SGB 5

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.10.2020, Az. B 3 KR 18/20 B (REWIS RS 2020, 2484)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2484

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvR 452/17

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