Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 23.10.2002, Az. 1 StR 274/02

1. Strafsenat | REWIS RS 2002, 1078

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[X.] DES VOLKESURTEIL1 StR 274/02vom23. Oktober 2002in der Strafsachegegenwegen sexuellen Mißbrauchs von [X.] u.a.- 2 -Der 1. Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 23. [X.], an der teilgenommen haben:[X.] am [X.]. [X.] [X.] am [X.],Dr. [X.],[X.],[X.],Staatsanwalt ,[X.]als Vertreter der [X.],Rechtsanwalt als Verteidiger,Rechtsanwältin als Vertreterin der Nebenklägerin,Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,für Recht erkannt:- 3 -Auf die Revisionen des Angeklagten und der [X.] das Urteil des [X.] vom 14. [X.] mit den Feststellungen aufgehoben.Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auchüber die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Jugend-schutzkammer zuständige [X.] des [X.] zurückverwiesen.Von Rechts wegenGründe:Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von[X.] in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Jugendlichen zueiner Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren [X.] es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen richten sich die [X.] des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft, die zu Ungunsten [X.] auch eine Verurteilung wegen Vergewaltigung erstrebt. [X.] haben Erfolg. Die Beweiswürdigung des [X.]s leidet unterdurchgreifenden rechtlichen Mängeln. Auf der Grundlage der getroffenen Fest-stellungen kann überdies die Verneinung einer Vergewaltigung keinen Bestandhaben.- 4 -- 5 - I.Nach den vom [X.] getroffenen Feststellungen hatte der Ange-klagte einen Haustechnikbetrieb inne. In einer Ferienwoche der Pfingstschulfe-rien leistete die am 2. November 1985 geborene [X.], die zur [X.] Jahre und 7 ½ Monate alt war, bei dem Angeklagten, der mit ihrerFamilie bekannt war, eine sogenannte Schnupperlehre ab. Am Nachmittag desersten Tages des von Montag bis Freitag dauernden Betriebspraktikums bog [X.]" vom Typ [X.], mit dem er mit dem [X.] war, in einen Waldweg ab. Dort setzte er M. [X.] schließlichim Bereich der Schiebetüre des Fahrzeuges auf den Wagenboden, zog ihr diekurze [X.]se aus und vollzog den Geschlechtsverkehr. Das Mädchen sagte, daßihm das weh tue und daß er aufhören solle. Der Angeklagte hielt ihre Arme mitbeiden Händen oberhalb ihres Kopfes fest. Als sie ansetzte zu rufen, hielt er ihrden Mund zu. Auf ihre Bitte aufzuhören reagierte der Angeklagte nicht. [X.]arbeitete sodann in der [X.] weiter bei dem Angeklagten.Sie fuhr auch mit ihm an einen See zum [X.], wobei das [X.] letztlichoffen läßt, ob dies nach der Tat oder aber am [X.] selbst der Fall war. [X.] gegen den Angeklagten wurde erstattet, nachdem das Mädchensich etwa ein Jahr später mit ihrem Freund über "besondere geschlechtlicheErlebnisse" unterhalten und dabei auch von der Tat berichtet hatte.Der nicht vorbestrafte Angeklagte hat die Tat bestritten. Das [X.]folgt der Aussage der Zeugin [X.]. Eine Vergewaltigung hat es ver-neint, weil es jedenfalls an einer Verknüpfung von Gewalt und "[X.]" fehle.Der Geschlechtsverkehr habe bereits stattgefunden, als der Angeklagte dieArme des Mädchens festgehalten und ihm den Mund zugehalten habe, wasdamit lediglich "die Aufrechterhaltung" des Geschlechtsverkehrs ermöglicht- 6 -habe. Zudem fehle es am Vorsatz des Angeklagten. Angesichts des [X.]habe der Angeklagte davon ausgehen müssen,daß das Mädchen sich in sein Schicksal füge und den Geschlechtsverkehr"zwar widerwillig, aber doch freiwillig" durchführe ([X.]). Seine Äußerung,es "tue ihr weh und er solle aufhören", habe er auch dahin verstehen können,daß ihr der Verkehr "lediglich körperlich unangenehm" sei ([X.]). II.Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten sind be-gründet.1. Die Beweiswürdigung des [X.]s zur Täterschaft des [X.] Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand; sie ist [X.] nicht tragfähig. Die tatsächliche Würdigung genügt zudem nicht den An-forderungen, die an die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage einesHauptbelastungszeugen zu stellen sind, wenn - wie vorliegend - im wesentli-chen Aussage gegen Aussage steht, objektive Beweisanzeichen fehlen und [X.] im Blick auf ihre Aufklärungspflicht die Zuziehung eines aussage-psychologischen Sachverständigen für geboten erachtet hat (vgl. dazu auchBGHSt 45, 164, 182).a) Zieht der Tatrichter einen aussagepsychologischen Sachverständigenhinzu, so bedarf es in den Urteilsgründen regelmäßig nicht einer ins einzelnegehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der [X.]. Es reicht aus, daß die diesbezüglichen Ausführungen die wesentli-chen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weiseenthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung [X.] -Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind (BGHSt 45,164, 182).Um die revisionsrechtliche Nachprüfung in diesem Sinne zu ermögli-chen, wäre es hier geboten gewesen, näher auf die Aussageentstehung einzu-gehen sowie darzulegen und zu erörtern, welche Möglichkeiten als Erklärungfür eine - unterstellt - unwahre Aussage der Zeugin M. [X.]in Betrachtkommen konnten (sog. Unwahrhypothese; dazu BGHSt 45, 164, 167/168). [X.] vernommene Sachverständige bei ihrer Prüfung auf die Weise vorgegan-gen ist, daß sie sog. Hypothesen gebildet und sie mit den sonst erhobenenFakten abgeglichen hat (BGHSt 45, 164, 168), ist den Urteilsgründen nicht zuentnehmen. Die [X.] allerdings hätte unter Berücksichtigung [X.] der Aussagebewertung und der Sachleitungsbefugnis gegenüberder Sachverständigen die sich aufdrängende Möglichkeit bedenken und würdi-gen müssen, daß die Beschuldigung des Angeklagten durch die Zeugin [X.] in einem Gespräch der Zeugin mit ihrem jugendlichen Freund über "be-sondere geschlechtliche Erlebnisse" erhoben wurde, wobei sich zunächst [X.] "offenbart" hatte ([X.]. Vor diesem Entstehungshintergrund war dieMöglichkeit einer erfundenen Geschichte aus Gründen, die auch im Verhältnisder Zeugin zu ihrem Freund liegen konnten, als naheliegende Hypothese [X.] anzusprechen und zu würdigen. Die [X.] teilt indes bei Wieder-gabe des Sachverständigengutachtens nach anderen, eher allgemein gehalte-nen Ausführungen lediglich mit, "die [X.]" könnten verworfenwerden ([X.]. Welche konkreten Hypothesen gemeint sind, ist dem Urteilnicht zu entnehmen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung hierzu fehlt.Die Beweiswürdigung krankt zudem daran, daß Entstehung und Ent-wicklung der Aussage der Zeugin, auf die es hier ersichtlich mit ankommt, in- 8 -einem wesentlichen Teil nicht mitgeteilt und erörtert werden. Es ist nicht er-kennbar, wie es nach der Schilderung der Zeugin gegenüber ihrem Freund [X.] kam. Das wäre als Grundlage einer auch insoweit erschöp-fenden Aussagebewertung und Beweiswürdigung aber erforderlich gewesen.b) Zu Recht weist der [X.] auf weitere Mängel der Be-weiswürdigung hin, die diese als lückenhaft erscheinen lassen: So hatte [X.] früher ausgesagt, sie habe sich auf Aufforderung des Angeklagten vordem Geschlechtsverkehr selbst ausgezogen ([X.]), in der [X.] bekundet, der Angeklagte habe ihr die [X.]se ausgezogen ([X.] 5).Die [X.] meint, es handele sich dabei um ein untergeordnetes Detail,dem keine eigenständige Bedeutung zukomme ([X.]). Das trifft [X.] zu. Ob sich das Tatopfer einer Sexualstraftat auf Aufforderung des [X.] entkleidet oder ob es ausgezogen wird, ist erfahrungsgemäß in aller [X.] eine nachhaltig im Gedächtnis haftende Einzelheit der Tatbegehung. [X.] hierzu unterschiedliche Angaben gemacht, bedürfen diese der Erklärungund einer nachvollziehbaren Einordnung in das [X.]. Das [X.] dadurch ersetzt werden, daß die abweichenden Angaben mit einer sach-lich nicht ausdruckskräftigen und im Zusammenhang auch nicht zutreffendenallgemeinen Wendung in ihrer Bedeutung herabgespielt werden. Damit bleibtder Tatrichter die systematische und sachliche Einordnung des Aussagever-haltens in diesem nicht unwesentlichen Punkte schuldig.Dem Urteil fehlt darüber hinaus eine inhaltliche Bewertung der Aussageder Zeugin, der Angeklagte habe den Geschlechtsverkehr mit ihr nicht am [X.] vollzogen, am dem sie gemeinsam mit ihm im [X.]. See gebadethabe ([X.] 10). Vor dem Hintergrund der Einlassung des Angeklagten, er ha-be am ersten Tag des Betriebspraktikums mit der Zeugin im See gebadet und- 9 -diese danach nach [X.] gefahren, hält die [X.] es für möglich, daßdas [X.] im See und - wie der Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt - [X.] am selben Tag stattfanden. Dem Angeklagten sei auf demHeimweg vom See noch genügend Zeit für die Tat verblieben. Die [X.], die [X.] der Zeugin habe zeitlich rekonstruiert [X.]; der "datumsmäßigen Einordnung" der Tat einerseits und des [X.]sim See andererseits durch die Zeugin dürfe deshalb kein entscheidendes Ge-wicht beigelegt werden ([X.] 10). Damit verstellt sich die Kammer den Blickdarauf, daß es hier vorrangig nicht um die Frage des Datums beider Ereignisseging, sondern darum, ob sich beides am selben Tag zugetragen hat. Da [X.] das für möglich hält, hätte sie den damit in einem wesentlichenPunkt gegebenen möglichen Widerspruch zur Aussage der Zeugin [X.] sachlich behandeln müssen. Er konnte auf [X.] oder [X.] zurückgehen, ebenso aber auch ein [X.]. Dabei war der Zusammenhang mit der Einlassung des Angeklagten zubedenken, die das [X.] insofern - hinsichtlich des angegebenen Tagesdes Besuchs am See - durchaus auch für widerlegt hätte erachten können. [X.] es jedoch nicht getan, sondern die Darstellung des Angeklagten dazu ([X.] am Tattag, dem Montag) für möglich gehalten. Dann aber [X.] Frage in der bezeichneten Weise bei der inhaltlichen Bewertung [X.] der Zeugin berücksichtigt werden, zumal die Einlassung des Ange-klagten zum Ablauf dieses Tages von vier Zeugen in nicht näher dargelegtenPunkten bestätigt worden war ([X.] 10).Nach allem erweist sich die Beweiswürdigung des [X.]s in dervorliegenden Form als nicht tragfähig. Schon dies führt zur Aufhebung des [X.] in vollem Umfang zu Gunsten des Angeklagten.- 10 -2. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen ist allerdings auchdie Annahme der [X.] rechtlich nicht haltbar, der Angeklagte [X.] Vergewaltigung begangen (§ 177 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1, 3 StGB).Die Kammer geht daran vorbei, daß auch eine erst im Verlaufe des Ge-schlechtsverkehrs einsetzende Gewaltanwendung, mit der die Fortsetzung [X.] gegen nun erst beginnenden Widerstand des Opfers er-zwungen wird, für die tatbestandliche Verknüpfung zwischen [X.] genügt ([X.] 1970, 57).Die Würdigung des [X.]s zur subjektiven Tatseite, der Ange-klagte habe davon ausgehen "müssen", der Zeugin sei der Geschlechtsverkehrunangenehm, sie habe sich aber letztlich "freiwillig" in ihr Schicksal gefügt, [X.] den Feststellungen nicht getragen. Diese belegen ohne weiteres [X.] durch den Angeklagten und nach den Umständen auch noch [X.] den entgegenstehenden Willen der Zeugin (es tue ihr weh, er solleaufhören; Festhalten der Arme, Zuhalten des [X.], um ein Schreien zu ver-hindern) und damit den wenigstens bedingten Vorsatz des Angeklagten.Ebensowenig kann der Auffassung des [X.]s gefolgt werden, [X.] habe sich nicht in einer schutzlosen Lage befunden, "weil sie nicht [X.] wehrlos" gewesen sei (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB, [X.]). Eine solcheLage besteht für das Opfer regelmäßig dann, wenn es sich dem Täter alleingegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann, wobei es [X.] gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeit nicht bedarf(BGHSt 44, 238, 232; vgl. weiter BGHSt 45, 253, 257 ff.). Das [X.]hätte im Blick darauf nähere Feststellungen zur Tatörtlichkeit treffen müssen,um auf dieser Grundlage die Frage der Schutzlosigkeit und einer etwaigenAusnutzung durch den Angeklagten zu prüfen. Anlaß dazu bestand, weil der- 11 -Angeklagte von einer Kreisstraße abgebogen und ca. 70 Meter weit in einenWald hineingefahren war. Daß die Zeugin M. [X.], die von kleiner undäußerst zierlicher Statur war ([X.] 6), sich möglicherweise stärker als ge-schehen hätte wehren können, steht der Annahme ihrer Schutzlosigkeit nichtentgegen.Das Urteil unterliegt danach auch auf die zu Ungunsten des Angeklag-ten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft der Aufhebung. Auf die weite-ren Beanstandungen des angefochtenen Urteils kommt es deshalb nicht [X.] Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache anein anderes [X.] zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO).Der neue Tatrichter wird zu erwägen haben, ob er mit einer etwaigen erneutenaussagepsychologischen Begutachtung der Zeugin M. [X.] einen ande-ren Sachverständigen beauftragt.[X.] [X.] [X.] [X.]

Meta

1 StR 274/02

23.10.2002

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 23.10.2002, Az. 1 StR 274/02 (REWIS RS 2002, 1078)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2002, 1078

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