Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.05.2021, Az. XII ZB 587/20

12. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 5937

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Gegenstand

Unterbringungssache: Wesentlicher Verfahrensmangel bei nicht rechtzeitiger Überlassung des Sachverständigengutachtens vor dem Anhörungstermin; Bestellung zum Sachverständigen vor der Untersuchung des Betroffenen


Leitsatz

1. Wenn in einem Unterbringungsverfahren dem Betroffenen das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden ist, leidet die Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 146/20, FamRZ 2021, 145).

2. Der Gutachter in einer Unterbringungssache muss schon vor der Untersuchung des Betroffenen zum Sachverständigen bestellt worden sein (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 16. September 2015 - XII ZB 250/15, FamRZ 2015, 2156).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des [X.] vom 2. Dezember 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Gründe

I.

1

Die 77jährige Betroffene leidet nach den getroffenen Feststellungen an einer mittelschweren bis schweren und weiter fortschreitenden Demenz, wegen derer ihre kognitiven und alltagspraktischen Fähigkeiten schwer gestört sind. Nachdem sie mehrfach den eingeschalteten Herd vergessen und infolge dessen der Rauchmelder ausgelöst hatte, sowie um zu verhindern, dass sie sich in gefährliche Situationen im Straßenverkehr begibt, hat das Amtsgericht am 30. September 2020 ihre Unterbringung bis zum 29. September 2021 genehmigt.

2

Das [X.] hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen; hiergegen richtet sich ihre Rechtsbeschwerde.

II.

3

Die angefochtene Entscheidung ist in mehrfacher Hinsicht verfahrensfehlerhaft ergangen und hält deshalb einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

4

1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das [X.] unter Verstoß gegen §§ 319 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über ihre Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss entschieden hat.

5

a) Gemäß § 319 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar eröffnet § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Unterbringungsverfahren die Möglichkeit, von der Durchführung der persönlichen Anhörung abzusehen. Ein solches Vorgehen setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist ([X.]sbeschluss vom 13. Mai 2020 - [X.] 541/19 - FamRZ 2020, 1305 Rn. 10, 12 mwN).

6

b) Danach durfte das [X.] nicht ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über deren Beschwerde entscheiden. Denn das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren war fehlerhaft, weil es die Betroffene angehört hat, ohne ihr zuvor das Gutachten, auf das sich die Entscheidung stützt, in ausreichender Weise bekanntzugeben, und das Absehen von einer erneuten Anhörung auch nicht ausreichend begründet hat.

7

aa) Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Entscheidungsgrundlage erfordert nach § 37 Abs. 2 FamFG, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Das setzt nach der ständigen Rechtsprechung des [X.]s voraus, dass der Betroffene vor der Entscheidung nicht nur im Besitz des schriftlichen Sachverständigengutachtens ist, sondern auch ausreichend Zeit hatte, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Wenn dem Betroffenen das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden ist, leidet die Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel ([X.]sbeschluss vom 14. Oktober 2020 - [X.] 146/20 - FamRZ 2021, 145 Rn. 10 mwN).

8

Durch eine Bekanntgabe an einen Verfahrenspfleger kann allenfalls dann ein notwendiges Mindestmaß rechtlichen Gehörs sichergestellt werden, wenn das Betreuungsgericht von der vollständigen schriftlichen Bekanntgabe eines Gutachtens an den Betroffenen entsprechend § 325 Abs. 1 FamFG (vgl. auch § 288 Abs. 1 FamFG) absieht, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, und die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht ([X.]sbeschluss vom 16. Mai 2018 - [X.] 542/17 - FamRZ 2018, 1196 Rn. 9 mwN).

9

Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht. Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, lässt sich den Akten nicht entnehmen, dass der Betroffenen das der Entscheidung zugrunde gelegte Kurzgutachten vor ihrer Anhörung zur Verfügung gestellt wurde. Somit hatte sie keine Möglichkeit, im Anhörungstermin zu dem Kurzgutachten Stellung zu nehmen. Auch ergeben sich weder Hinweise darauf, dass die Bekanntgabe des Gutachtens die Gesundheit der Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, noch ist dem Verfahrenspfleger aufgetragen worden, mit der Betroffenen über das Gutachten zu sprechen.

bb) Unabhängig davon ist das Absehen von der persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren auch deshalb verfahrensfehlerhaft, weil es nicht ausreichend begründet worden ist. Macht das Beschwerdegericht von der Möglichkeit des § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG Gebrauch, muss es in seiner Entscheidung die Gründe hierfür in nachprüfbarer Weise darlegen ([X.]sbeschluss vom 15. Februar 2017 - [X.] 462/16 - FamRZ 2017, 755 Rn. 17 mwN).

Das [X.] hat ausgeführt, dass „angesichts der fehlenden Einsichtsfähigkeit der Betroffenen“ von einer erneuten Anhörung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten seien. Da die Anhörung jedoch gerade auch der Vergewisserung über die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und seiner Fähigkeit zur freien Willensbildung dient, hat das [X.] die fehlende Notwendigkeit der Anhörung mit einer unzulässigen Vorwegnahme ihres Ergebnisses begründet.

2. Ferner rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das [X.] seine Entscheidung auf ein durch den Betreuer veranlasstes, vom sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamts erstattetes „Kurzgutachten“ gestützt hat, ohne dass dessen Erstellung in einem förmlichen Beweisverfahren durch das Gericht angeordnet und die Person des Gutachters durch das Gericht bestimmt wurde.

§ 321 Abs. 1 FamFG ordnet im Hinblick auf die mit der Unterbringung einhergehenden erheblichen Eingriffe in die Freiheitsrechte des Betroffenen zwingend die Einholung eines Sachverständigengutachtens im Wege förmlicher Beweisaufnahme an. Dadurch soll eine sorgfältige Sachverhaltsaufklärung zur Feststellung der medizinischen Voraussetzungen einer Unterbringung sichergestellt werden ([X.]sbeschluss vom 16. September 2015 - [X.] 250/15 - FamRZ 2015, 2156 Rn. 11 mwN).

Gemäß § 321 Abs. 1 Satz 2 FamFG hat der Sachverständige den Betroffenen vor Erstattung des Gutachtens persönlich zu untersuchen oder zu befragen, wobei er vor der Untersuchung bereits zum Sachverständigen bestellt sein und dem Betroffenen den Zweck der Untersuchung eröffnet haben muss, damit dieser sein Recht, an der Beweisaufnahme teilzunehmen, sinnvoll ausüben kann ([X.]sbeschluss vom 16. September 2015 - [X.] 250/15 - FamRZ 2015, 2156 Rn. 12 mwN).

Dem wird das verwertete Kurzgutachten des sozialpsychiatrischen Dienstes nicht gerecht. Weder war dieses durch eine Beweisanordnung des Gerichts veranlasst worden noch hatte die Betroffene sonst Gelegenheit, ihre Rechte im Rahmen einer förmlichen Beweisaufnahme ordnungsgemäß wahrzunehmen.

3. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Der [X.] kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.

Dose     

        

Schilling     

        

[X.]

        

Botur      

        

Guhling      

        

Meta

XII ZB 587/20

12.05.2021

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Dortmund, 2. Dezember 2020, Az: 9 T 559/20

§ 37 Abs 2 FamFG, § 68 Abs 3 S 1 FamFG, § 319 Abs 1 FamFG, § 321 Abs 1 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.05.2021, Az. XII ZB 587/20 (REWIS RS 2021, 5937)

Papier­fundstellen: MDR 2021, 1084 REWIS RS 2021, 5937


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. XII ZB 587/20

Bundesgerichtshof, XII ZB 587/20, 12.05.2021.


Az. 9 T 559/20

Landgericht Dortmund, 9 T 559/20, 02.12.2020.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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