Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.10.2012, Az. 5 C 15/11

5. Senat | REWIS RS 2012, 2189

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Gegenstand

Anspruch eines eingeschulten Kindes auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form des heilpädagogischen Reitens


Leitsatz

Ein Anspruch auf Gewährung heilpädagogischer Leistungen (hier: heilpädagogische Reittherapie) kann Kindern oder Jugendlichen als jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auch dann zustehen, wenn sie eingeschult sind und eine ihrer Behinderung entsprechende Förderschule besuchen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt vom [X.]n als Träger der Jugendhilfe die Übernahme der Kosten für heilpädagogisches Reiten in der [X.] vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2010.

2

Der am 16. Mai 2000 geborene Kläger leidet seit seiner Geburt an klassischem frühkindlichem (Kanner-)Autismus. Seit Mai 2004 nimmt er an einer heilpädagogischen Reittherapie teil. Die Kosten hierfür trug der [X.] zunächst als Träger der Sozialhilfe im Rahmen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe. Nach Vorlage der ärztlichen Bescheinigung des Kinder- und Jugendarztes Dr. med. H. des [X.] vom 16. Oktober 2008, wonach frühkindlicher Autismus eine seelische Behinderung darstellt, gewährte der [X.] rückwirkend ab dem 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2009 das heilpädagogische Reiten als Leistung der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe.

3

Den unter dem 16. November 2009 gestellten Folgeantrag des [X.] für Fördereinheiten der heilpädagogischen Reittherapie ab 1. Januar 2010 lehnte der [X.] mit Bescheid vom 5. Januar 2010 ab. Daraufhin trugen die Eltern des [X.] seit Januar 2010 die Kosten des heilpädagogischen Reitens. Der [X.] begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass es sich bei der Übernahme der Kosten um eine freiwillige Leistung gehandelt habe. Das heilpädagogische Reiten sei eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation, gehöre als solche aber nicht zu den in der [X.] aufgenommenen verordnungsfähigen Heilmitteln. Als freiwillige Leistung werde die Hilfe für eine heilpädagogische Reittherapie generell nach zwei Jahren beendet. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des [X.] wies der Rechtsausschuss des [X.]n unter Bezugnahme auf § 55 Abs. 2 Nr. 2 [X.] - [X.] - zurück. Diese Vorschrift beschränke den Anspruch auf heilpädagogische Leistungen im Rahmen der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe auf Kinder, die noch nicht eingeschult seien. Zu diesem Personenkreis gehöre der Kläger nicht. Er besuche eine Förderschule. Das vom Kläger angerufene Verwaltungsgericht ist dieser Rechtsauffassung gefolgt und hat dessen Klage abgewiesen.

4

Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des [X.] stattgegeben und den [X.]n unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, dem Kläger vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2010 wöchentlich eine Therapieeinheit heilpädagogisches Reiten zu bewilligen. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - [X.] -. Es sei davon auszugehen, dass es sich bei dem klassischen frühkindlichen (Kanner-)Autismus um eine Abweichung der seelischen Gesundheit vom lebensaltertypischen Zustand für mehr als sechs Monate handele. Dem Kläger sei wegen seines frühkindlichen Autismus, der mit einer schweren Kommunikationsstörung und fehlendem Sprechvermögen verbunden sei, der Zugang zur Gesellschaft in erheblichem Umfang versperrt. Das heilpädagogische Reiten sei keine Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation, sondern eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der [X.]. Dass der Kläger in dem in Rede stehenden [X.]raum eingeschult gewesen sei, stehe der Bewilligung dieser Leistung nicht entgegen. Die Vorschriften des § 55 Abs. 2 Nr. 2 und § 56 [X.] seien nicht dahin zu verstehen, dass die Bewilligung von heilpädagogischen Leistungen zur Teilhabe am Leben in der [X.] nur für noch nicht eingeschulte Kinder vorgesehen werde. Nichts lasse darauf schließen, dass der Gesetzgeber angenommen habe, behinderte Kinder, die eine ihrer Behinderung entsprechende Schule besuchten, würden dort in dem erforderlichen Maß auch heilpädagogisch betreut. Das heilpädagogische Reiten sei für den Kläger in dem in Rede stehenden [X.]raum eine geeignete und erforderliche Eingliederungshilfe gewesen.

5

Mit seiner Revision rügt der [X.] eine Verletzung des § 35a Abs. 3 [X.] i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 [X.].

6

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Die entscheidungstragende Annahme des [X.], dass der Anspruch eines eingeschulten Kindes auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form des heilpädagogischen Reitens nicht durch § 35a Abs. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - [X.]. § 54 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes [X.]. § 55 Abs. 2 [X.] [X.] - [X.] - ausgeschlossen werde, steht mit Bundesrecht in Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

8

Der vom Kläger - wie nach Erörterung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt worden ist - der Sache nach von Beginn an geltend gemachte Anspruch auf Übernahme der vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2010 verauslagten Aufwendungen für eine Therapieeinheit heilpädagogischen Reitens pro Woche folgt aus § 36a Abs. 3 Satz 1 [X.].

9

Diese Vorschrift verleiht einen Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für selbst beschaffte Hilfen. Das sind Hilfen, die - wie hier - vom Leistungsberechtigten abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 [X.] selbst beschafft werden, ohne dass eine Entscheidung des Trägers der Jugendhilfe oder eine Zulassung durch diesen vorangegangen ist. Der [X.] setzt nach § 36a Abs. 3 Satz 1 [X.] voraus, dass der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen ([X.]) und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3).

Die Beteiligten gehen, wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erörtert, zu Recht übereinstimmend davon aus, dass der Kläger den Beklagten mit seinem unter dem 16. November 2009 gestellten "Folgeantrag für Fördereinheiten der heilpädagogischen Reittherapie ab 1. Januar 2010" rechtzeitig (vgl. Urteil vom 11. August 2005 - BVerwG 5 [X.] 18.04 - BVerwGE 124, 83 <86 ff.> = [X.] 436.511 § 35a [X.]/[X.] Nr. 4 S. 10 ff.) vor Beginn des Zeitraums, für den die Übernahme der Aufwendungen beantragt wurde, von dem Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat. Des Weiteren steht zwischen den Beteiligten zu Recht nicht im Streit, dass beim Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe der vom Oberverwaltungsgericht zuerkannte Bedarf von einer wöchentlichen Therapieeinheit heilpädagogischen Reitens unaufschie[X.]ar war. Zu entscheiden ist allein darüber, ob dem Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 [X.] i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 [X.] i.V.m. § 55 Abs. 1 [X.] ein Anspruch auf Gewährung heilpädagogischer Leistungen zur Teilhabe am Leben in der [X.] zustand. Das ist der Fall.

1. Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 [X.] haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der [X.] beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist ([X.]).

Im Rahmen der vom Kläger erhobenen Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1, § 113 Abs. 5 VwGO) ist dagegen nicht zu prüfen, ob der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner verfahrensrechtlichen Verpflichtung nach § 35a Abs. 1a [X.] nachgekommen ist und hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 die Stellungnahme eines der dort in Nr. 1 bis 3 abschließend bezeichneten Ärzte oder Psychotherapeuten eingeholt hat. Denn über das Vorliegen des eingeklagten Anspruchs ist angesichts des Streitgegenstandes der Verpflichtungsklage ohne Rücksicht auf etwaige Mängel des Verwaltungsverfahrens zu entscheiden (vgl. Urteil vom 31. Juli 1984 - BVerwG 9 [X.] 156.83 - [X.] 402.25 § 6 AsylVfG Nr. 4 S. 3 <7> m.w.N.).

Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht dahin erkannt, dass die materiellen Anspruchsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 [X.] vorlagen. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

Nach den Feststellungen des [X.] wich die seelische Gesundheit des seit seiner Geburt an klassischem frühkindlichem (Kanner-)Autismus leidenden [X.] länger als sechs Monate von dem lebensaltertypischen Zustand ab. Das Oberverwaltungsgericht hat sich im Rahmen seiner aus § 86 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO folgenden Verpflichtung zur Spruchreifmachung insoweit auf die bei den Akten befindlichen ärztlichen Bescheinigungen des Kinder- und Jugendarztes Dr. med. H. des [X.] vom 16. Oktober 2008 und vom 10. Juni 2011 sowie dessen Schreiben vom 19. November 2010 gestützt und sich die dortigen Feststellungen zu Eigen gemacht. Dies ist, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dieser Arzt nach den tatsächlichen Feststellungen des [X.] nicht zu den in § 35a Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 bis 3 [X.] bezeichneten Ärzten oder Psychotherapeuten gehört, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Verfahrensvorschrift des § 35a Abs. 1a [X.] verpflichtet allein den Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die Stellungnahme eines entsprechenden Arztes oder Psychotherapeuten einzuholen. Des Weiteren hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass dem Kläger aufgrund seines frühkindlichen Autismus mit schwerer Kommunikationsstörung und dem fehlenden Sprechvermögen der Zugang zur [X.] in erheblichem Umfang versperrt ist. Die genannten Feststellungen des [X.] sind mangels zulässiger und begründeter Verfahrensrügen für den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindend.

2. § 35a Abs. 2 [X.] ordnet an, dass die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall in ambulanter Form, in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, durch geeignete Pflegepersonen und in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet wird. Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen richten sich gemäß § 35a Abs. 3 [X.] nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1 sowie den §§ 54, 56 und 57 [X.], soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden.

a) Das heilpädagogische Reiten ist im konkreten Fall der Art nach eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der [X.] (§ 35a Abs. 3 [X.] i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 [X.] i.V.m. § 55 [X.]) und keine Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§ 35a Abs. 3 [X.] i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 [X.] i.V.m. § 26 [X.]). Das Oberverwaltungsgericht ist bei der Abgrenzung dieser beiden Leistungsarten von einem zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen (aa). Diesen Maßstab hat es auch rechtsfehlerfrei angewandt ([X.]).

aa) Leistungen zur Teilhabe am Leben in der [X.], d.h. zur [X.] Rehabilitation, und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind anhand der Bedürfnisse, die mit der Leistung befriedigt werden sollen, voneinander abzugrenzen (vgl. [X.], Urteile vom 19. Mai 2009 - [X.] [X.] 32/07 R - [X.] 4-3500 § 54 [X.] Nr. 5 Rn. 17 und vom 29. September 2009 - [X.] [X.] 19/08 R - [X.] 4-3500 § 54 [X.] Nr. 6 Rn. 21). Entscheidend ist, welches konkrete Ziel mit der fraglichen Leistung in erster Linie verfolgt wird, d.h. welcher Leistungszweck im Vordergrund steht ([X.], Urteile vom 31. März 1998 - [X.] KR 12/96 - [X.] 49, 184 <188> und vom 3. September 2003 - [X.] KR 34/01 R - [X.] 4-2500 § 18 SGB V Nr. 1 Rn. 10). Dies ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der Bedürfnisse und Heilungschancen des einzelnen Behandlungsfalles zu bestimmen, wobei die Art der Erkrankung und ihr Bezug zu den eingesetzten Mitteln sowie die damit verbundenen Nah- und Fernziele eine Rolle spielen (vgl. [X.], Urteil vom 31. März 1998 a.a.[X.]).

Leistungen zur Teilhabe am Leben in der [X.] nach § 55 Abs. 1 [X.] setzen an den [X.] Folgen einer Krankheit bzw. Behinderung an und dienen deren Überwindung (vgl. [X.], Urteil vom 31. März 1998 a.a.[X.]). Sie sollen die Auswirkungen der Krankheit bzw. Behinderung auf die Lebensgestaltung auffangen oder abmildern (vgl. [X.], Urteil vom 3. September 2003 a.a.[X.] Rn. 11). Ihr Ziel ist es einerseits, den Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung in (Teil-)Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind, den Zugang zur [X.] zu ermöglichen, andererseits aber auch den Personen, die in die [X.] integriert sind, die Teilhabe zu sichern, wenn sich abzeichnet, dass sie von gesellschaftlichen Ereignissen und Bezügen abgeschnitten werden. Dem behinderten Menschen soll der Kontakt mit seiner Umwelt, nicht nur mit Familie und Nachbarschaft, sowie die Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben ermöglicht und hierdurch die Begegnung und der Umgang mit nichtbehinderten Menschen gefördert werden (vgl. [X.], Urteil vom 19. Mai 2009 a.a.[X.] Rn. 16 f.). Des Weiteren zielen die Leistungen der Teilhabe am Leben in der [X.] darauf, den behinderten Menschen soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (vgl. § 55 Abs. 1 [X.]).

Leistungen der medizinischen Rehabilitation nach § 26 [X.] knüpfen an der Krankheit selbst und ihren Ursachen an. Sie dienen dazu, Behinderungen, einschließlich chronischer Krankheiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten (Abs. 1 Nr. 1) oder Einschränkungen der Erwerbstätigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern, eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern (Abs. 1 [X.]). Für die Einordnung als medizinische Behandlung ist nicht entscheidend, ob die gestellten Ziele objektiv erreichbar sind (vgl. [X.], Urteil vom 3. September 2003 a.a.[X.]).

[X.]) Das Oberverwaltungsgericht hat in Anwendung dieser rechtlichen Maßstäbe auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zu Recht eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der [X.] bejaht. Das heilpädagogische Reiten knüpft nach den für den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Feststellungen des [X.] im konkreten Fall an die [X.] Folgen des frühkindlichen Autismus (z.B. Abkapselung und Beziehungsarmut) an. Es soll dem Kläger vorrangig den Zugang zur [X.], der ihm wegen seines Autismus mit schwerer Kommunikationsstörung und fehlendem Sprechvermögen in erheblichem Umfang versperrt ist, ermöglichen bzw. - soweit vorhanden - sichern. Ziel des heilpädagogischen Reitens ist es, den Kläger über den Kontakt zum Pferd und die nonverbale Kommunikation mit diesem emotional zu befähigen, sich zunehmend auch auf andere Personen, etwa die Heilpädagogin, Kinder auf dem Reiterhof oder seine Klassenkameraden einzulassen und mit ihnen zu kommunizieren.

b) Der Anspruch auf Gewährung des heilpädagogischen Reitens als Leistung zur Teilhabe am Leben in der [X.] ist nicht deshalb gemäß § 35a Abs. 3 [X.] i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 [X.] i.V.m. § 55 Abs. 2 [X.] [X.] ausgeschlossen, weil der Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum eingeschult war und eine seiner Behinderung entsprechende Förderschule besuchte.

Nach § 55 Abs. 2 [X.] [X.] sind Leistungen zur Teilhabe am Leben in der [X.] nach § 55 Abs. 1 [X.] insbesondere heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind. Die Vorschrift ist entgegen der Ansicht des Beklagten nicht dahin zu verstehen, dass sie die Gewährung heilpädagogischer Leistungen als jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der [X.] für eingeschulte Kinder oder Jugendliche ausschließt. Die grammatikalische Auslegung zwingt nicht zu einem derartigen Normverständnis. Die Anwendung der anderen [X.] weist eindeutig in die entgegengesetzte Richtung.

(aa) Dem Wortlaut des § 55 Abs. 2 [X.] kann nicht ausschließlich oder zumindest hinreichend deutlich entnommen werden, dass es sich bei dem in [X.] genannten Leistungstatbestand um einen in der Weise speziellen Tatbestand handelt, dass er den Rückgriff auf die allgemeine Regelung des § 55 Abs. 1 [X.] versperrt.

Aus der Verwendung des Wortes "insbesondere" ergibt sich, dass § 55 Abs. 2 [X.] von einem beispielhaften, offenen Leistungskatalog ausgeht (vgl. Urteil vom 22. Oktober 2009 - BVerwG 5 [X.] 19.08 - BVerwGE 135, 159 = [X.] 436.511 § 10 [X.]/[X.] Nr. 4 jeweils Rn. 14). Die Stellung des Wortes "insbesondere" ist auch für eine Auslegung dahin offen, dass es sich auf die in Absatz 2 ausdrücklich genannten Maßnahmen in ihrer Gesamtheit bezieht mit der Folge, dass sich die [X.] nicht nur auf die in [X.] genannten heilpädagogischen Leistungen, sondern auch auf den dort bezeichneten Personenkreis ("Kinder, die noch nicht eingeschult sind") erstreckt.

([X.]) Für eine Auslegung, dass der Anspruch eingeschulter Kinder oder Jugendlicher auf Gewährung heilpädagogischer Leistungen als jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der [X.] dem Anwendungsbereich des § 55 Abs. 1 [X.] unterfällt, spricht vor allem die Gesetzessystematik, die zugleich die Zielsetzung der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe widerspiegelt.

Nach der gesetzgeberischen Konzeption ist das Leistungssystem der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe auf Offenheit und Lückenlosigkeit angelegt, da anders eine wirksame Erfüllung der in § 35a Abs. 3 [X.] i.V.m. § 53 Abs. 3 Satz 1 und 2 [X.] normierten Aufgabe der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe nicht möglich und sicherzustellen wäre. Diese Aufgabe besteht darin, eine drohende seelische Behinderung von Kindern oder Jugendlichen zu verhüten oder ihre seelische Behinderung und deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die betroffenen Kinder oder Jugendlichen in die [X.] einzugliedern, wozu insbesondere gehört, ihnen die Teilnahme am Leben in der [X.] zu ermöglichen oder zu erleichtern. Aus dem sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsgrundsatz, der im Bereich der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe in § 35a Abs. 2 [X.] (vgl. "Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall ... geleistet") verankert ist, folgt, dass grundsätzlich der gesamte im konkreten Einzelfall anzuerkennende Hilfebedarf seelisch behinderter oder von einer solchen Behinderung bedrohter Kinder oder Jugendlicher abzudecken ist (vgl. Urteil vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 [X.] 6.11 - [X.] 436.511 § 10 [X.]/[X.] Nr. 6 Rn. 12 m.w.N.). Das erfordert, dass sich der Träger der öffentlichen Jugendhilfe bzw. im Fall der selbstbeschafften Hilfe der Leistungsberechtigte der Art und Form nach aller Leistungen und Hilfen bedienen kann, die zur Deckung des konkreten und individuellen eingliederungsrechtlichen Bedarfs geeignet und erforderlich sind.

Die Offenheit des Leistungssystems hat in der Normstruktur des § 55 [X.] insoweit ihren Niederschlag gefunden, als die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der [X.] in Absatz 1 generalklauselartig umschrieben und in Absatz 2 anhand eines nicht abschließenden Beispielskatalogs konkretisiert werden. Die systematische Gesamtschau mit den weiteren von § 35a Abs. 3 [X.] in Bezug genommenen [X.] unterstützt diesen Befund. Diese enthalten ebenfalls in der Regel - wie sich aus der jeweiligen Verwendung des Wortes "insbesondere" ergibt - beispielhafte Aufzählungen (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1 [X.], § 26 Abs. 2 und 3 [X.], § 33 Abs. 3 und 6 [X.]). Als weiterer in dieselbe Richtung weisender systematischer Aspekt tritt hinzu, dass § 54 Abs. 1 Satz 1 [X.] - wie das Wort "neben" belegt - die verschiedenen Leistungsarten der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe selbständig nebeneinander stellt.

Aus dem Nebeneinander der Leistungsarten wird zugleich deutlich, dass der eingliederungsrechtliche Bedarf an heilpädagogischen Leistungen für den Zeitraum der Beschulung in § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung, auf den auch für seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Kinder oder Jugendliche zurückzugreifen ist (vgl. Urteil vom 18. Oktober 2012 - BVerwG 5 [X.] 21.11 - zur Veröffentlichung vorgesehen), nicht abschließend und erschöpfend geregelt ist. Nach ihrer tatbestandlichen Ausgestaltung deckt diese Vorschrift nur den eingliederungsrechtlichen Bedarf ab, der durch den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bedingt ist. Danach sind heilpädagogische Maßnahmen zu gewähren, wenn diese erforderlich und geeignet sind, seelisch behinderten oder von einer solchen Behinderung bedrohten Kindern oder Jugendlichen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Mangels seines abschließenden [X.]harakters bietet § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung keine tragfähige Grundlage für die Annahme, dass bei eingeschulten Kindern oder Jugendlichen ein Anspruch auf Eingliederungshilfe im Interesse der [X.] Integration nicht aus § 55 Abs. 1 [X.] hergeleitet werden kann. Ein anderes Verständnis liefe auch der auf Offenheit und Lückenlosigkeit gerichteten Zielsetzung der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe zuwider. Besteht zugunsten eines eingeschulten Kindes oder Jugendlichen im Einzelfall ein eingliederungsrechtlicher Bedarf an heilpädagogischen Leistungen und dient die gebotene Leistung nicht einer angemessenen Schulbildung, könnte dieser Bedarf ansonsten weder auf der Grundlage des § 55 Abs. 1 [X.], noch unter Heranziehung des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] oder anderer Bestimmungen befriedigt werden. Dies stände mit der aufgezeigten Konzeption des [X.] nicht im Einklang.

([X.]) Die Entstehungsgeschichte bekräftigt dieses Auslegungsergebnis. Die Vorschriften des § 55 Abs. 2 [X.] und § 56 [X.] sollen nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Regelungen des § 40 Abs. 1 [X.]a [X.] - [X.] - i.V.m. § 11 Eingliederungshilfe-Verordnung zeitgerecht fortentwickeln, ohne deren Regelungsgehalt im [X.] zu ändern (vgl. BTDrucks 14/5074 [X.], 14/5531 S. 9 und 14/5800 S. 29). Während § 39 Abs. 1 [X.] - ähnlich § 55 Abs. 1 [X.] - einen generalklauselartigen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe regelte, nannte § 40 Abs. 1 [X.] die im Rahmen der Eingliederungshilfe besonders bedeutsamen Maßnahmen. Demzufolge wollte der Gesetzgeber bereits mit der Einführung des § 40 Abs. 1 [X.]a [X.] durch das 3. [X.]-Änderungsgesetz vom 25. März 1974 ([X.]), mit der die "heilpädagogischen Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind", erstmals einer ausdrücklichen formellgesetzlichen Regelung zugeführt wurden, lediglich die Bedeutung dieser Maßnahmen für die Effektivität der Eingliederungshilfe für Kinder, die von Geburt oder der frühen Kindheit an behindert sind, besonders hervorheben. Zu diesem Zweck löste er in § 40 Abs. 1 [X.]a [X.] die "heilpädagogischen Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind", von der Ausrichtung auf den Schulbesuch und stellte diesen Leistungstatbestand selbständig neben den Leistungstatbestand des § 40 Abs. 1 Nr. 3 [X.], der eine derartige Ausrichtung enthielt. § 11 Eingliederungshilfe-Verordnung bestimmte, dass heilpädagogische Maßnahmen im Sinne des § 40 Abs. 1 [X.]a [X.] auch gewährt werden, wenn die Behinderung eine spätere Schulbildung oder eine Ausbildung für einen angemessenen Beruf oder für eine sonstige angemessene Tätigkeit voraussichtlich nicht zulassen wird. Damit wurde klargestellt, dass die heilpädagogischen Möglichkeiten auch in schweren Behinderungsfällen ausgeschöpft werden sollen, wenn durch sie nur ganz allgemein die Möglichkeiten zur Teilnahme am Leben in der [X.] verbessert werden können oder die Pflegebedürftigkeit um einiges gemildert werden kann (vgl. BTDrucks 7/308 S. 14 und [X.] 743/74 S. 4 f. sowie Urteil vom 30. Mai 2002 - BVerwG 5 [X.] 36.01 - [X.] 436.01 § 12 [X.] Nr. 1 S. 3 f.). Es fehlt an jedem Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber § 40 Abs. 1 [X.]a [X.] i.V.m. § 11 Eingliederungshilfe-Verordnung als eine den Rückgriff auf die allgemeine Regelung des § 39 Abs. 1 [X.] sperrende Ausschlussregelung verstanden wissen wollte. Ebenso wenig ist den Gesetzesmaterialien ein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die heilpädagogischen Leistungen im Zeitraum der Beschulung in § 40 Abs. 1 Nr. 3 [X.] i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung einer abschließenden und erschöpfenden Regelung zuführen wollte.

Meta

5 C 15/11

18.10.2012

Bundesverwaltungsgericht 5. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 15. Juni 2011, Az: 7 A 10420/11, Urteil

§ 36a Abs 3 S 1 SGB 8, § 35a Abs 1 S 1 SGB 8, § 35a Abs 3 SGB 8, § 35a Abs 1a S 1 SGB 8, § 54 Abs 1 S 1 SGB 12, § 55 Abs 1 SGB 9, § 55 Abs 2 Nr 2 SGB 9, § 56 SGB 9, § 40 Abs 1 Nr 2a BSHG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.10.2012, Az. 5 C 15/11 (REWIS RS 2012, 2189)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 2189

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B 8 SO 12/17 R

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