Bundessozialgericht, Urteil vom 27.03.2012, Az. B 2 U 7/11 R

2. Senat | REWIS RS 2012, 7726

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Gegenstand

Gesetzliche Unfallversicherung - Unfallversicherungsschutz - versicherte Tätigkeit - Hilfeleistung - gemeine Gefahr - Straßenverkehr - Gegenstand auf der Fahrbahn - Metallrohr - Überholspur - Handlungstendenz - Wege in und aus dem Gefahrenbereich


Leitsatz

Das Betreten der Autobahn in der Absicht, einen den Straßenverkehr objektiv gefährdenden Gegenstand zu beseitigen, ist als Hilfeleistung bei gemeiner Gefahr gesetzlich unfallversichert.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 23. Februar 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalls.

2

Der Kläger war am 28.9.2006 mit seinem Kraftfahrzeug auf der [X.] in Richtung [X.] unterwegs. Er hielt sein Fahrzeug in Höhe des [X.] 600,120 auf dem Standstreifen an, stieg aus und holte ein Kurbelstützrad von der Fahrbahn, das ein vorausfahrender LKW verloren hatte. Danach überquerte er erneut die Fahrbahn, um auch die [X.] zu entfernen. Dieses ca 30 cm lange Metallrohr lag außerhalb der Fahrbahn neben der Mittelleitplanke und ragte bis an den Rand der Überholspur. Auf der Fahrbahn wurde der Kläger von einem VW-Bus erfasst. Dabei erlitt er ein Schädelhirntrauma und diffuse Hirnkontusionen mit Gedächtnisverlust sowie zahlreiche Frakturen.

3

Die Beklagte lehnte die Feststellung eines Arbeitsunfalls ab, weil von der Führungshülse keine Gefahr iS des § 2 Abs 1 [X.] Buchst a SGB VII für andere Verkehrsteilnehmer ausgegangen sei (Bescheid vom 21.2.2008; Widerspruchsbescheid vom 27.5.2008). Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom [X.]). Das [X.] hat diese Entscheidung sowie die angefochtene Ablehnung des Feststellungsanspruchs durch die Beklagte aufgehoben und festgestellt, dass der Unfall vom 28.9.2006 ein Arbeitsunfall ist. Der Kläger habe bei einer gemeinen Gefahr Hilfe geleistet. Die Führungshülse habe unzweifelhaft eine besondere Gefahr für den Straßenverkehr bedeutet. Mit dem erneuten Betreten der Fahrbahn sei die Hilfeleistung zur Beseitigung der durch das Stützrad bedingten Gefahr fortgesetzt worden (Urteil vom 23.2.2011).

4

Mit der vom [X.] zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 2 Abs 1 [X.] Buchst a SGB VII sowie einen Verstoß gegen die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung. Es sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger erneut die Fahrbahn betreten habe, um die Führungshülse aufzuheben. Zudem sei die mit dem Stützrad verbundene Gefahr beseitigt gewesen. Von der Hülse selbst sei keine Gefahr ausgegangen. Sie habe außerhalb des Fahrstreifens gelegen.

5

Die Beklagte beantragt,

        

das Urteil des [X.] vom 23.2.2011 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des [X.] vom [X.] zurückzuweisen.

6

Der Kläger beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

7

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Die Ablehnung der Beklagten in ihrem Bescheid vom 21.2.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.5.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinem Anspruch auf Feststellung eines Versicherungsfalles (Arbeitsunfall, Berufskrankheit) aus § 102 [X.] iVm § 8 Abs 1 [X.]. Er hat am 28.9.2006 einen Arbeitsunfall erlitten.

9

Nach § 8 Abs 1 [X.] sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 [X.] begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Ein Arbeitsunfall setzt danach Folgendes voraus: Eine Verrichtung des Verletzten zur [X.] (genauer: davor) muss den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt haben. Diese Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dieses Unfallereignis muss einen [X.] oder den Tod des Versicherten wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität; vgl BSG vom 4.9.2007 - B 2 U 24/06 R - [X.] 4-2700 § 8 [X.] Rd[X.] mwN).

Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Kläger hat zur [X.] als [X.]der iS von § 2 Abs 1 [X.] Buchst a Alt 2 [X.] eine versicherte Tätigkeit verrichtet. Diese Verrichtung hat seine Kollision mit dem [X.], also das Unfallereignis, und dieses hat sein Schädelhirntrauma sowie seine diffusen Hirnkontusionen und damit seinen [X.] wesentlich verursacht.

Eine Verrichtung ist jedes konkrete Handeln eines Verletzten, das seiner Art nach von [X.] beobachtbar (BSG vom [X.] - B 2 U 14/10 R - [X.] 4-2700 § 8 [X.] Rd[X.]2) und (zumindest auch) auf die Erfüllung des Tatbestandes der jeweiligen versicherten Tätigkeit ausgerichtet (sog objektivierte Handlungstendenz) ist. Mit seinem Handeln zur [X.], dem Überqueren der Fahrbahn, um die [X.] des [X.] zu entfernen, hat der Kläger den Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt. Denn nach § 2 Abs 1 [X.] Buchst a Alt 2 [X.] sind ua Personen kraft Gesetzes versichert, die bei gemeiner Gefahr Hilfe leisten.

Der Tatbestand der versicherten Tätigkeit der Hilfeleistung bei gemeiner Gefahr iS des § 2 Abs 1 [X.] Buchst a Alt 2 [X.] ist nicht auf Hilfeleistungen begrenzt, deren Unterlassen nach § 323c StGB mit Strafe bedroht ist. Er setzt, anders als der Straftatbestand, nicht voraus, dass die erforderliche Hilfeleistung dem Helfenden zuzumuten und insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich war. Gesetzlich unfallversichert ist nicht nur jede vom Handlungszwang des § 323c StGB erfasste Hilfeleistung. Auch eine nach dieser Vorschrift nicht gebotene erforderliche Hilfeleistung ist gemäß § 2 Abs 1 [X.] Buchst a Alt 2 [X.] versichert, falls objektiv eine gemeine Gefahr vorliegt.

Eine gemeine Gefahr besteht, wenn aufgrund der objektiv gegebenen Umstände zu erwarten ist, dass ohne sofortiges Eingreifen eine erhebliche Schädigung von Personen oder bedeutenden Sachwerten eintreten wird (vgl BSG vom 13.9.2005 - B 2 U 6/05 R - [X.] 4-2700 § 2 [X.] RdNr 14). Eine solche Gefahrensituation war für die Straßenverkehrsteilnehmer aufgrund der Lage der [X.] am Rand des [X.] gegeben.

Entgegen der Auffassung der Beklagten scheidet die gemeine Gefahr nicht deshalb aus, weil sich die [X.] nicht auf der Fahrbahn selbst befunden hat. Bei der [X.] handelte es sich um ein ca 30 cm langes massives Metallrohr, das zwar außerhalb des [X.] lag, jedoch bis an den Rand der linken Überholspur ragte. Es entspricht der allgemeinen und gerichtsbekannten Lebenserfahrung, dass Verkehrsteilnehmer auf Überholspuren von Autobahnen häufig ihr Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit aus Unachtsamkeit oder verkehrsbedingt über die Fahrstreifenbegrenzung hinaus auf den Randstreifen zur Mittelleitplanke steuern (müssen), ferner dass ein ca 30 cm langes massives Metallrohr durch Witterungseinflüsse auf die Fahrbahn geraten und daher im Ablauf des Verkehrs zur Seite, hoch- oder nach hinten geschleudert werden kann. Diese Erfahrungssätze hat auch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem BSG nicht infrage gestellt. Da anderen Verkehrsteilnehmern damit eine Verletzung von Leben, Gesundheit oder Eigentum drohte, waren sie in erhöhtem Maße gefährdet. Angesichts der von der [X.] objektiv ausgegangenen gemeinen Gefahr kommt es nicht mehr darauf an, ob der Kläger nach den für ihn erkennbaren Umständen eine solche Gefahr angenommen hat.

Der Kläger hat bei dieser gemeinen Gefahr auch notwendige Hilfe geleistet. Die Entfernung des [X.] war als einzige Möglichkeit der unverzüglichen Gefahrenbeseitigung erforderlich, da sich die Gefahr für unbestimmt viele Motorrad- und Autofahrer sofort und jederzeit verwirklichen konnte.

Das [X.] ist eine Unterstützungshandlung, die darauf ausgerichtet ist, eine gemeine Gefahr zu beseitigen oder aus ihr erwachsende Störungen abzuwenden (vgl BSG vom [X.] - [X.] 4-2700 § 2 [X.] RdNr 17). Solche Hilfe kann nur geleistet werden, solange die gemeine Gefahr andauert (vgl [X.] B 2 U 27/07 R - [X.] 4-2700 § 8 [X.] RdNr 18). Zum Unfallzeitpunkt ging lediglich von der [X.] eine gemeine Gefahr aus. Das Bergen des [X.] und der [X.] sind eigenständig zu bewertende Handlungen, die keinen einheitlichen Lebensvorgang bilden. Die mit dem Stützrad verbundene Gefahr war mit seiner Beseitigung von der Fahrbahn beendet. Mit dem anschließenden Überqueren der Fahrbahn zur Entfernung der [X.] ist die zuvor erbrachte Hilfeleistung des Wegräumens des [X.] nicht fortgesetzt worden. Der Kläger hat sich vielmehr erneut in die allein von der [X.] und ihrer angestrebten Beseitigung ausgehende Gefahr begeben.

Bei dieser Gefahr hat der Kläger schon mit dem erneuten Überqueren der Fahrbahn Hilfe geleistet. Gesetzlich unfallversichert nach § 2 Abs 1 [X.] Buchst a Alt 2 [X.] ist nicht allein der unmittelbare Vorgang der Beseitigung der Gefahr oder des Abwendens von Störungen hieraus. Die versicherte Hilfeleistung erfasst auch den (gefährlichen) Weg in den und aus dem Gefahrenbereich, der zur Gefahrenbeseitigung zurückgelegt wird. Sie beginnt daher mit dem Eintritt und endet mit dem Verlassen dieses Gefahrenbereichs. Der darin zurückgelegte Weg zum und vom Ort der unmittelbaren Gefahr sowie die Hilfeleistung selbst bilden einen einheitlichen Lebensvorgang (vgl BSG vom 12.12.2006 - B 2 U 39/05 R - [X.] 4-2700 § 2 [X.] RdNr 19).

An die Feststellung des [X.], der Kläger habe, als er die Fahrbahn erneut überquerte, sein Handeln darauf ausgerichtet, die [X.] zu entfernen (sog objektivierte Handlungstendenz), ist der Senat gebunden (§ 163 SGG), weil diese Feststellung einer inneren Tatsache (BSG vom [X.] - B 2 U 14/10 R - [X.] 4-2700 § 8 [X.] Rd[X.]3) nicht mit zulässig erhobenen Verfahrensrügen angegriffen worden ist.

Die Rüge der Beklagten, bei ordnungsgemäßer Beweiswürdigung wäre das Berufungsgericht nicht von einer auf Gefahrenabwehr gerichteten Handlungstendenz ausgegangen, ist nicht ordnungsgemäß erhoben. Sie hätte darlegen müssen, dass das [X.] die Grenzen seiner ihm durch § 128 Abs 1 Satz 1 SGG eingeräumten Befugnis verletzt hat, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Es hätte insoweit aufgezeigt werden müssen, dass es gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen oder das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend berücksichtigt hat (BSG vom 31.5.2005 - B 2 U 12/04 R - [X.] 4-5671 Anlage 1 [X.] [X.] Rd[X.]). Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründung nicht gerecht.

Die Beklagte hat nicht behauptet, das [X.] habe einen bestehenden Erfahrungssatz nicht berücksichtigt oder einen tatsächlich nicht existierenden Erfahrungssatz herangezogen (vgl hierzu BSG vom [X.] - B 2 U 24/00 R - [X.] 3-2200 § 581 [X.] mwN). Auch ein sog Denkgesetz, gegen das das [X.] verstoßen haben könnte, ist nicht aufgezeigt worden. Dass es zu einer bestimmten, aus seiner Sicht erheblichen Frage aus den gesamten rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten nur eine Folgerung hätte ziehen können, jede andere nicht folgerichtig "denkbar" ist und das Gericht die allein in Betracht kommende nicht gesehen hat (vgl BSG vom 11.6.2003 - [X.] RJ 52/02 R - Juris Rd[X.] mwN), legt die Revision nicht dar.

Aus ihrem Vortrag geht auch nicht hervor, dass das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht hinreichend berücksichtigt worden wäre. Soweit sie geltend macht, eine beabsichtigte Hilfeleistung sei von den im Ermittlungsverfahren vernommenen Zeugen nicht bestätigt worden, wird übersehen, dass die Bewertung von Zeugenaussagen als Teil der Beweiswürdigung zur Feststellung von Tatsachen des Einzelfalls allein in die Kompetenz des Berufungsgerichts fällt und dem Revisionsgericht grundsätzlich verwehrt ist. Die Beklagte setzt nur ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des [X.]. Allein damit ist aber eine Verletzung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung nicht formgerecht gerügt (BSG vom [X.] - B 4 RS 3/06 R - [X.] 4-8570 § 1 [X.] RdNr 31).

Die Hilfeleistung des [X.] hat das Unfallereignis, die Kollision mit dem [X.], und dieses hat den [X.], ein Schädelhirntrauma sowie diffuse Hirnkontusionen, rechtlich wesentlich verursacht. Weil diese Kausalzusammenhänge offenkundig gegeben sind, konnte sich das [X.] darauf beschränken, die Verrichtung der versicherten Tätigkeit, das von außen auf den Körper einwirkende Ereignis und die Gesundheitsbeeinträchtigung festzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Meta

B 2 U 7/11 R

27.03.2012

Bundessozialgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: U

vorgehend SG Speyer, 29. April 2010, Az: S 8 U 202/08, Urteil

§ 2 Abs 1 Nr 13 Buchst a Alt 2 SGB 7, § 7 Abs 1 SGB 7, § 8 Abs 1 SGB 7, § 102 SGB 7, § 323c StGB

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 27.03.2012, Az. B 2 U 7/11 R (REWIS RS 2012, 7726)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 7726

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